Die Blutfinca. Jorge de la Piscina
den Inseln Cabrera, die südlich vor Cala Pi lagen, hing Lucy an Renners Arm und war hin und weg, sowohl von ihm als auch vom Ausflugsprogramm. Das Cabrera-Archipel tat sein Bestes, um einen unvergesslichen Tag zu liefern. Nach einer kurzen Stippvisite in der historischen Burgruine, von deren Mauern Renner und Lucy einen wunderbaren Blick auf das tiefblaue Meer und die Inseln hatten, standen sie mit einem Eiskaffee vor dem winzigen Besucherzentrum.
„Lucy, psst! Schau mal!“ Renner deutete auf einen kleinen schwarzen Salamander, der über eine Mauer huschte und in der struppigen Vegetation verschwand.
„Ob der Glück bringt?“ Lucy lachte, was zwei winzige Grübchen offenbarte, wie Renner fasziniert bemerkte.
„Ich fürchte, eher nicht, jedenfalls kommt ausgerechnet jetzt unser Taxi nach Hause.“ Renner deutete auf das Motorboot, das gerade angelegt hatte. „Ich hatte gehofft, wir sehen noch Delfine oder einen Finnwal. Die sollen sich hier gelegentlich blicken lassen.“
Lucy legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Der Tag war so schon unvergesslich.“ Sie trat einen Schritt näher. Renner wurde nervös. Lucy neigte sich zu ihm und ihre Lippen trafen sich. Nach einem kurzen, vorsichtigen Kuss stiegen sie ins Boot. Lucy legte ihren Kopf auf seine Schulter und sagte leise: „Lass uns zu dir gehen. Ich möchte deinen sagenhaften Koch in Aktion erleben.“ Lucy küsste ihn erneut. Diesmal ein klein wenig länger.
Der Abend ging schnell zu Ende. Santos hatte das Restaurant in seiner Abwesenheit geschmissen, den treuen Koch hatte er vor einer Stunde nach Hause geschickt, als der letzte Gast ging.
Renner ging mit beschwingten Schritten zum Turm, eine Flasche Cerveza Nau, von den deutschen Hausbrauern in Santa Maria del Cami, unter dem Arm geklemmt. Einen so schönen Abend hatte er lange nicht mehr gehabt. Ihre fröhliche und frische Natur hatte die manchmal leicht depressive Grundstimmung seiner selbstgewählten Einsamkeit durchbrochen. Zum ersten Mal seit Jahren war ihm wieder eine Frau sehr nahe gekommen. Vor fünfzehn Minuten war Lucy ins Hotel aufgebrochen, sie hatte entschuldigend die Hände gehoben und um Nachsicht gebeten. „Ich alte Jungfer brauche einfach noch meinen persönlichen Freiraum. Zumindest bis ich mich wieder an einen Mann an meiner Seite gewöhnt habe.“ Der letzte Satz hatte Renner geradezu in Hochstimmung versetzt. Er konnte es sich wirklich vorstellen, Lucy bei sich zu haben. Einmal kräftig durchatmen wäre jetzt sicher eine gute Idee, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Gar nicht leicht, er spürte noch den Geschmack ihrer Lippen. Und hatte den leidenschaftlichen Abschiedskuss noch deutlich vor Augen. Er setzte sich vor den Turm und schaute glücklich auf das weite, blaue Meer hinaus. Die Hitze prallte fast wirkungslos an ihm ab, der Schatten der Kiefern um ihn herum und die steife Brise vom Meer kühlten ihn zusätzlich ab. Es war fast 22 Uhr. Als er seinen Blick von der Sonne abwandte, die schon fast im Meer versunken war und dabei den ganzen Horizont in Brand zu setzen schien, streifte sein Blick die gegenüberliegende Steilküste. Dort stand jemand. Hochaufgerichtet, direkt an der Steilküste. Renner stand wie hypnotisiert auf und ging bis an den Rand des Abgrunds. Die Gestalt auf der Klippe trug etwas, das aussah wie ein Kopfschmuck. Als Renner blinzelte, verschwand die Gestalt plötzlich wieder. Ein leichtes Frösteln überkam ihn und irgendwie fühlte er sich auf einmal sehr unbehaglich.
2. 4,5 Liter
Auf einer Straße in Cala Pi
30. April, gegen 23 Uhr
Die Frau ging mit beschwingtem Schritt die Straße entlang. Grillen zirpten leise, der heiße Asphalt der Straße strahlte noch die Hitze des Tages ab. Links neben ihr, hinter der Steilküste, ging die Sonne langsam unter und der Horizont brannte förmlich, in rötlichen Widerschein getaucht. Ein leichter Wind wehte durch die Büsche, ließ die Blätter der Palmen rascheln und fuhr ihr erfrischend durch die Kleider. Sie wirkte trotzdem müde und unkonzentriert. Plötzlich knackte ein Zweig. Die Frau drehte sich um – doch da war nichts zu sehen. Oder war das ein Schatten? Sie wusste es nicht. Und die Stille, die gerade noch so beruhigend war, war mit einem Mal bedrückend und angsteinflößend. Weit und breit kein Mensch. Sie beschleunigte instinktiv ihre Schritte – sobald sie in ihrer Ferienwohnung war, würde sie sich sicherer fühlen. Jetzt bereute sie, dass sie darauf bestanden hatte, alleine zu laufen. Mittlerweile war sie fast einen Kilometer gelaufen, das Ziel war nicht mehr fern. Sie hörte Schritte hinter sich. Drehte sich blitzartig um. Doch da war niemand. Sie hastete weiter. Dann zwang sie sich, langsamer zu gehen, weil sie sich sagte, dass ihre Angst völlig unbegründet war. Sie passierte eines der vielen flachen Häuser, die verstreut an der Straße lagen, und bog ab in den Feldweg, der zu ihrer Ferienwohnung führte. Von weitem konnte sie schon die Finca sehen, an der sie jeden Morgen vorbeiging. Ein schönes, geräumiges Haus mit Natursteinmauern und einem Garten voller Olivenbäume. Sie hörte wieder knirschende Schritte hinter sich. Griff in ihre Handtasche und umklammerte das Einzige, was sich halbwegs als Waffe benutzen ließ: eine Nagelfeile. Dann drehte sie sich ruckartig um.
