Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. Edmund Husserl

Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II - Edmund Husserl


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raum-zeitliche Wirklichkeit, die erscheinende Raumgestalt, die erscheinende Zeitgestalt. Das alles sind keine Erlebnisse. Und die Ordnungszusammenhänge, die in den Erlebnissen als echten Im[371]manenzen zu finden sind, lassen sich nicht in der empirischen, objektiven Ordnung antreffen, fügen sich ihr nicht ein.

      [39]In eine ausgeführte Phänomenologie des Räumlichen gehörte auch eine Untersuchung der Lokaldaten (die der Nativismus in psychologischer Einstellung annimmt), welche die immanente Ordnung des »Gesichtsempfindungsfeldes« ausmachen, und dieses selbst. Sie verhalten sich zu den erscheinenden objektiven Orten wie die Qualitätsdaten zu den erscheinenden objektiven Qualitäten. Spricht man dort von Lokalzeichen, so müsste man hier von Qualitätszeichen sprechen. Das empfundene Rot ist ein phänomenologisches Datum, das, von einer gewissen Auffassungsfunktion beseelt, eine objektive Qualität darstellt; es ist nicht selbst eine Qualität. Eine Qualität im eigentlichen Sinne, d. h. eine Beschaffenheit des erscheinenden Dinges, ist nicht das empfundene, sondern das wahrgenommene Rot. Das empfundene Rot heißt nur äquivok Rot, denn Rot ist Name einer realen Qualität. Spricht man mit Beziehung auf gewisse phänomenologische Vorkommnisse von einer »Deckung« des einen und anderen, so ist doch zu beachten, dass das empfundene Rot erst durch die Auffassung den Wert eines dingliche Qualität darstellenden Momentes erhält, an sich betrachtet aber nichts davon in sich birgt, und dass die »Deckung« des Darstellenden und Dargestellten keineswegs Deckung eines Identitätsbewusstseins ist, dessen Korrelat »ein und dasselbe« heißt.

      Nennen wir empfunden ein phänomenologisches Datum, das durch Auffassung als leibhaft gegeben ein Objektives bewusst macht, das dann objektiv wahrgenommen heißt, so haben wir in gleichem Sinne auch ein »empfundenes« Zeitliches und ein wahrgenommenes Zeitliches zu unterscheiden.6 Das letztere meint die objektive Zeit. Das erstere aber ist nicht selbst objektive Zeit (oder Stelle in der [40]objektiven Zeit), sondern das phänomenologische Datum, durch dessen empirische Apperzeption die Beziehung auf objektive Zeit sich konstituiert. Temporaldaten, wenn man will: Temporalzeichen, sind nicht tempora selbst. Die objektive Zeit gehört in den Zusammenhang der Erfahrungsgegenständlichkeit. Die »empfundenen« Temporaldaten sind nicht bloß empfunden, sie sind auch mit Auf[372]fassungscharakteren behaftet, und zu diesen wiederum gehören gewisse Forderungen und Berechtigungen, die aufgrund der empfundenen Daten erscheinenden Zeiten und Zeitverhältnisse aneinander zu messen, so und so in objektive Ordnungen zu bringen, so und so scheinbare und wirkliche Ordnungen zu sondern. Was sich da als objektiv gültiges Sein konstituiert, ist schließlich die eine unendliche objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper und ihre physischen Beschaffenheiten, Seelen mit ihren seelischen Zuständen ihre bestimmten Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.

      Es mag sein – hier haben wir darüber nicht zu urteilen – dass diese objektiven Bestimmungen letztlich ihren Anhalt besitzen an Konstatierungen von Unterschieden und Verhältnissen der Temporaldaten oder in unmittelbarer Adäquation an diese Temporaldaten selbst. Aber ohne weiteres ist z. B. empfundenes »Zugleich« nicht objektive Gleichzeitigkeit, empfundene Gleichheit von phänomenologisch-temporalen Abständen nicht objektive Gleichheit von Zeitabständen usw., das empfundene absolute Zeitdatum nicht ohne weiteres Erlebtsein objektiver Zeit (auch für das absolute Datum des Jetzt gilt das). Erfassen, und zwar evident Erfassen eines Inhalts, so wie er erlebt ist, das heißt noch nicht, eine Objektivität im empirischen Sinne [41]erfassen, eine objektive Wirklichkeit in dem Sinne, in welchem von objektiven Dingen, Ereignissen, Verhältnissen, von objektiver Raumlage und Zeitlage, von objektiv wirklicher Raumgestalt und Zeitgestalt usw. die Rede ist.

