Die Blutfinca. Jorge de la Piscina

Die Blutfinca - Jorge de la Piscina


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Was soll’s. Renner schaute auf und erklärte dem alten Mann seine Lage: „Das Restaurant ist noch eine Bruchbude, die Handwerker kommen, wann sie wollen. Und mein Koch hat gerade gekündigt.“

      Der Mann zögerte, dann sagte er: „Wissen Sie, ich bin früher Koch gewesen.“

      Renner nickte höflich und versuchte Interesse zu heucheln.

      „Wenn Sie wollen, könnte ich für Ihren Koch einspringen. Zumindest bis Sie Ersatz haben.

      Ungläubig starrte Renner den Mann an. Der schien das Starren fehlzuinterpretieren und hob entschuldigend die Hände. „Sie brauchen nicht zu antworten, ich will mich gar nicht aufdrängen.“

      Renner schaute den Mann abschätzend an. Ob der wohl noch die Kraft für den anstrengenden Job in der Küche hatte? Immerhin, die Oberarme waren muskulös.

      Der alte Mann lächelte gewinnend und entblößte zwei Reihen makelloser, weißer Zähne. „Ich würde gerne für einige Monate wieder den Kochlöffel schwingen.“

      Renner beschloss, es einfach auszuprobieren. Schlimmstenfalls war das etwas vergeudete Zeit. Bestenfalls ein Koch. „Könnten Sie heute Nachmittag zum Probekochen vorbeikommen?“ Der alte Mann deutete eine leichte Verbeugung an. „Sehr gerne.“

      „ Na dann.“ Renner stand auf, drückte Santos seine Visitenkarte in die Hand. Dann winkte er wortlos zum Abschied und ging an den Strand. Dort zog er sich sein weißes Hemd aus, legte es auf eine Sonnenliege direkt am Meer, dann streifte er die Hose ab. Er faltete sie zusammen und packte das Kleidungsstück auf das Hemd. Dann sprang er in Boxershorts direkt ins Wasser. Der Vormittag zog schnell vorüber und Renner wartete in seinem Restaurant ungeduldig auf Santos, der kurz nach 12 Uhr auftauchte. Renner hatte mit Absicht keine feste Uhrzeit vereinbart, er wollte sehen, wann sein potentieller Koch auftauchte. Kurz nach zwölf war die frühestmögliche Interpretation von „heute Nachmittag.“ Das sah schon mal gut aus. Sie stapften durch die Baustelle im Gastraum und traten in die Küche. Hier sah es schon besser aus, die Küche war schon fertig eingerichtet – nur die Dunstabzugshaube fehlte noch. Santos hatte Lebensmittel mitgebracht und schien sein eigenes Programm durchzuziehen, wie Renner angenehm überrascht feststellte. Er hatte eher damit gerechnet, den Mann hämisch lächelnd erst mal zum Einkaufen schicken zu müssen. Neugierig stand er neben Santos und schaute ihm über die Schulter. Da saß jeder Griff und jede Bewegung. Die langjährige Erfahrung war dem Mallorquinen anzumerken. Eine Stunde später war Renner als Vorkoster beschäftigt. Santos stand ungeduldig neben ihm auf der Terrasse und schaute zu, wie Renner sich durch gebratene Auberginen, einen gegrillten Sankt-Petersfisch auf Kartoffel-Tomaten-Gratin und allerlei andere Köstlichkeiten probierte. Schweigend probierte der Gastronom in spe einen Mandelkuchen mit Limettenkruste zum Abschluss. „Ganz ehrlich, Santos? Das ist himmlisch. Die Vorspeisen sind vielfältig, das Hauptgericht perfekt gewürzt und der Kuchen ist himmlisch luftig und locker.“ Renner streckte Santos die Hand hin und sagte: „Von mir aus haben Sie den Job.“ Der alte Mann lachte und umarmte den verdutzten Renner, klopfte ihm auf beide Schultern und warf zwei Küsse in die Luft. Der Deutsche wischte irritiert über seine Wange. „Wenn Sie hier schon leben, dann sollten Sie auch ein Muamua beherrschen!“, sagte Santos. Die braunen Augen in dem verschmitzt lächelnden Gesicht funkelten vergnügt über Renners Gesichtsausdruck.

      „Ein was?“

      „Zwei Küsse, über die Wange gehaucht. Muamuas eben.“

      Renner seufzte. „Muss ich jeden Gast etwa küssen?“

      Der stämmige, alte Mann lachte aus vollem Herzen, klopfte Renner auf den Rücken, dann zog er das hellbeige Leinenhemd zurecht, bevor er sich ans Abräumen machte.

