Totenstille am See. Heribert Weishaupt
Stuhl näherten, mit Brotkrumen zu füttern. Wenn er unbewegt auf seinem Angelstuhl saß, kamen sie bis unter seinen Stuhl, schnappten sich eine Brotkrume, um dann wieder in Windeseile zwischen den Stängeln des Springkrautes zu verschwinden.
Er öffnete die dritte Flasche Kölsch und trank einen kräftigen Schluck. Er hatte noch zwei weitere als Reserve in seiner Angeltasche. Wenn Ingrid, seine Frau, das sähe, würde es wieder ein Donnerwetter geben. Vor einigen Tagen, als sie wieder einmal stritten – und sie stritten meistens wegen seines Alkoholkonsums – bezeichnete ihn Ingrid als elenden Alkoholiker. Auch missbilligte sie, dass er nach mehreren Flaschen Kölsch, die er regelmäßig am See trank, mit dem Wagen nach Hause fuhr. Wie oft hatte sie ihm gepredigt, doch sein Fahrrad für die kurze Strecke zu benutzen. Aber er sah das völlig anders. So schlimm stand es um ihn wegen der einen oder anderen Flasche Bier nicht. Und mit dem Fahrrad die sperrige Angeltasche zu befördern, war ihm zu beschwerlich. Da war die kurze Fahrt mit dem Wagen wesentlich bequemer. Zudem fuhr er nach Hause nur über Nebenstraßen und „Schleichwege“, wie er sich auszudrücken pflegte. Dort würde ihm mitten in der Nacht kein Auto begegnen – schon gar nicht ein Streifenwagen der Polizei.
Es war aber nicht nur der Alkohol, weswegen sie stritten. Sie stritten fast täglich über irgendwelche Kleinigkeiten – und Franz hatte längst eingesehen, dass seine Ehe kaputt war. Nur einen Schlussstrich ziehen, konnte er noch nicht.
Wahrscheinlich lag Ingrid bereits im Bett und schlief fest. Sie würde daher nicht bemerken, dass er ein paar Bier getrunken hatte, wenn er in einigen Stunden nach Hause kam.
Es war bereits weit nach dreiundzwanzig Uhr, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Höchstwahrscheinlich ein größeres Tier. Womöglich eines dieser Nutrias, mutmaßte er. Dieses große Nagetier hatte sich vor Jahren hier am See, und in der unmittelbar neben dem See vorbeifließenden Sieg, angesiedelt. Kurz drehte er sich um, denn er wollte seine leuchtenden Posen nicht unnötig lange aus den Augen verlieren. Nichts.
Doch da wieder ein Geräusch, dieses Mal ganz in der Nähe, direkt hinter ihm. Erneut wandte er seinen Kopf nach hinten. Wie von Geisterhand wurden die Stängel des Springkrauts zur Seite geschoben und nur schemenhaft konnte er eine menschliche Gestalt in der Dunkelheit erkennen, die sich durch das Springkraut bis an den Rand seines Angelplatzes drängte. Franz fasste blitzschnell seine Taschenlampe, die er sofort verfügbar neben seinen Angelkoffer gelegt hatte und richtete den Strahl direkt auf den unerwarteten Besucher. Mit der anderen Hand ergriff er sein Anglermesser, das er griffbereit auf seinem kleinen Koffer platziert hatte und sprang auf.
Als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe das Gesicht des ungebetenen Gastes erhellte, erkannte er die Person, die mit einer schwarzen Hose, einer schwarzen Jacke, sowie einem Schal und einer tief in die Stirn gezogenen Mütze bekleidet war.
„Du? Was willst du denn hier am See?“, rief er völlig überrascht aus.
Seine Stimme schallte durch die lautlose Nacht. Aber niemand würde durch seinen Ausruf erschreckt werden, denn er war heute wieder einmal der einzige Angler am See. Durch die großen Kormorankolonien, die häufig über den See herfielen und den Fischbestand erheblich reduzierten, war der Sieglarer See in Anglerkreisen nicht besonders beliebt. Die meisten Angler bevorzugten den wesentlich fischreicheren Rotter See.
„Mach das Licht aus und setz dich wieder hin. Wir müssen reden“, forderte ihn die Person eindringlich auf.
„Wir haben nichts miteinander zu reden. Schon gar nicht hier am See“, entgegnete Franz Bertram aufgebracht.
In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen das gezückte Messer sprang er auf seinen unwillkommenen Besucher zu, um ihn von seinem Angelplatz zu drängen, auch wenn der Besucher wegen des Messers in Franz Bertrams Hand Schlimmeres befürchtete.
Sein Angelstuhl kippte dabei um und fiel auf seinen kleinen, geöffneten Koffer, der ebenfalls scheppernd umfiel. Der Inhalt verstreute sich über die leicht abschüssige Angelstelle. War es sein Kreislauf, der durch das plötzliche Hochspringen außer Kontrolle geriet, oder war es der Bierkonsum? Im Nachhinein würde es letztlich nicht feststellbar sein, was der Grund für sein Taumeln war.