      Blicken wir auf ein Stück Kreide hin; wir schließen und öffnen die Augen. Dann haben wir zwei Wahrnehmungen. Wir sagen dabei: wir sehen dieselbe Kreide zweimal. Wir haben dabei zeitlich getrennte Inhalte, wir erschauen auch ein phänomenologisches zeitliches Auseinander, eine Trennung, aber am Gegenstand ist keine Trennung, er ist derselbe: im Gegenstand Dauer, im Phänomen Wechsel. So können wir auch subjektiv ein zeitliches Nacheinander empfinden, wo objektiv eine Koexistenz festzustellen ist. Der erlebte Inhalt wird »objektiviert«, und nun ist das Objekt aus dem Material der erlebten Inhalte in der Weise der Auffassung konstituiert. Der Gegenstand ist aber nicht bloß die Summe oder Komplexion dieser »Inhalte«, die in ihn gar nicht eingehen, er ist mehr als Inhalt und anderes. Die Objektivität gehört zur »Erfahrung«, und zwar zur Einheit der Erfahrung, zum erfahrungsgesetzlichen Zusammenhang der Natur. Phänomenologisch gesprochen: die Objektivität konstituiert sich eben nicht in den »primären« Inhalten, sondern in den [373] Auffassungscharakteren und in den zu dem Wesen dieser Charaktere gehörigen Gesetzmäßigkeiten. Das voll zu durchschauen und zum klaren Verständnis zu bringen, ist eben Erkenntnisphänomenologie.

      [42]2. Die Frage nach dem »Ursprung der Zeit«

      Wir verstehen nach diesen Reflexionen auch den Unterschied der phänomenologischen (bzw. erkenntnistheoretischen) Ursprungsfrage von der psychologischen hinsichtlich aller für die Erfahrung konstitutiven Begriffe, und so auch hinsichtlich des Zeitbegriffs. Die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung (die zugleich die Frage nach dem Wesen der Erfahrung ist) erfordert den Rückgang zu den phänomenologischen Daten, aus denen das Erfahrene phänomenologisch besteht. Sofern das Erfahren durch den Gegensatz zwischen »uneigentlich« und »eigentlich« gespalten wird und die eigentliche Erfahrung, die intuitive und letztlich adäquate, das Richtmaß der Erfahrungsbewertung hergibt, bedarf es besonders der Phänomenologie der »eigentlichen« Erfahrung.

      Demgemäß führt auch die Frage nach dem Wesen der Zeit zurück auf die Frage nach dem »Ursprung« der Zeit. Diese Ursprungsfrage ist aber auf die primitiven Gestaltungen des Zeitbewusstseins gerichtet, in denen die primitiven Differenzen des Zeitlichen sich intuitiv und eigentlich als die originären Quellen aller auf Zeit bezüglichen Evidenzen konstituieren. Diese Ursprungsfrage darf nicht verwechselt werden mit der Frage nach dem psychologischen Ursprung, der Streitfrage des Empirismus und Nativismus. Bei der letzteren ist gefragt nach dem ursprünglichen Empfindungsmaterial, aus dem die objektive Raum- und Zeitanschauung im menschlichen Individuum und sogar in der Gattung entsteht. Uns ist die Frage nach der empirischen [43]Genesis gleichgültig, uns interessieren die Erlebnisse nach ihrem gegenständlichen Sinn und ihrem deskriptiven Gehalt. Die psychologische Apperzeption, welche die Erlebnisse als psychische Zustände von empirischen Personen, psychophysischen Subjekten, auffasst und zwischen ihnen sei es rein psychische, sei es psychophysische Zusammenhänge aufdeckt und das Werden, Sichgestalten und Umgestalten der psychischen Erlebnisse naturgesetzlich verfolgt, diese psychologische Apperzeption ist eine ganz andere als die phänomenlogische. Die Erlebnisse werden von uns keiner Wirklichkeit eingeordnet. Mit der Wirklichkeit haben wir es nur zu tun, insofern sie gemeinte, vorgestellte, ange[374]schaute, begrifflich gedachte ist. Bezüglich des Zeitproblems heißt das: die Zeiterlebnisse interessieren uns. Dass sie selbst objektiv zeitlich bestimmt sind, dass sie in die Welt der Dinge und psychischen Subjekte hineingehören und darin ihre Stelle, ihre Wirksamkeit, ihr empirisches Sein und Entstehen haben, das geht uns nichts an, davon wissen wir nichts. Dagegen interessiert uns, dass in diesen Erlebnissen »objektiv zeitliche« Daten gemeint sind. Es gehört zum Bereich der Phänomenologie eben diese Beschreibung, dass die betreffenden Akte dieses oder jenes »Objektive« meinen, genauer die Aufweisung der apriorischen Wahrheiten, die zu den verschiedenen konstitutiven Momenten der Objektivität gehören. Das Apriori der Zeit suchen wir zur Klarheit zu bringen, indem wir das Zeitbewusstsein durchforschen, seine wesentliche Konstitution zutage fördern und die evtl. der Zeit spezifisch zugehörigen Auffassungsinhalte und Aktcharaktere herausstellen, zu welchen die apriorischen Zeitgesetze essentiell gehören. [44]Natürlich meine ich hierbei Gesetze dieser selbstverständlichen Art: dass die feste zeitliche Ordnung eine zweidimensionale unendliche Reihe ist, dass zwei verschiedene Zeiten nie zugleich sein können, dass ihr Verhältnis ein ungleichseitiges ist, dass Transitivität besteht, dass zu jeder Zeit eine frühere und eine spätere gehört usw. – Soviel zur allgemeinen Einleitung.

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