Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext. Группа авторов
Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann teilweise eine gegenläufige Entwicklung bzw. eine Art Deglobalisierung beobachtet werden, die ausgelöst durch nationalistische und protektionistische Tendenzen ein Einbremsen und Verringern der globalen Verflechtung und Integration nach sich zieht.
Von GlobalisierungGlobalisierung und DeglobalisierungDeglobalisierung gleichermaßen betroffen ist vornehmlich die Translation, deren Hauptgegenstand Sprach- und Kulturmittlung zur Unterstützung von Kommunikation darstellt (vgl. Prunč 2012), und die dabei auch insbesondere den Veränderungen durch technologische Entwicklungen ausgesetzt ist. Datenflut, zeit- und ortsunabhängige Erreichbarkeit, weitgehende Automatisierung sind Folgen einer zunehmenden Digitalisierung von Umwelt und Arbeitswelt, denen das Individuum oft machtlos gegenübersteht.
Denn in der Praxis fühlen sich viele Menschen, unabhängig von ihrer Führungsstufe, ihrem Alter oder Geschlecht, übergeordneten Paradigmenveränderungen ausgesetzt, die sie als Einzelne nicht initiiert und, hätte man sie gefragt, vielleicht auch nicht gewollt hätten (Wörwag & Cloots 2018:6).
Ein unbestimmtes Unwohlsein und häufig auch die Furcht vor einem Verlust des Arbeitsplatzes kennzeichnen die Reaktion auf den Wandel, und dies trotz der Tatsache, dass empirische Studien das Gegenteil belegen: So spricht beispielsweise die Weltbank in einer Studie zur Veränderung der Arbeitswelt von einer weltweiten Zunahme der Arbeitsplätze: „Total labor force has been increasing across the globe“ (Weltbank 2019:7). Belegt wird dies anhand empirischer Statistiken, wonach sich die Arbeitsplätze weltweit im Zeitraum 1993 bis 2017 trotz DigitalisierungDigitalisierungArbeitsplatz beinahe verdoppelt haben.
Untersuchungen zur Lage im Bereich der Sprachmittlung bestätigen diesen Trend: Eine etwas ältere Studie der Generaldirektion Übersetzen der Europäischen Kommission sah für diese Branche bereits 2009 ein Mindestwachstum von 10 % pro Jahr voraus: „Annual compounded growth rate was estimated at 10 % minimum over the next few years“ (EU 2009:iv), wodurch die Sprachmittlung eine der höchsten Wachstumsraten aufweisen konnte: „Research shows that the language industry has the highest growth rate of all European industries in Europe“ (EU 2009:iv). Rückblickend konnte den statistischen Erhebungen zufolge ein stetiger Anstieg der in diesem Bereich arbeitenden Personen in den Jahren 2003–2008 verzeichnet werden. Dieser positive Trend wird durch neuere Untersuchungen bestätigt: Gemäß der jährlichen Studie des Marktforschungsunternehmens Common Sense Advisory (CSA 2018) zu SprachdienstleistungenTranslationals Sprachdienstleistung („market for outsourced language services and technology“) wuchs dieser Bereich in den letzten Jahren kontinuierlich auf 46,52 Mrd. Dollar weltweit im Jahr 2018, für das Jahr 2021 wird gar ein globales Volumen von 56,18 Mrd. Dollar vorausgesehen (CSA 2018). Für den regionalen Markt der USA sieht das United States Bureau of Labor Statistics sogar einen Anstieg der Nachfrage nach Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen von 29 % bis zum Jahr 2024 voraus (Toolbox 2019).
Angesichts dieser Zahlen steht fest, dass Sprachmittlung ein Beruf mit guten Zukunftsaussichten bleibt. Es gibt zwar eine erhöhte Nachfrage und mehr Arbeit, doch unterliegt diese großen Veränderungen. Die Wirtschaftsdaten belegen etwa eine erhöhte Konzentration des Marktes: Der Anteil kleiner Sprachmittlungsunternehmen mit einem Umsatz unter 250000 € fiel von 34 % im Jahr 2018 auf 25 % im Jahr 2019 (ELIA 2019:5), wobei 2019 nur mehr 56 % aller Sprachdienstleister:innen gegenüber noch 60 % im Jahr 2018 weniger als 10 Angestellte aufwiesen. Hierbei treten aber starke geografische Unterschiede auf, so dass der Anteil kleiner Unternehmen in Westeuropa nur 13 % beträgt, während in Nord-, Süd- und Osteuropa diese Zahl bis zu 40 % ausmacht. Zugleich stieg der Anteil großer Unternehmen mit einem Umsatz über 1 Mio. € von 30 % auf 43 % an (ELIA 2019:5).
