Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. Edmund Husserl

Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II - Edmund Husserl


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entschwunden und doch fortdauernd sein kann. Wir können auch sagen, er konstituiert sich als solcher nur dadurch, dass seine Erscheinungen kinästhetisch motivierte sind und ich somit es in meiner Freiheit habe, gemäß meiner erworbenen Kenntnis, die Erscheinungen willkürlich als originale Erscheinungen in ihrem System der Einstimmigkeit ablaufen zu lassen. Durch entsprechende Augenbewegungen und sonstige Leibesbewegungen kann ich jederzeit für einen bekannten Gegenstand zu den alten Erscheinungen, die mir den Gegenstand von denselben Seiten wiedergeben, zurückkehren, oder ich kann den nicht mehr wahrgenommenen Gegenstand durch freie Rückkehr in die passende Stellung wieder in die Wahrnehmung bringen und wieder identifizieren. Wir sehen also, in jedem Wahrnehmungsprozess wird ein konstitutives Doppelspiel gespielt: Intentional konstituiert ist als ein praktischer kinästhetischer Horizont 1) das System meiner freien Bewegungsmöglichkeiten, das sich in jedem aktuellen Durchlaufen nach einzelnen Linien von Bewegungen im [22]Charakter der Bekanntheit, also der Erfüllung aktualisiert. Jede Augenstellung, die wir gerade haben, jede Körperstellung ist dabei nicht nur bewusst als die momentane Bewegungsempfindung, sondern bewusst als Stelle in einem Stellensystem, also bewusst mit einem Leerhorizont, der ein Horizont der Freiheit ist. 2) Jede visuelle Empfindung bzw. visuelle Erscheinung, die im Sehfeld auftritt, jede taktuelle, die im Tastfeld auftritt, hat eine bewusstseinsmäßige Zuordnung zur momentanen Bewusstseinslage der Leibesglieder und schafft einen Horizont weiterer, zusammengeordneter Möglichkeiten, möglicher Erscheinungsreihen, zugehörig zu den frei möglichen Bewegungsreihen. Dabei ist noch in Hinsicht auf die Konstitution der transzendenten Zeitlichkeit zu bemerken: Jede Linie der Aktualisierung, die wir, diese Freiheit realisierend, faktisch einschlagen würden, lieferte kontinuierliche Erscheinungsreihen vom Gegenstand, die ihn alle für eine und dieselbe Zeitstrecke darstellen würden, die also alle denselben Gegenstand in derselben Dauer und nur von verschiedenen Seiten darstellen würden. Alle Bestimmungen, die dabei zur Kenntnis kämen, wären, dem Sinn des Konstituierten gemäß, koexistent.

      [16] 4. Die Beziehung von esse und percipi bei immanenter und transzendenter Wahrnehmung

      All dergleichen gibt es nur für transzendente Gegenstände. Ein immanenter Gegenstand, wie ein Schwarz-Erlebnis, bietet sich als dauernder Gegenstand dar, und in gewisser Weise auch durch »Erscheinungen«, aber nur so wie jeder [23]Zeitgegenstand überhaupt. Die zeitlich sich extendierende Dauer erfordert die beständige Abwandlung der Gegebenheitsweise nach Erscheinungsweisen der zeitlichen Orientierung. Nun, ein zeitlicher Gegenstand ist auch der Raumgegenstand, also dasselbe gilt auch von ihm. Aber er hat noch eine zweite, besondere Weise zu erscheinen. Achten wir aber auf die Zeitfülle und im Besonderen auf die urimpressionalen Phasen, so tritt uns der radikale Unterschied der Erscheinung von transzendenten und von immanenten Gegenständen entgegen. Der immanente Gegenstand hat in jedem Jetzt nur eine mögliche Weise, im Original gegeben zu sein, und darum hat auch jeder Vergangenheitsmodus nur eine einzige Serie zeitmodaler Abwandlungen, eben die der Vergegenwärtigung mit dem sich darin wandelnd konstituierenden Vergangen. Der Raumgegenstand aber hat unendlich viele Weisen, da er nach seinen verschiedenen Seiten im Jetzt, also in originaler Weise erscheinen kann. Erscheint er faktisch von der Seite, so hätte er von andern doch erscheinen können, und demgemäß hat jede seiner Vergangenheitsphasen unendlich viele Weisen, wie sich seine vergangenen erfüllten Zeitpunkte darstellen könnten. Wir können danach auch sagen: Für den transzendenten Gegenstand hat der Begriff Erscheinung einen neuen und eigenen Sinn.