Statt in Richtung der Person, torkelte er rückwärts, verlor das Gleichgewicht vollends und stürzte in den See, der zu dieser Jahreszeit viel zu kalt für ein Bad war. Der See war an dieser Stelle bis ein, zwei Meter vom Ufer entfernt noch nicht sehr tief. Franz ruderte kräftig mit den Armen. Er zog seine Beine an, um sich aufzurichten und schnell aus dem kalten Wasser zu gelangen. Überraschend gewandt gelangte er in eine sitzende Position. Und schon ragten sein Kopf und seine Schultern aus dem Wasser.
„Jetzt nach vorne beugen und aus dem See heraus. Dann werde ich dir zeigen, dass man so mit einem Franz Bertram nicht umgehen kann“, dachte er.
Plötzlich erhielt er einen Stoß gegen die Brust und fiel erneut rückwärts in den See. Das kalte Wasser schwappte über sein Gesicht und lief in seinen um Luft ringenden, geöffneten Mund. Er schloss seinen Mund und musste mehrmals schlucken, um ihn vom Seewasser zu befreien.
Er wollte sich erneut aufrichten. Ein starker Druck auf seine Kehle verhinderte jedoch, dass er seinen Kopf aus dem Wasser heben konnte. Angst und Panik machte sich bei Franz breit. Sein Sauerstoffvorrat war beinahe erschöpft.
Mit aller Kraft, die ihm seine Panik verlieh, versuchte er erneut, sich gegen den Druck auf seiner Kehle zur Wehr zu setzen, und den Kopf über Wasser zu bekommen. Er ruderte mit den Armen und versuchte mit den Beinen Halt zu finden. Vergeblich.
Inzwischen hatte sich seine dicke Kleidung, die ihn gegen die Kälte schützen sollte, mit Wasser vollgesogen. Wie eine Bleiweste hingen die Kleidungsstücke an ihm. Er musste seinen Kopf unbedingt über Wasser bekommen, egal wie.
Sollte das sein Ende sein?
Vor seinen Augen tanzten Sterne. Seine Lunge schien zu zerbersten. Er musste seinen Mund öffnen und nach Luft schnappen. Unbedingt. Als er den Mund öffnete und seine Lungen gierig Sauerstoff einsaugen wollten, erreichte nur ein Schwall Wasser seine Lunge und seine Bronchien. In seinem Kopf platzte nacheinander Stern um Stern, bis nur noch ein grelles, weißes Licht vorhanden war.
Aber auch dieses Licht erlosch. Franz Bertram nahm nicht mehr wahr, dass sich der Druck auf seine Kehle verringerte und schließlich ganz verschwand.
„Das hast du nun davon“, flüsterte die dunkel gekleidete Gestalt.
Der nächtliche Besucher schaute zufrieden über den See, ohne Franz Bertram eines weiteren Blickes zu würdigen. Den Kescher, mit dessen Griff er Franz Bertram unter Wasser gedrückt hatte, hielt er noch immer am Ende der Teleskopstange, dort wo das Netz begann, in der Hand. Mit der Sicherheit, dass ihn niemand beobachtet hatte, drehte er sich ruhig um und verließ den Angelplatz. Den Kescher, der als Beweisstück gegen ihn verwandt werden könnte, nahm er zu seiner Sicherheit mit.
Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich die Pose mit dem Knicklicht in Zickzack-Linie über die ruhige Wasseroberfläche, bevor der Aal sie mit einem Ruck unter Wasser zog. Er hatte sich am Haken festgebissen und niemand war da, ihn zu erlösen.
2. Kapitel
Auf Zehenspitzen schlich ich vom Schlafzimmer die Treppe hinunter zum Hausflur und von dort in den Keller, um meine Laufschuhe zu holen.
Bereits im Schlafzimmer hatte ich möglichst geräuschlos meine Laufbekleidung angezogen. Meine Frau, mit der ich bereits über dreißig Jahre verheiratet war, sollte weiterschlafen können. Laut Wetterbericht sollten die Temperaturen in der Nacht erstmals unter 10 Grad gesunken sein. Ich hatte daher lange Leggings und ein wärmendes Laufshirt mit langem Arm ausgewählt. Nochmals hoch zum Schlafzimmer und ein Blick zum Bett. Meine Frau schlief noch fest. Auf dem Rückweg würde ich beim Bäcker vorbeilaufen und Brötchen für das Frühstück mitbringen. Ich hegte insgeheim die Hoffnung, dass meine Frau bis dahin aufgewacht sei und mich köstlicher Kaffeeduft empfangen würde.
Nachdem ich die Schuhe wie immer sorgfältig geschnürt hatte, steckte ich noch zwei Euro für die Brötchen ein und zog leise die Haustüre hinter mir zu.
Auch