Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext. Группа авторов

Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext - Группа авторов


Скачать книгу
wäre es, durch eine Verschränkung von Theorie und Praxiswissen Translator:innen auf ein „reflektiertes“ translatorisches Handeln vorzubereiten und für in diesem Feld tätige Dolmetscher:innen das nötige Kulturkapital im Sinne von Zertifizierung und Graden/Titeln bereitzustellen. Aufgabe der Translationswissenschaft wäre das analytische Aufzeigen von Interessenskonstellationen und Entwicklungspotenzialen, das Translator:innen damit die argumentative Basis für die Aushandlung der aus ihrer Sicht erforderlichen Geltungsprozesse und damit eine Optimierung des Systems erlaubt (ibid. 107; 2017:33). Dieses Zusammenspiel von Forschung und Lehre ergänzt Prunč später (2017:35) noch um die Kategorien „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Solidarität“. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit kann erst symbolisches Kapitel für die Dolmetschenden generiert werden. Die Kategorie Solidarität kann als Voraussetzung für das Zusammenspiel dieser Faktoren betrachtet werden. Im Zentrum sieht Prunč (2017:35) hier den Abbau von Standesdünkeln vonseiten professioneller Dolmetscher:innen gegenüber den oft als minderwertig betrachteten Laien, der nötig erscheint, damit alle in dem Feld tätigen Akteur:innen mit Hinblick auf eine Optimierung der Handlungsbedingungen an einem Strang ziehen, da sich „Fehlleistungen negativ auf das Image de(s) gesamten Berufsstandes auswirken“ (2017:35) (s. dazu weiter unten auch das Konstrukt der „berufsständischen Solidarität“).

      Als „Konstruktionsprinzipien“ (Prunč 2017:33) für eine konkrete Mitgestaltung der Translationskultur durch die Translator:innen definiert Prunč die folgenden:

       Kooperativität als kooperative Arbeitsteilung ist „ökologisch“ und „ressourcensparend“, wenn sie auf einem klar vereinbarten Handlungsrahmen basiert (2017:33).

       Loyalität umfasst die „Fähigkeit und Bereitschaft, die Interessen der Handlungspartner zur Kenntnis zu nehmen, zu reflektieren und angemessen darauf zu reagieren“ (ibid.) und impliziert eine vierfache reziproke Loyalität der Translator:innen gegenüber den 1) Autor:innen der zu übertragenden Redebeiträge, 2) den Initiator:innen der Interaktion, 3) den Adressat:innen und 4) gegenüber sich selbst in Hinblick auf persönliche ethische Werte und berufsethische Prinzipien (2017:34).

       Transparenz bedingt die Offenlegung von Handlungsrollen und die Verpflichtung, Abweichungen von bestehenden translatorischen Handlungsnormen transparent zu machen und wirkt damit vertrauensbildend.

       Ökologizität soll einen „sparsamen Umgang mit Ressourcen“ sichern (2017:34), indem translatorische Entscheidungen abhängig von den Zielvorgaben und der Translatfunktion, aber auch von Kriterien wie der „Nachhaltigkeit“, d.h. der längerfristigen Auswirkung des translatorischen Handelns, getroffen werden.

      Stark verknüpft mit diesen Ausführungen ist auch die persönliche, moralische Verpflichtung von Translator:innen bei Missständen zu intervenieren:

      In einem solchen ethischen Konzept strebt Translation als trialogischer Beitrag zur Enttarnung von Hegemonialisierungsstrategien, zur Konfliktminimierung, zur Wahrung der Menschenrechte und der persönlichen physischen und geistigen Integrität des Individuums sowie zur Friedenssicherung als bewusste Alternative zum Krieg der Worte […]. Das ist das Gewebe, aus dem Aschenbrödels Schuh gefertigt ist, mit dem sie sich als ebenbürtige Prinzessin neben die Prinzessin Konferenzdolmetschen stellen kann. (Prunč 2017:35)

      Mit dem Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur lassen sich veränderte Rahmenbedingungen gut abbilden. Eine generelle Veränderung, die nicht nur Translation, sondern verschiedenste Bereiche des gegenwärtigen Lebens prägt, ist (neben den Auswirkungen der Globalisierung und wachsenden Technologisierung unserer Lebensrealität) auch die zunehmende gesellschaftliche TranskulturalitätTranskulturalität. 2007 wurde von Vertovec mit Fokus auf die damalige Situation in Großbritannien der Überbegriff „super-diversity“ eingeführt. „Super-diversity“ dient als Umschreibung für durch veränderte Migrationsprozesse (mehr und unterschiedliche Ethnien, Sprachen, Religionen, Herkunftsländer, Migrationsverläufe) bewirkte vielschichtige Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft, die sich auf verschiedene Dimensionen des Zusammenlebens auswirken (neue Formen von Ungleichheit, Vorurteilen, Rassismus, Segregation, räumlicher Präsenz, Kontakt, Creolisierung, etc.), von verschiedenen Faktoren (Alter, Geschlecht, Rechtsstatus, Arbeits- und soziale Bedingungen, etc.) geprägt sind und zu einer Neudefinition von sozialem Status, Identitäten und Schichten führen können (vgl. auch Meissner & Vertovec 2015). Das Konzept der SuperdiversitätSuperdiversität wurde in Bezug auf verändertes Sprachverhalten und damit für Dolmetscher:innen einhergehende Herausforderungen u.a. von Jacquemet (2011) aufgegriffen.

