Totenstille am See. Heribert Weishaupt

Totenstille am See - Heribert Weishaupt


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1. Kapitel

      Die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen versanken am Horizont hinter dem Kirchturm der St.-Johannes-Kirche in Troisdorf-Sieglar. Mit dem Untergang der Sonne endete ein angenehm, warmer Herbsttag und in den nächsten Stunden würden die Temperaturen erheblich sinken. Franz Bertram fuhr mit seinem Wagen die Hüttenstraße entlang bis zum Wanderparkplatz direkt hinter dem Hochwasserschutzdamm der Sieg, die von hier aus in wenigen Kilometern in den Rhein mündet. Dort stellte er seinen alten Mercedes 190 D ab. Inzwischen war sein geliebtes Gefährt stolze zwanzig Jahre alt. Er würde ihn auch künftig hegen und pflegen – und nach weiteren zehn Jahren wäre er würdiger Besitzer eines Oldtimers.

      Der Parkplatz war an diesem Samstagabend leer. Die Spaziergänger und Wanderer, die das schöne Wetter genutzt hatten, waren um diese Zeit wieder zu Hause. Für Liebespaare, die sich manchmal auf dem Parkplatz im Auto vergnügten, war es dagegen noch zu früh und vor allem nicht dunkel genug.

      In dieser Nacht endete die Sommerzeit. Die Uhren würden wieder eine Stunde zurückgestellt werden … und ab morgen wäre es um diese Zeit noch lange heller Tag. Franz wollte heute die frühe Dunkelheit noch einmal zum Nachtangeln nutzen.

      Er stieg aus, ging um seinen Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrersitz, um seine Stiefel anzuziehen, die er vorsorglich vor der Abfahrt vor den Sitz gelegt hatte. Auf dem Beifahrersitz hatte er mehr Bewegungsfreiheit. Hier störte ihn nicht das Lenkrad. Die Stiefel waren bereits viele Jahre alt. Am Schaft und unter der Sohle klebte noch die getrocknete Erde von seinem letzten Angelabend.

      Er öffnete den Kofferraum und griff sich die lange und prall gefüllte Angeltasche, die er sich über die Schulter hängte. In die rechte Hand nahm er seinen Angelstuhl und in die andere einen kleinen Werkzeugkoffer, in dem er Angelhaken, Blei, Posen und sonstige Kleinutensilien ordentlich sortiert verstaut hatte. Wie immer wollte er auch heute zu seinem Angelplatz am Westufer des Sieglarer Sees. Er liebte den See. Hier fand er Ruhe und Erholung vom Stress des Alltags.

      Er wandte sein, von der Sonne braun gebranntes Gesicht dem Himmel zu. Nur wenige Quellwolken unterbrachen das Blau des Firmaments. Er nickte zufrieden und ging beschwingt und erwartungsvoll los.

      Er überquerte den Siegdamm, um dann noch einige Hundert Meter am Ufer entlang des Sees zu gehen. Anfangs war der Weg breit, und ging später in einen engen Pfad über. Leicht außer Puste erreichte er die Stelle des Pfades, an der er den Pfad verlassen musste, um zu seinem Angelplatz am Ufer zu gelangen. In solchen Momenten, wenn er nach kurzen Anstrengungen nach Luft schnappte, haderte er mit sich selbst. Er schaute an sich herunter. Sein Bauch wölbte sich immer mehr über seine Hose, und seine Jacke ließ er so wie heute meistens offen, damit sie ihn nicht zu sehr einengte. Er hasste diese Momente und er hasste dann auch sich selbst. Vor Jahren hatte er noch eine ansprechende Figur. Inzwischen war er bequemer und das Essen seine Leidenschaft geworden. Zum wiederholten Male nahm er sich vor, etwas für seine Kondition und seinen Körper zu tun. Ja, morgen würde er mit Gymnastik und Laufen beginnen – und wenn nicht ab morgen, dann spätestens ab nächstem Wochenende.

      Er stellte sein Gepäck ab und atmete einmal tief durch.

      Links von ihm ragten entlang des Pfades die über zwei Meter hohen Stängel des drüsigen Springkrauts in den Himmel. Erst bei seinem letzten Besuch am See hatte er das Kraut, das sich inzwischen in fast allen Auen und Uferlandschaften eingebürgert hatte, niedergetreten, um sich einen Weg zum Seeufer zu bahnen. Und bereits heute, nach wenigen Wochen, war der Zugang zum See erneut zugewachsen. Er hasste das Gewächs, weil es alle anderen Pflanzen überwucherte. Außerdem mochte er den starken, süßlichen Duft nicht, den die rosa Blüten verströmten, und der sich wie eine Glocke über das Ufer legte.

      Er ließ seinen Ärger auf brutale Art an den Pflanzen aus und bahnte sich erneut einen Zugang zu seinem Angelplatz, indem er rücksichtlos die Stängel der lästigen Pflanzen niedertrat. Sein Ärger verflog aber sofort wieder, als er den Angelplatz sah, der nach wie vor frei von irgendwelchen Gewächsen war. Die festgetretene, steinige Erde bot für den Samen des Springkrauts wenige Möglichkeiten, Wurzeln zu bilden.