Sie lachte nervös, als sie erkannte, wer vor ihr stand. Sie zog unauffällig die Hand aus der Handtasche, damit sie sich nicht lächerlich machte und winkte. „Jetzt haben Sie mich aber erschreckt! Ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Wohnen Sie auch hier?“ Dann ging alles sehr schnell. Der Mann vor ihr schnellte nach vorne, holte mit der Hand aus und schlug ihr etwas gegen den Kopf. Die Frau hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien. Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie auf den Boden und blieb liegen. Über ihr ragte eine kleine Gestalt auf, die einen Totschläger in der Hand hielt. Ruhig betrachtete er sein am Boden liegendes Opfer. Sein Gesicht verzog sich, als hätte er Schmerzen. Für einige Augenblicke schien es, als wolle er einfach weitergehen und die Frau liegen lassen. Dann packte er sie, hob sie schnaufend hoch und lud sie auf seine Schulter. Danach verschwand er im Gebüsch.
Als die Frau wieder wach wurde, konnte sie sich nicht rühren. Und um sie herum war es dunkel. Einzelne Sterne blitzten unheilvoll am Himmel auf und der Mond tauchte den Olivenhain in ein fahles Licht. Sie versuchte zu schreien, nur um festzustellen, dass ein Knebel in ihrem Mund steckte. Sie zerrte an ihren Fesseln und realisierte langsam, dass sie mit weit ausgestreckten und gespreizten Armen und Beinen an irgendetwas festgebunden war. Sie hörte Schritte und, wie jemand in einer seltsamen Sprache einen Singsang intonierte. Der Gesang waberte im Kreis um sie herum, nach einer Weile begriff sie, dass der Mann sie umkreiste. Dann verstummte ihr Angreifer plötzlich. Es raschelte neben ihrem Ohr, dann hörte sie, wie der Mann sich neben sie kniete. Sie wollte schreien, fragen, wieso er ihr das antat. Was sie ihm getan hatte! Doch aus ihrem Mund drang nur ein unförmiges, gutturales Stöhnen. Plötzlich spürte sie, wie etwas Kaltes sie berührte. Dann setzte ein furchtbar brennender Schmerz ein, als eine Klinge sie ritze. Der Mann arbeitete schnell und präzise mit seinem Messer. Nach wenigen Minuten wurde der Frau schwarz vor Augen, ihr schwanden langsam die Sinne und sie fiel in eine gnädige Ohnmacht.
Am Strand von Cala Pi
1. Mai 2017, vormittags
Die Frau schrie. Laut, grell und gellend. Sie stand am Strand und schrie ohne aufzuhören. Immer und immer wieder. Überall unter den Strohschirmen am Strand drehten sich die Köpfe, um zu sehen, was passiert war. Einige junge Männer waren in die Richtung der Frau geeilt, um zu helfen. Der Strand war nur fünfzig Meter breit, aber rund hundert Meter lang. Als der erste Mann bei der Frau eintraf, verharrte er kurz bei ihr, dann drehte er sich blitzartig weg, erbrach sich würgend und fiel auf die Knie. Dann robbte er von der Stelle weg. Ein weiterer näherte sich vorsichtig, dann wandte er erbleichend das Gesicht ab. Der Anblick war zu grausig. Ein unförmiger Körper, über und über mit Blut bedeckt und kaum noch als Mensch zu identifizieren. Einzig die langen Haare deuteten darauf hin, dass es sich einmal um eine Frau gehandelt haben musste. Der Mann brüllte in Richtung Strand: „Miriam, ruf sofort die Polizei. Hier liegt eine Tote.“ Und bring mir die Decke. Seine Freundin kam angerannt und brachte eine Decke, das Mobiltelefon dabei an das Ohr pressend. „Geh ein Glas Wasser holen. Und schau hier bloß nicht her!“ Der blonde Mann nahm mit sanfter Gewalt die schreiende Frau an den Schultern und rüttelte sie etwas. Er sprach mit ruhiger Stimme auf sie ein und drehte sie weg von der Leiche und hüllte die zitternde Frau in die Decke ein. Ihr Gesicht war bleich wie der Tod, die schwarzen, nassen Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Der Blonde hielt die nächsten Touristen auf, die an ihnen vorbeilaufen wollten. Er herrschte sie an: „Was denken Sie, was