Chaosköniginnen. Valentina Brüning
schüttelt entsetzt den Kopf. »Nein! Überhaupt nicht, ich …«
»Dann sprechen Sie meinen Namen bitte richtig aus, ich heiße MollenHAUER nicht -kauer. Verstanden?«
Fritzi nickt beschämt. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Mollenhauer. Ich wollte nur wissen, warum ich schon Latein können muss, wenn wir doch heute die erste Stunde Unterricht haben?«
»Selber denken macht schlau, Fräulein Winter!«
»Ich denke selbst!« So langsam regt sie dieser Blödmann von Lehrer ganz schön auf.
»Entweder Sie mäßigen ihren Ton oder Sie können die Stunde draußen im Flur absitzen.«
»Sie schmeißen mich raus? In der ersten Stunde?! Was hab ich denn gemacht?« Fritzi schäumt über vor Wut. Wenn es eines gibt, was sie nicht ertragen kann, ist es Ungerechtigkeit.
»In diesem Ton reden meine Schüler nicht mit mir. Solche Respektlosigkeiten gibt es bei mir nicht. Verlassen Sie meinen Unterricht, Fräulein Winter, und zwar sofort!«
Ein Raunen geht durch den Raum. Fritzi sieht ihren neuen Klassenlehrer forschend an. Das kann er nicht ernst meinen, sie hat doch gar nichts gemacht! Aber Herr Mollenhauers Gesicht ist wie versteinert.
»Da ist die Tür!«, setzt er nach.
Fritzi stopft ihr Federmäppchen in den Rucksack, zieht das Longboard unter dem Tisch hervor und stürmt aus dem Zimmer. Die Tür fällt mit einem dumpfen Knall hinter ihr ins Schloss.
ABSERVIERT
So schnell sie ihre Füße tragen, hastet Fritzi das Treppenhaus hinunter und auf den Hof. Endlich draußen schnappt sie nach Luft. In dieser Klasse bleibt sie keinen Tag länger! Keine Schulstunde länger! Vor lauter Empörung quellen heiße Tränen aus ihren Augen und laufen ihr über die Wangen. In ihrem Kopf herrscht das reinste Chaos. Ohne genau zu wissen, warum, wird sie von ihren Füßen zum Haupthaus getragen. Auf der Wiese neben dem Eingang sitzt Herr Renneberg mit seiner Französischklasse im gemütlichen Kreis. Sie sprechen erste französische Worte im Chor: »Bon-jour.«
Fritzi fängt Lous Blick auf, die schaut peinlich berührt in die andere Richtung. Eine beste Freundin wäre jetzt herbeigeeilt, oder nicht? Fritzi wischt sich die Tränen von den Wangen und schlüpft durch die schwere Tür des Haupthauses.
Ihre Füße haben es so eilig, sie kommt selbst kaum mit, bis sie endlich vor dem Büro der Schulleiterin haltmachen. Ohne zu klopfen, geschweige denn auf ein »Herein« zu warten, stürmt Fritzi völlig außer Atem das Büro von Frau Doktor Fleck. Die Schulleiterin setzt ihre Lesebrille ab und schaut Fritzi besorgt an.
Wenig später hält Fritzi eine dampfende Tasse Tee in der Hand und erzählt: »Aber als ich in der Aula heute Morgen nicht aufgerufen wurde, hab ich mich gewundert. War ja nur noch die Lateinklasse übrig, dabei hab ich doch Französisch gewählt, verstehen Sie? Spanisch wäre auch okay für mich, aber Latein geht gar nicht.«
Frau Doktor Fleck verzieht keine Miene. Ihre grauen Haare passen perfekt zu ihrem maßgeschneiderten hellgrauen Tweed-Kostüm. Sie hört aufmerksam zu, dann greift sie zum Telefonhörer. »Frau Ritter-Kurzberger, würden Sie mir bitte den Fremdsprachen-Wahlzettel von Fritzi Winter rübermailen? Ja, danke.«
Fritzi schluckt. Diesen blöden Wahlzettel hat sie total vergessen. Wer ahnt denn, dass die Schule so was aufhebt?!
»Also ich habe hier nur einen Zettel, auf dem du Latein angekreuzt hast«, stellt Frau Doktor Fleck mit Bedauern fest.
»Das muss der erste Zettel sein, ich hatte ja zuerst Latein gewählt, und dann hat meine Mutter noch mal Bescheid gesagt, dass ich doch Französisch nehmen will.«
»Hm«, die Direktorin klickt sich durch Dateien auf ihrem Computer und wendet sich dann wieder Fritzi zu: »Über einen zweiten Zettel kann ich hier nichts finden. War das in den Ferien?«
»Nein.« Fritzi versagt fast die Stimme beim Lügen. »Ein paar Tage vor den Ferien«, flüstert sie.