      Restaurant Marcos, Cala Pi

      29. April 2017, vormittags

      In den folgenden Wochen nahm Renners Gaststätte immer mehr Gestalt an. Er war wie ein Verrückter im Restaurant umhergerannt, hatte Handwerker angetrieben, die Bedienung angeschnauzt und die Abzugshaube eigenhändig montiert. Der Zeitplan war verflucht knapp, aber jetzt fehlten nur noch letzte Details – die irdenen Steingutschälchen, die als Teller dienen sollten, waren noch nicht aus Palma eingetroffen. Nach einem kurzen Telefonat, bei dem Renner in den Hörer brüllte, beschloss er, das Geschirr selber in Palma abzuholen. Die ersten Gäste kamen schon übermorgen, da wollte er nicht ohne Geschirr da stehen. Er hatte sowieso das Gefühl, mal wieder Stadtluft schnuppern zu müssen, und musste dringend etwas durchatmen, bevor die Saison anfing. Er würde noch einen kurzen Spaziergang durch Cala Pi machen und dann nach Palma aufbrechen. Renner ging durch die Villensiedlung, passierte ein niedriges, höchstens zweistöckiges, helles Haus nach dem anderen und erreichte schließlich die „Innenstadt“. Als er zum wiederholten Mal an dem Aztekenmuseum vorbeikam, beschloss er kurzerhand einen Blick hineinzuwerfen. Die Azteken hatten ihn als Kind schon fasziniert, auch wenn er nicht ganz verstand, was die hier auf Mallorca zu suchen hatten.

      Das Museum verdiente den Namen eigentlich nicht, wie er feststellen musste, als er den Eingang durchschritt. Ein einzelnes Zimmer mit lauter handgefertigten Schautafeln, eine Vitrine mit einer seltsamen Figur darin: Körperstatur und Bemalung sprachen für einen Azteken, aber statt dem typischen Federschmuck, trug der junge Indio Schilfrohre auf dem Kopf. Auf der Brust trug er ein dreieckiges, blaues Symbol, das ein wenig aussah wie ein stilisiertes Diadem.

      Renner zuckte zusammen, als eine Stimme aus dem Hintergrund ertönte: „Sie fragen sich bestimmt, was der Azteke in Cala Pi sucht?“ Hinter einem Vorhang aus Holzperlen war eine farbenfroh gekleidete, junge Frau getreten. Vielleicht Mitte zwanzig, schätze er. Ihr ungewöhnlich exotisches Gesicht war fein gezeichnet, wies zwei leicht vorspringende Wangenknochen auf und war von vielen kleinen und großen Sommersprossen übersät. In den Augenwinkeln waren leichte Lachfältchen angedeutet, die ein paar tiefgrüner Augen einrahmten. Die schwarzhaarige, hochgewachsene Frau trug ein rotes Kopftuch zu ihrem blau-grün-rot gemusterten Kleid und jede Menge bunter Glasperlen um den Hals. Er lachte und sagte: „Ja, allerdings.“

      Die Frau dozierte: „Die Azteken waren ein Indio-Volk aus Südamerika, die im heutigen Mexico lebten und noch heute tief verwoben mit der Identität des Landes waren. Selbst der Name des Landes stammte vom Eigennamen der Azteken ,Mexica‘ ab.“

      „Soweit bin ich auch im Bilde. Ich kenne die Geschichte von Cortes, dem spanischen Eroberer, der einen der bedeutendsten Azteken-Herrscher, Moctezuma, besiegte.“ Renner erinnerte sich daran, wie er seinem Vater mit leichtem Gruseln, bei dessen Erzählungen über die brutalen Eroberungsfeldzüge der Spanier gelauscht hatte. Die Frau ging stumm im Kreis um ihn herum, so als wolle sie ihn von allen Seiten begutachten. Das irritierte Renner etwas, er versuchte, sie zum Sprechen zu bewegen: „Was hat es denn mit dem Azteken auf sich? Hat der sich verlaufen?“, fragte er irritiert. Die Frau ging zu der Figur im Schaukasten in der Mitte und zeigte ein Bild, das dort befestigt war. „Das ist die Blutfinca, die letzte Station des letzten Sohnes von Moctezuma. Der Prinz kam als Sklave hierher, er war der Besitz eines spanischen Konquistadors, der sich auf seinem zu Unrecht erworbenen Gut niederließ.“

      „Was wurde dann aus dem Azteken?“

      „Er stürzte sich von den westlichen Steilklippen im Torrent de Cala Pi, nachdem er den Spanier getötet hatte.“

      Renner sah die Frau an: „Das ist ja eine tragische Geschichte. Wo kann man denn das nachlesen?“

      Die Frau ging leichtfüßig zu ihm herüber und stand noch knapp eine Nasenspitze von ihm entfernt vor ihm. „Das wurde von Generation zu Generation in unserer Familie weitergegeben.“

      Renner bemühte sich, ungerührt dreinzublicken. Die Frau duftete nach Oleander, ihr tief ausgeschnittenes Kleid zeigte ein beeindruckendes Dekolleté in einem dunklen Hautton, den Renner noch nie gesehen hatte. So nahe war ihm seit langer Zeit keine Frau mehr gekommen – genau genommen niemand mehr, seit seiner Scheidung von seiner Ex-Frau Sabine. Er räusperte sich: „Und woher kommt die Figur?“

      „Die wurde von einem Künstler aus Llucmayor in den frühen Siebzigern geschaffen. Anhand von Beschreibungen meiner Großmutter, die den Azteken immer wieder auf der Klippe erscheinen sah.“ Sie musterte ihn nachdenklich und fragte dann wie aus heiterem Himmel:


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