Handbuch Gender und Religion. Группа авторов
Perspektiven auf Ingrid Kötters Roman Die Kopftuchklasse
Natalie Fritz, Paola von Wyss-Giacosa
Baldassare Scolari
Kinder trotz allem. Gender und Religion in filmischen Ökoapokalypsen
Daria Pezzoli-Olgiati
The Handmaid’s Tale. Religion und Gender künstlerisch verdichtet
Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati
Gender als Grundkonzept der Religionsforschung
Meine Mutter, warum verargst du den lieblichen Sänger,
Dass er mit Liedern uns reizt, wie sie dem Herzen entströmen?
Nicht die Sänger sind die zu beschuldigen, sondern allein Zeus,
Welcher die Meister der Kunst nach seinem Gefallen begeistert.
Zürne denn nicht, weil dieser die Leiden der Danaer singet;
Denn der neuste Gesang erhält von allen Gesängen
Immer das lauteste Lob der aufmerksamen Versammlung,
Sondern stärke vielmehr auch deine Seele, zu hören.
Nicht Odysseus allein verlor den Tag der Zurückkunft
Unter den Troern, es sanken mit ihm viel andere Männer.
Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte,
Spindel und Webstuhl, und treib an beschiedener Arbeit
Deine Mägde zum Fleiß! Die Rede gebühret den Männern
Und vor allem mir; denn mein ist die Herrschaft im Hause!
Staunend kehrte die Mutter zurück in ihre Gemächer
Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes.
Als sie nun oben kam mit den Jungfrauen, weinte sie wieder
Ihren trauten Gemahl Odysseus, bis ihr Athene
Sanft mit süßem Schlummer die Augenlieder betaute.
Odyssee I,346–364
Zu Beginn ihres pointierten Essays Women and Power, A Manifesto evoziert die Philologin und Literaturwissenschaftlerin Mary Beard diese Szene aus der Odyssee, einem der unbestrittenen Klassiker der europäischen (Religions-)Geschichte.1 Die britische Autorin möchte damit auf das langjährige Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen im Zugang zu Macht hinweisen und ihre tiefe Verankerung in der Kulturgeschichte illustrieren.
Die Mutter Penelope ist von den Liedern des Barden betrübt und bittet deswegen um eine fröhlichere Art der Unterhaltung. Ihr Sohn, Telemachos, bringt sie zum Schweigen und weist sie in ihre privaten Zimmer zurück. Das Besingen der Heldentaten gebührt den Männern in den öffentlichen Räumen des Hofes, während sich die stille Arbeit mit Spindel und Webstuhl den Frauen geziemt: Kurz und bündig werden die Machtverhältnisse im Hause in Erinnerung gerufen. Die gebrochene Mutter folgt dem Befehl und legt sich weinend ins Bett, bis Athena ihr Ruhe durch den Schlaf beschert. Der Text arbeitet mit eindeutigen, dichotomen Kategorien: Telemachos, Hausherr, Zeus, Öffentlichkeit, Heldentaten, Erinnerung an den Krieg, Singen und Macht stehen auf der einen Seite; Penelope, die treue Ehefrau, Athena, private Räume, Produktion von Textilien, Schweigsamkeit, Erinnerung an den Ehemann, Weinen und Schlaf auf der anderen.
Die erste Fassung vom Handbuch Gender und Religion hat die Instrumente zur Verfügung gestellt, um einen solchen literarischen Text im Hinblick auf die Definition von Geschlecht und den damit verbundenen Rollen sowie die religiöse Legitimierung dieser Dichotomie zu untersuchen. Die vorliegende zweite und erweiterte Fassung ergänzt diesen Zugang mit weiteren Kategorien, die diese Dualismen und die damit vorausgesetzten Generalisierungen thematisieren und kritisch hinterfragen: Ausgewählte Beiträge aus der ersten Auflage wurden gründlich revidiert und aktualisiert; dazu kommen in etwa gleich viele neue Kapitel, die die Themen, Methoden sowie die theoretischen und hermeneutischen Reflexionen des letzten Jahrzehntes aufnehmen. Das Handbuch Gender und Religion wurde in der Erstauflage von 2008 als erstes deutschsprachiges Handbuch aus religionswissenschaftlicher Sicht zu diesem Themenbereich veröffentlicht. Es basierte auf einer Tagung, die 2006 stattfand, und reflektierte über Diskurse bezogen auf ein, damals wie auch heute noch, brandaktuelles Thema. Es war ein Versuch – und auch die erweiterte Neuauflage ist ein solcher – Impulse zu einer genderzentrierten Annäherung an die vielfältigen Felder und Fragen rund um Religion zu geben und zum Nachdenken sowie Weiterforschen anzuregen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wurde und wird nicht erhoben.
In der Einführung zu ihrem 2005 zusammen mit Tina Beattie herausgegebenen Buch Gender, Religion and Diversity beklagt Ursula King zu Recht die damalige Gender-Blindheit der Religionswissenschaft und die Religions-Blindheit der Gender-Studien.2 Seither hat sich jedoch einiges getan, auch im deutschsprachigen Raum: In den Jahren seit der Veröffentlichung der Erstauflage des Handbuchs hat sich die Forschung in diesem Themenfeld erweitert und etabliert. Verschiedene Überblicksdarstellungen, theoretische Reflexionen, aber auch religionshistorische und gegenwartsbezogene Studien zu Gender und Religion sind publiziert worden.3 Die Genderforschung interagiert mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskursen und reagiert auf sie. Dies zeigt sich beispielsweise in neueren Beiträgen zu Gender, Religion und Nation und solchen zum Wechselspiel zwischen Migration, Religion und Geschlecht.4 Dennoch muss das Feld, gemessen an der Zentralität von Geschlecht in und für Religion, weiterhin ausgebaut werden.
In Anbetracht der vielfältigen neuen Forschungsimpulse, aber auch der gesellschaftlich-politischen Debatten der letzten Jahre, musste also das Handbuch Gender und Religion gründlich revidiert und erweitert werden. Die vorliegende Einleitung hebt die zentralen Aspekte hervor, die als Basis für das Gerüst dieses neuen Editionsprojektes gedient haben. Leitend war dabei die Frage, wieso Gender ein Grundkonzept der Religionswissenschaft ist und was es leisten kann. Im Folgenden gehen wir in drei Schritten vor: Erstens werden »Gender« und »Religion« als theoretische Konzepte umrissen, zweitens wird ihre Relevanz für die Erforschung von Religionen in Geschichte und Gegenwart diskutiert, und drittens wird auf die Rolle der Wechselbeziehung von Religion und Gender in öffentlich-medialen Diskursen eingegangen.
1 »Gender« und »Religion« als Konzepte der Religionsforschung
Geschlecht ist eng mit anthropologischen Reflexionen verbunden, es geht um die Frage des Menschenbildes und seinen Bezug zu einem bestimmten kulturellen Kontext. Geschlecht ist zunächst verbunden mit einem Körper im Sinne einer physisch-sinnlichen Existenz. Genauso relevant in diesem Zusammenhang ist der Leib, verstanden als subjektiv gespürte und interpretierte Physis, als Reflexion des Individuums über das körperliche Sein.5 Menschen sind in ihrer Körperlichkeit und Leibhaftigkeit soziale Wesen: Zum Physischen und Individuellen tritt also das Sozial-Kollektive als dritte relevante anthropologische Kategorie hinzu. Damit wird ersichtlich, dass Geschlechtskonzepte stets kultur- und zeitspezifisch ausgeformt werden, sie prägen Menschen und ihre Vorstellungen in unterschiedlichen Teilen der Welt verschieden. Global