Meister Floh. Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Literaturhinweisen und Nachwort. E. T. A. Hoffmann
durch einen Zauberschlag in eine andre Welt versetzt, in der er heimisch werden musste. Mit heißer Begierde fiel er über alles her, was er über China, über die Chinesen, über Peking habhaft werden konnte, mühte sich, die chinesischen Laute, die er irgendwo aufgezeichnet fand, mit feiner singender Stimme der Beschreibung gemäß nachzusprechen, ja er suchte mittelst der Papierschere seinem Schlafröcklein, von dem schönsten Kalmank, möglichst einen chinesischen Zuschnitt zu geben, um der Sitte gemäß mit Entzücken in den Straßen von Peking umherwandeln zu können. Alles Übrige konnte durchaus nicht seine Aufmerksamkeit reizen, zum großen Verdruss des Hofmeisters, der eben ihm die Geschichte des Bundes der Hansa beibringen wollte, wie es der alte Herr Tyß ausdrücklich gewünscht, der nun zu seinem Leidwesen erfahren musste, dass Peregrinus nicht aus Peking fortzubringen, weshalb er denn Peking selbst fortbringen ließ aus dem Zimmer des Knaben. –
Für ein schlimmes Omen hatte es der alte Herr Tyß schon gehalten, dass als kleines Kind Peregrinus Rechenpfennige lieber hatte als Dukaten, dann aber gegen große Geldsäcke und Hauptbücher und Strazzen einen entschiedenen Abscheu bewies. Was aber am seltsamsten schien, war, dass er das Wort »Wechsel« nicht aussprechen hören konnte, ohne krampfhaft zu erbeben, indem er versicherte, [18]es sei ihm dabei so, als kratze man mit der Spitze des Messers auf einer Glasscheibe hin und her. Zum Kaufmanne, das musste Herr Tyß einsehen, war daher Peregrinus von Haus aus verdorben, und so gern er es gesehen, dass der Sohn in seine Fußstapfen getreten, so stand er doch gern ab von diesem Wunsch, in der Voraussetzung, dass Peregrinus sich einem bestimmten Fach widmen werde. Herr Tyß hatte den Grundsatz, dass der reichste Mann ein Geschäft und durch dasselbe einen bestimmten Standpunkt im Leben haben müsse; geschäftslose Leute waren ihm ein Greuel, und eben zu dieser Geschäftslosigkeit neigte sich Peregrinus, bei allen Kenntnissen, die er nach seiner eigenen Weise erwarb und die chaotisch durcheinanderlagen, gänzlich hin. Das war nun des alten Tyß größte und drückendste Sorge. – Peregrinus wollte von der wirklichen Welt nichts wissen, der Alte lebte nur in ihr, und nicht anders konnt’ es geschehen, als dass sich daraus, je älter Peregrinus wurde, ein desto ärgerer Zwiespalt entspann zwischen Vater und Sohn, zu nicht geringem Leidwesen der Mutter, die dem Peregrinus, der sonst gutmütig, fromm, der beste Sohn, sein ihr freilich unverständliches Treiben in lauter Einbildungen und Träumen herzlich gönnte und nicht begreifen konnte, warum ihm der Vater durchaus ein bestimmtes Geschäft aufbürden wollte.
Auf den Rat bewährter Freunde schickte der alte Tyß den Sohn nach der Universität Jena, aber als er nach drei Jahren wiederkehrte, da rief der alte Herr voller Ärger und Grimm: »Hab ich’s nicht gedacht! Hans der Träumer ging hin, Hans der Träumer kehrt zurück!« – Herr Tyß hatte insofern ganz recht, als Peregrinus in seinem ganzen Wesen sich ganz und gar nicht verändert hatte, sondern völlig derselbe [19]geblieben. – Doch gab Herr Tyß die Hoffnung noch nicht auf, den ausgearteten Peregrinus zur Vernunft zu bringen, indem er meinte, dass, würde er erst mit Gewalt hineingestoßen in das Geschäft, er vielleicht doch am Ende Gefallen daran finden und anderes Sinnes werden könne. – Er schickte ihn mit Aufträgen nach Hamburg, die eben nicht sonderliche Handelskenntnisse erforderten, und empfahl ihn überdies einem dortigen Freunde, der ihm in allem treulich beistehen sollte.
Peregrinus kam nach Hamburg, gab nicht allein den Empfehlungsbrief, sondern auch alle Papiere, die seine Aufträge betrafen, dem Handelsfreunde seines Vaters in die Hände und verschwand darauf, niemand wusste wohin.
Der Handelsfreund schrieb darauf an Herrn Tyß:
»Ich habe Dero Geehrtes vom – durch Ihren Herrn Sohn richtig erhalten. Derselbe hat sich aber nicht weiter blicken lassen, sondern ist schnell von Hamburg abgereiset, ohne Auftrag zu hinterlassen. – In Pfeffern geht hier wenig um, Baumwolle ist flau, in Kaffee nur nach Mittelsorte Frage, dagegen erhält sich der Melis angenehm und auch im Indigo zeigt sich fortwährend divers gute Meinung. Ich habe die Ehre etc.«
Dieser Brief hätte Herrn Tyß und seine Ehegattin nicht wenig in Bestürzung gesetzt, wäre nicht mit derselben Post ein Brief von dem verlornen Sohne selbst angelangt, in dem er sich mit den wehmütigsten Ausdrücken entschuldigte, dass es ihm ganz unmöglich gewesen, die erhaltenen Aufträge nach dem Wunsche des Vaters auszurichten, und dass er sich unwiderstehlich hingezogen gefühlt habe nach fernen Gegenden, aus denen er nach Jahresfrist glücklicher und froher in die Heimat zurückzukehren hoffe.