      Betrachten wir ausschließlich die Jetztphase, so gilt, dass für sie bei dem immanenten Gegenstand Erscheinung und Erscheinendes sich nicht sondern lässt. Was im Original neu auftritt, ist die jeweilige neue Schwarzphase selbst, und ohne Darstellung. Und das Erscheinen sagt hier nichts anderes als ein ohne jede hinausmeinende Darstellung Zu-sein und im Original Bewusst-zu-sein. Andererseits: [24]Hinsichtlich des transzendenten Gegenstandes ist es aber klar, dass das im neuen Jetzt als Ding leibhaft Bewusste bewusst ist nur durch eine Erscheinung hindurch, das ist, es scheidet sich Darstellung und Dargestelltes, Abschattung und [17] Abgeschattetes. Vertauschen wir die bisher bevorzugte noematische Einstellung mit der noetischen, in der wir auf das Erlebnis und seine reellen Gehalte den reflektiven Blick wenden, so können wir auch so sagen: Ein transzendenter Gegenstand, wie ein Ding, kann sich nur dadurch konstituieren, dass als Unterlage ein immanenter Gehalt konstituiert wird, der nun seinerseits sozusagen substituiert ist für die eigentümliche Funktion der »Abschattung«, einer darstellenden Erscheinung, eines sich durch ihn hindurch Darstellens. Die in jedem Jetzt neu auftretende Dingerscheinung, sagen wir, die optische Erscheinung, ist, wenn wir nicht auf den erscheinenden Dinggegenstand achten, sondern auf das optische Erlebnis selbst, ein Komplex so und so sich ausbreitender Farbenflächenmomente, die immanente Daten sind, also in sich selbst so original bewusst wie etwa Rot oder Schwarz. Die mannigfaltig wechselnden Rotdaten, in denen sich z. B. irgendeine Seitenfläche eines roten Würfels und ihr unverändertes Rot darstellt, sind immanente Daten. Andererseits hat es aber mit diesem bloß immanenten Dasein nicht sein Bewenden. In ihnen stellt sich in der eigenen Weise der Abschattung etwas dar, was sie nicht selbst sind, im Wechsel der im Sehfeld immanent empfundenen Farben stellt sich ein Selbiges dar, eine identische räumlich extendierte Körperfarbe. All die noematischen Momente, die wir in der noematischen Einstellung auf den Gegenstand und als an ihm aufweisen, konstituieren sich mittels der immanenten Empfindungsdaten und [25]vermöge des sie gleichsam beseelenden Bewusstseins. Wir sprechen in dieser Hinsicht von der Auffassung als von der transzendenten Apperzeption, die eben die Bewusstseinsleistung bezeichnet, die den bloß immanenten Gehalten sinnlicher Daten, der sogenannten Empfindungsdaten oder hyletischen Daten, die Funktion verleiht, objektives »Transzendentes« darzustellen. Es ist gefährlich, hierbei von Repräsentanten und Repräsentiertem, von einem Deuten der Empfindungsdaten, von einer durch dieses »Deuten« hinausdeutenden Funktion zu sprechen. Sich abschatten, sich in Empfindungsdaten darstellen ist total anderes als signitives Deuten.

      »Immanente« Gegenständlichkeiten sind ihrerseits also nicht bewusst durch Apperzeption; »im Original bewusst sein« und »sein«, »percipi« und »esse« fällt bei ihnen zusammen. Und zwar für jedes Jetzt. Hingegen in weitem Umfang sind sie Träger von [18] apperzeptiven Funktionen, und dann stellt sich durch sie und in ihnen ein Nicht-Immanentes dar. Jetzt trennt sich das esse (für transzendente Gegenstände) prinzipiell vom percipi. In jedem Jetzt der äußeren Wahrnehmung haben wir zwar ein Originalbewusstsein, aber das eigentliche Perzipieren in diesem Jetzt, also das, was daran Urimpression ist (und nicht bloß retentionales Bewusstsein der vergangenen Phasen des Wahrnehmungsgegenstandes), ist Bewussthaben von einem sich originaliter Abschattenden.3 Es ist nicht ein schlichtes Haben des Gegenstands, in dem Bewussthaben und Sein sich deckt, sondern ein mittelbares Bewusstsein, sofern unmittelbar nur eine Apperzeption gehabt ist, ein Bestand von Empfindungsdaten, bezogen auf kinästhetische Daten, und eine apperzeptive Auffassung, durch die eine darstellende [26]Erscheinung sich konstituiert; und durch sie hindurch ist also der transzendente Gegenstand bewusst als originaliter sich abschattender oder darstellender. Im Prozess des kontinuierlichen Wahrnehmens haben wir in jedem Jetzt immer wieder diese Sachlage, prinzipiell bleibt es dabei, dass in keinem Moment der äußere Gegenstand in seiner originalen Selbstheit schlicht gehabt ist. Prinzipiell erscheint er nur durch apperzeptive Darstellung und in immer neuen Darstellungen, die im Fortgang aus seinen Leerhorizonten immer Neues zur originalen Darstellung bringen. Indessen, wichtiger ist für unsere Zwecke zu beachten: Es ist undenkbar, dass so etwas wie ein Raumgegenstand, der eben nur durch äußere Wahrnehmung als abschattende Wahrnehmung seinen ursprünglichen Sinn erhält, durch immanente Wahrnehmung gegeben wäre, gleichgültig ob einem menschlichen oder übermenschlichen Intellekt. Das aber beschließt in sich, dass es undenkbar ist, dass ein Raumgegenstand, dass all dergleichen wie Gegenstand der Welt im natürlichen Sinn sich von Zeitpunkt zu Zeitpunkt abgeschlossen darstellen könnten, mit ihrem gesamten Merkmalgehalt (als voll bestimmtem), der in diesem Jetzt ihren zeitlichen Inhalt ausmacht. Man spricht in dieser Hinsicht auch von adäquater Gegebenheit gegenüber der inadäquaten. Man erweist, um dies drastisch auszudrücken, und in theologischer [19] Wendung, Gott einen schlechten Dienst, wenn man es ihm zubilligt, 5 gerade sein zu lassen und jeden Widersinn zur Wahrheit machen zu können. Wesensmäßig gehört der Raumdinglichkeit die inadäquate Gegebenheitsweise zu, eine andere ist widersinnig. In keiner Phase der Wahrnehmung ist der Gegenstand als gegeben zu denken ohne Leerhorizonte und, was dasselbe sagt, ohne [27]apperzeptive Abschattung und mit


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