Frau Doktor Fleck schaut nochmals auf ihren Computer, bevor sie antwortet: »Tut mir leid, Fritzi, ich finde hier keinen Vermerk. So kann ich keine Ausnahme machen. Es sei denn …«, sie zögert.
»Es sei denn – was?«
»Die anderen Klassen sind voll. Wenn du allerdings einen Schüler oder eine Schülerin zum Tauschen findest, könntest du wechseln.«
»Na klasse.«
»Wie bitte?«
»Sie meinen, wenn ich jemanden finde, der jetzt noch in die Lateinklasse wechseln will, können wir tauschen?«
Die Direktorin nickt.
»Aber das ist doch aussichtslos.«
Frau Doktor Fleck zuckt bedauernd mit den Schultern. »Mir sind hier die Hände gebunden.«
Fritzi setzt zu einem letzten Versuch an. »Bitte, stecken Sie mich in eine andere Klasse, völlig egal, welche. Niemand wird merken, dass ich da bin. Bitte!«
»Tut mir leid, Fritzi.«
Fritzi schlurft die Treppe hinunter und hat es plötzlich gar nicht mehr eilig. Hätte Frau Doktor Fleck nicht einfach mal ein Auge zudrücken können? Sie späht durch die Glastür des Hauptgebäudes hinaus auf den Hof und hat wenig Lust, erneut an Lou und ihrer Französischklasse vorbeizulaufen. Also wartet sie, dass es zur großen Pause klingelt, und beobachtet so lange alles aus der Ferne. Herr Renneberg ist schon seit Jahren ihr Lieblingslehrer, er unterrichtet auch Sport, Fritzis bestes Fach. Klar, in Kunst und Englisch ist sie auch gut, aber Sport ist einfach das Beste! Ob sie auch weiterhin Sport bei ihm hat?
Mit dem Klingeln füllt sich der ganze Hof mit Schülern. Fritzi verlässt das Gebäude. Lou steht gerade aus dem Gras auf. Ob sie zu ihr hinübergehen soll? Sie hat so viele Fragen, will wissen, was eigentlich passiert ist. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment für ein bisschen Klartext. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und steuert direkt auf die Wiese neben dem Haupthaus zu. Sie steht schon direkt hinter Lou und will sich gerade räuspern, als sie ein paar Gesprächsfetzen auffängt. »Hey, Emmi, kommst du dann nach der Schule mit zu mir?«
»Klar! Sollen wir Doro und Mandy auch fragen?«
Lou nickt und wendet sich ab. Fritzi duckt sich weg und taucht in einer Schülertraube unter, ehe Lou oder eine der anderen sie bemerkt. Neben dem Kioskbüdchen setzt sie sich allein auf ihr Longboard. Man hat hier einen guten Blick über den ganzen Hof. Fritzis Gedanken kreisen um Lou. Lou, die jetzt nicht an ihrem Stammplatz neben ihr sitzt. Die heute auch bestimmt nicht zum Mittagessen mit in die Grüne Gans kommt, wie an fast jedem anderen Schultag ihres Lebens bisher. Heute also keine gemeinsamen Hausaufgaben und erst recht kein gemeinsames Longboarden. Diese Lou, am gegenüberliegenden Ende des Hofes, lädt nicht nur Emma, sondern sogar auch Doro und Mandy zu sich nach Hause ein. Die beiden sind der anorektische Untergang ihres Jahrgangs, nennen sich ironischerweise die Eiscafé-Tussis, leben mehr auf ihren Insta-Accounts als in der echten Welt. Über Magersucht macht man keine Scherze, aber die beiden sind auch kein Scherz. Nichts an all dem hier ist ein Scherz.
Fritzi versucht, einen schrecklichen Gedanken immer wieder zu verdrängen, schafft es aber nicht. Eine quälende Frage brennt ihr unter den Nägeln: Ist Lou seit Neuestem etwa eine Eiscafé-Tussi?
Sie trägt ein kurzes Blümchenkleid, unter dem andauernd ihre Unterhose hervorblitzt, und ihre wilden Locken werden von unzähligen Spängchen verziert. Spängchen!? So was hat ihre Lou noch nicht einmal besessen. Der Gong markiert das Ende der großen Pause, ohne dass Fritzi auch nur den Hauch einer Chance gewittert hätte, für drei Sekunden allein mit Lou zu sprechen. Sie lauert ihr in der kleinen