Andere Kennzahlen der Sprachmittlungsbranche bleiben hingegen unverändert: Zu beobachten ist nach wie vor ein starker Gender-Gap: Bei einem insgesamt sehr hohen Frauenanteil ist dieser in Übersetzungsabteilungen, Ausbildungsinstitutionen und Einzelunternehmen übermäßig hoch, in größeren Unternehmen mit mehreren Angestellten aber einigermaßen ausgeglichen. Bestätigt wird dies durch die statistische Einkommensverteilung: Je höher das individuelle Einkommen, desto geringer der Frauenanteil (ELIA 2019:4). Aus derselben Studie geht hervor, dass Unternehmen einen erheblichen Ausbau der Bereiche Maschinelles Übersetzen, Projektablaufautomatisierung und Telearbeit planen (ELIA 2019:10) und dafür auch entsprechende Investitionen vorsehen (ELIA 2019:21). Insgesamt bleibt eine positive Erwartungshaltung: „Investment sentiment remains convincingly positive throughout Europe and other indicators such as hiring expectations also point to strong confidence in the industry“ (ELIA 2019:39).
Wirtschaftszahlen und individuelle Befindlichkeit divergieren jedoch häufig: Trotz allgemein guter Aussichten können Wandel und notwendige Anpassung beim Einzelnen zu Entfremdung und Furcht führen und den Beruf obsolet erscheinen lassen. Nach Karl Marx (1844/2017) hat Entfremdung vier Ursachen: EntfremdungDigitalisierungEntfremdung vom Produkt, Entfremdung von der eigenen Tätigkeit, Entfremdung von anderen Menschen, Entfremdung vom menschlichen Gattungswesen; alles Themen, die durch die digitale Veränderung neue Aktualität erlangen.
2 WandelTechnologieWandel durch Technologie
Im Globalen Innovationsindex finden sich die deutschsprachigen Länder der DACH-Region auf den ersten Rängen wieder: Schweiz Rang 1, Deutschland Rang 7, Österreich Rang 13 (Global Innovation Index Report 2019:35) und im Allgemeinen wird Technologie überaus positiv wahrgenommen (vgl. Weltbank 2019:2). Trotzdem herrscht angesichts der zunehmenden Digitalisierung häufig Verunsicherung, insbesondere unter älteren Kollegen, was zu dem falschen Schluss führen könnte, Digitalisierung sei ein Generationenproblem. Die Fähigkeit, neue Technologien zu erlernen, sie kritisch zu hinterfragen und allenfalls erfolgreich einzusetzen, ist keine Frage des Alters. Sie darf nicht älteren Sprachdienstleistern, den sogenannten ‚digital migrants‘ pauschal abgesprochen werden und gleichzeitig den jüngeren Generationen, den mit digitalen Medien aufgewachsenen ‚digital natives‘, pauschal zugesprochen werden. Vielmehr liegt die Voraussetzung dafür in der Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen und die entsprechenden Kenntnisse jeweils zu erarbeiten.
Geeigneter erscheint daher das DiffusionsmodellDigitalisierungDiffusionsmodell (Rogers 2003:247), das nach dem Zeitpunkt der Anwendung zwischen Innovator:innen, frühen Anwender:innen (‚early adopters‘), der Mehrheit (‚early and late majority‘) und Nachzügler:innen (‚laggards‘‚ ‚late adopters‘) unterscheidet. Innovator:innen bilden zunächst die kleinste Gruppe der Anwender:innen: Sie suchen Neues und sind bereit es auszuprobieren. Die frühen Anwender:innen entscheiden sich für einen Einsatz, sobald die Technologie Vorteile bringt, während die Mehrheit erst bei einem entsprechenden Erfolg der ‚early adoptors‘ zur Anwendung schreitet. Zeitpunkt und Ausmaß der Anwendung unterliegen verschiedenen subjektiven Kriterien: Die wahrgenommene Verbesserung gegenüber dem Bisherigen, die Vereinbarkeit mit den eigenen Erfahrungen und Anforderungen, die Komplexität der anzuwendenden Technologien, die Erprobbarkeit sowie die mediale Präsenz der Technologie (Rogers 2003:248).
Diffusionsmodell nach Rogers 2003:247
Vertikal gesehen sind die weltweit agierenden großen Sprachdienstleistungsunternehmen zu den Innovatoren bzw. zu den frühen Anwender:innen zu zählen. Oft sind sie auch zugleich die erfolgreichsten Softwareanbieter im Bereich der Translationstechnologie (zum Beispiel Lionbridge, SDL, Star-Group, u.a.). Mittelgroße und mittlere Anbieter:innen können der großen Mehrheit der Pragmatiker und Konservativen zugerechnet werden, während Nachzügler:innen und Skeptiker:innen eher unter den Einzelübersetzer:innen zu finden sind.
DigitalisierungDigitalisierungArbeitsplatz und Unterstützung durch den Computer haben sich historisch gesehen zuerst für das Übersetzen etabliert: Professionelles Übersetzen, Web- und Softwarelokalisieurng, Untertitelung sowie viele andere Bereiche des Übersetzens sind heute ohne digitale Werkzeuge nicht mehr denkbar (Biau-Gil & Pym 2006, Bowker & Corpas Pastor 2015, Cronin 2013, Sandrini 2017). Erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung haben sich auch für das Dolmetschen entsprechende Werkzeuge durchgesetzt, die den Menschen während und insbesondere vor der eigentlichen Dolmetschleistung unterstützen. Das computergestützte Dolmetschen (Computer