      Franz Bertram freute sich auf einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Angelabend.

      Bevor er sein Gepäck heranholte, blieb er einige Augenblicke am Wasser stehen und genoss den Blick über den See bis zum gegenüberliegenden Ufer. Es war fast windstill und der See bot zumindest in Ufernähe eine fast glatte Oberfläche. Lediglich in der Mitte des Sees kräuselte sich das Wasser leicht. Dort beobachtete er eine größere Anzahl unterschiedlicher Entenarten. Er bedauerte es, dass er von seinem jetzigen Standort nicht die beiden Inseln im See sehen konnte, die von einer Unmenge Vögeln und Enten aller hiesigen Arten bevölkert wurden. Lediglich die Vogelstimmen und das Geschnatter der Enten drangen bis zu ihm vor. Er hatte den Eindruck, als ob alle Tiere den zu Ende gehenden Tag verabschieden wollten. Er war mit sich und der Welt zufrieden.

      Energisch riss er sich vom Anblick des Sees los. Er griff in seine Tasche und holte eine alte, blaue Kappe hervor. Da sein Kopfhaar inzwischen dünn und schüttern geworden war, benötigte er eine Kopfbedeckung, die seinen Kopf gegen die nächtliche Kälte schützte. Bis mindestens Mitternacht wollte er angeln. Falls ihm das Anglerglück nicht versagt blieb, vielleicht auch noch die eine oder andere Stunde länger. Einen entsprechend großen Ködervorrat hatte er vorsorglich eingepackt.

      Gut gelaunt begann er, seinen Angelplatz einzurichten. Er öffnete den Werkzeugkoffer, damit er, falls erforderlich, das nötige Werkzeug schnell zur Hand hatte, und stellte ihn neben seinen Stuhl. Aus seiner Angeltasche nahm er den Kescher, fuhr die Teleskopstange aus, sodass der Kescher eine Länge von fast zwei Metern erreichte, und legte ihn ebenfalls in Reichweite auf den Boden. Dann begann er, seine Angeln herzurichten. Durch seine jahrelange Routine konnte er bereits nach wenigen Minuten die erste Angel auswerfen. Er kurbelte die Angelschnur ein kurzes Stück ein, sodass sie gerade gespannt auf der Wasseroberfläche lag. Am Ende der Angelschnur, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, hatte er den Schwimmer postiert, der unbewegt, aufrecht aus dem Wasser ragte und ihm den Biss eines Fisches anzeigen würde. Jetzt noch die zweite Angel auswerfen und den Bissanzeiger vier, fünf Meter daneben postieren, und der gemütliche Teil des Tages konnte beginnen.

      Inzwischen wurde es immer dämmriger. Und mit der zunehmenden Dunkelheit verbreitete sich vom See aus auch eine unangenehme Feuchtigkeit. Franz kannte das und hatte sich mit entsprechend warmer Kleidung und Schuhwerk versorgt.

      Er holte seine beiden Posen ein, um sie gegen Posen mit einem Knicklicht zu tauschen. Seinem kleinen Koffer entnahm er ein kleines Kunststoffstäbchen, das mit zwei unterschiedlichen Chemikalien gefüllt war. Er knickte das Stäbchen, wodurch der Glasbehälter im Inneren brach und die beiden Flüssigkeiten sich vermischten. Durch die dadurch einsetzende chemische Reaktion entstand ein Leuchten, das mehrere Stunden anhalten würde. Das leuchtende Stäbchen befestigte er an der dafür vorgesehenen Stelle am oberen Ende des Bissanzeigers. Die auf diese Art neu präparierte Angel warf er wieder aus. Auch bei völliger Dunkelheit konnte er jetzt die Reaktion des Schwimmers bei dem Biss eines Fisches verfolgen und entsprechend reagieren. Zufrieden schaute er über den See, griff sich ein mitgebrachtes altes Handtuch und trocknete seine Hände daran ab.

      Heute beabsichtigte er, einige Aale an Land zu ziehen. Bisher hatte er noch kein Glück gehabt – weder ein Aal, noch ein sonstiger Fisch hatte angebissen. Er war deswegen nicht enttäuscht, denn er wusste, die Hauptbeißzeit der Aale würde noch kommen. Die günstigste Fangzeit für Aale war die Dämmerung, vor allem aber die Nacht.

      Bevor sich die Dunkelheit endgültig über den See legte, genoss er es, weiterhin die Natur zu beobachten, wobei er mit einem Auge immer seine leuchtenden Knicklichter beobachtete. Die Laute der Tiere ließen allmählich nach, bis sie plötzlich, als wäre ein unhörbarer Befehl ergangen, ganz verstummten. Eine gespenstische Ruhe breitete sich über den See aus. Gleichzeitig war es fast übergangslos stockfinster geworden. Die Wasseroberfläche war jetzt so glatt wie eine Glasscheibe, zumindest der Teil, den er noch erkennen konnte. Die dünne Sichel des Mondes konnte gegen die Finsternis nichts ausrichten. Durch die Windstille wurden keine Geräusche des nahe gelegenen Autobahndreiecks St. Augustin-West herangetragen. Es war eine lautlose Nacht – es war totenstill.

      Die leuchtenden


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