      Derart veränderte Rahmenbedingungen gelten auch für das Dolmetschen in einem gesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum, der besonders in den letzten Jahren von migrationsbedingten Veränderungsprozessen geprägt war. Die auf zunehmende Mobilität, aber auch auf Migration und Flucht zurückzuführende ethnische Vielfalt im DACH-Raum werden ebenso wie neue Entwicklungen infolge der zunehmenden Technologisierung einleitend dargestellt. Auch wenn der Fokus der vorliegenden Publikation auf Entwicklungen im Bereich des Lautsprachendolmetschens liegt, wird in einem Beitrag von Haug & Hofer in diesem Band ein Brückenschlag zur Forschung und Praxis im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens vorgenommen.

      5 Dolmetschen aus professionssoziologischer Warte

      Für eine detailliertere Analyse von Dolmetschsituationen in einem derart hybriden gesellschaftlichen Gefüge, die den Blick auf die im Rahmen der Translationskultur umrissenen Bereiche Forschung, Ausbildung und Praxis auf einer Mikroebene erlaubt, erweisen sich des Weiteren professionstheoretische Ansätze als fruchtbar.

      Ab den 1990er-Jahren wurden professionstheoretische Erklärungsmodelle zu Prozessen der ProfessionalisierungProfessionalisierung auch in der Dolmetschwissenschaft zur Analyse und Skizzierung der „Professionalisierung“ dolmetscherischen Handelns und der Ausgestaltungen von „Professionalität“ herangezogen (für einen Überblick siehe z.B. Grbić 2015). Untersucht wird dabei, inwieweit Dolmetschen als spezifisches Handlungsfeld sich durch die zunehmende „Verberuflichung1“ und „Wissenssystematisierung“ (Schmidt 2008:836) hin zu einer „Profession“ entwickelt. Struktur-funktionalistische Professionstheorien beschreiben Professionen, oft in Abgrenzung zu oder am Beispiel klassischer Professionen (etwa Medizin, Recht, Theologie), unter Bezugnahme auf deren spezifische prototypische Merkmale. Als eine Weiterentwicklung dieser funktionalistischen Ansätze können Modelle betrachtet werden, die ProfessionalisierungProfessionalisierung als Prozess auf einem Kontinuum beschreiben, der verschiedene Phasen durchläuft und auf dessen Basis berufliches Handeln als nicht-professionell, semiprofessionell oder professionell beschrieben werden kann. Anwendung in der Dolmetschwissenschaft fand hier v.a. Tsengs (1992) Phasenmodell, das Ausgangspunkt für die Darstellung von ProfessionalisierungsprozessenProfessionalisierungProfessionalisierungsprozess in verschiedenen Feldern des Dolmetschens war und ist (vgl. Grbić 2015).

      Ab den 1980er-Jahren steht infolge eines Paradigmenwechsels hin zu handlungstheoretischen Ansätzen (Schmidt 2008:840ff.) verstärkt das konkret beobachtbare professionelle Handeln als dynamischer Aushandlungsprozess im Zentrum der Professionsforschung. Im Fokus stehen die interne professionelle „Handlungslogik“ (Schmidt 2008:843) professionellen Handelns und die dafür typischen widersprüchlichen Handlungsanforderungen und -muster an Professionsvertreter:innen in der Interaktion mit Klient:innen oder anderen Professionen. Exemplarisch für die Dolmetschwissenschaft sind hier etwa Arbeiten zu Formen von „boundary work“ durch Dolmetscher:innen (Grbić 2010, Grbić & Kujamäki 2019), zu interprofessionellen Beziehungen (Tipton 2016), Prozessen der Deprofessionalisierung (García-Beyart 2015) und der Ausbildung hybrider Professionen (vgl. Colley& Guery 2015 für eine Anwendung auf das Public Service Interpreting). Im Zentrum derartiger Darstellungen steht, was professionelles Handeln in konkreten, von bestimmten Strukturen geprägten Handlungsfeldern ausmacht und wie Professionalität durch das Handeln der Professionsangehörigen „reproduziert“ wird (vgl. Schmidt 2008:843). Professionen werden von Schmidt (2008:846) vor diesem Hintergrund als „Strukturorte der verwissenschaftlichten Krisenbewältigung resp. der Vermittlung von Theorie und Praxis“ definiert, die von der „Dialektik universalisierter Regelanwendung und hermeneutischem Fallbezug“ bestimmt sind.

      Vor


Скачать книгу