[20]»Es ist gut«, sprach der alte Herr, »dass der Junge sich umsieht in der Welt, da werden sie ihn wohl herausrütteln aus seinen Träumereien.« Auf die von der Mutter geäußerte Besorgnis, dass es dem Sohn doch an Geld fehlen könne zur großen Reise und dass daher sein Leichtsinn, nicht geschrieben zu haben, wohin er sich begebe, sehr zu tadeln, erwiderte aber der Alte lachend: »Fehlt es dem Jungen an Gelde, so wird er sich desto eher mit der wirklichen Welt befreunden, und hat er uns nicht geschrieben, wohin er reisen will, so weiß er doch, wo uns seine Briefe treffen.« –
Es ist unbekannt geblieben, wohin Peregrinus eigentlich seine Reise hingerichtet; manche wollen behaupten, er sei in dem fernen Indien gewesen, andere meinen dagegen, er habe sich das nur eingebildet; so viel ist gewiss, dass er weit weg gewesen sein muss, denn nicht so, wie er den Eltern versprochen, nach Jahresfrist, sondern erst nach Verlauf voller dreier Jahre kehrte Peregrinus zurück nach Frankfurt, und zwar zu Fuß, in ziemlich ärmlicher Gestalt.
Er fand das elterliche Haus fest verschlossen, und niemand rührte sich darin, er mochte klingeln und klopfen, so viel er wollte.
Da kam endlich der Nachbar von der Börse, den Peregrinus augenblicklich fragte, ob Herr Tyß vielleicht verreiset.
Der Nachbar prallte aber ganz erschrocken zurück und rief: »Herr Peregrinus Tyß! – sind Sie es? kommen Sie endlich? – wissen Sie denn nicht?« –
Genug, Peregrinus erfuhr, dass während seiner Abwesenheit beide Eltern hintereinander gestorben, dass die Gerichte den Nachlass in Beschlag genommen und ihn, dessen Aufenthalt gänzlich unbekannt gewesen, öffentlich [21]aufgefordert, nach Frankfurt zurückzukehren und die Erbschaft des Vaters in Empfang zu nehmen.
Sprachlos blieb Peregrinus vor dem Nachbar stehen, zum ersten Mal durchschnitt der Schmerz des Lebens seine Brust, zertrümmert sah er die schöne glänzende Welt, in der er sonst lustig gehauset.
Der Nachbar gewahrte wohl, wie Peregrinus gänzlich unfähig, auch nur das Kleinste, was jetzt nötig, zu beginnen. Er nahm ihn daher in sein Haus und besorgte selbst in möglicher Schnelle alles, so dass noch denselben Abend Peregrinus sich in dem elterlichen Hause befand.
Ganz erschöpft, ganz vernichtet von einer Trostlosigkeit, die er noch nicht gekannt, sank er in den großen Lehnstuhl des Vaters, der noch an derselben Stelle stand, wo er sonst gestanden; da sprach eine Stimme: »Es ist nur gut, dass Sie wieder da sind, lieber Herr Peregrinus. – Ach, wären Sie nur früher gekommen!«
Peregrinus schaute auf und gewahrte dicht vor sich die Alte, die sein Vater vorzüglich deshalb, weil sie wegen ihrer furchtbaren Hässlichkeit schwer einen Dienst finden konnte, in seiner frühen Kindheit als Wärterin angenommen und die das Haus nicht wieder verlassen hatte.
Lange starrte Peregrinus das Weib an, endlich begann er, seltsam lächelnd: »Bist du es, Aline? – Nicht wahr, die Eltern leben noch?« Damit stand er auf, ging durch alle Zimmer, betrachtete jeden Stuhl, jeden Tisch, jedes Bild usw. Dann sprach er ruhig: »Ja, es ist noch alles so, wie ich es verlassen, und so soll es auch bleiben!«
Von diesem Augenblick begann Peregrinus das seltsame Leben, wie es gleich anfangs angedeutet. Zurückgezogen von aller Gesellschaft, lebte er mit seiner alten Aufwärterin [22]in dem großen gräumigen Hause, in tiefster Einsamkeit, erst ganz allein, bis er später ein paar Zimmer einem alten Mann, der des Vaters Freund gewesen, mietweise abtrat. Dieser Mann schien ebenso menschenscheu wie Peregrinus. Grund genug, warum sich beide, Peregrinus und der Alte, sehr gut vertrugen, da sie sich niemals sahen.
Es gab nur vier Familienfeste, die Peregrinus sehr feierlich beging, und das waren die beiden Geburtstage des Vaters und der Mutter, der erste Osterfeiertag und sein eignes Tauffest. An diesen Tagen musste Aline einen Tisch für so viele Personen, als der Vater sonst eingeladen, und dieselben Schüsseln, die gewöhnlich aufgetragen worden, bereiten, sowie denselben Wein aufsetzen lassen, wie ihn der Vater