Totenstille am See. Heribert Weishaupt
Ein kurzer Druck auf die Stoppuhrtaste meiner Armbanduhr, und der Frühsport konnte beginnen.
Gestern war es spät geworden, und vielleicht hatte ich auch ein Glas Wein zu viel getrunken. Mit leichten Kopfschmerzen war ich recht früh aufgewacht. Einschlafen konnte ich nicht mehr. Ich hatte mich daher für eine früh-morgendliche Laufrunde in der Siegniederung entschieden. Joggen in frischer Luft würde bestimmt meine Kopfschmerzen vertreiben.
Der Weg führte mich durch die noch menschenleeren Wohnstraßen bis zum Hochwasserschutzdamm der Sieg. Von dem erhöhten Damm hatte ich einen weiten Blick über die herrliche Auenlandschaft. Über den Wiesen und Feldern hing noch ein leichter Nebelschleier, der sich jedoch in Kürze auflösen würde. Ich folgte dem Schutzdamm bis zur Höhe des Sportplatzes der Fortuna Müllekoven. Hier verließ ich den Damm und orientierte mich in Richtung Siegufer. Dort begann mein Rückweg über einen Feldweg entlang der Sieg.
Ich freute mich bereits auf einen Schlenker um den Sieglarer See, den ich fest eingeplant hatte. Ich liebte die morgendliche Stille und die noch unberührte Natur am See. Außerdem kam der weiche Boden dort meinen Gelenken zugute. Am Südost-Ufer hatte der See eine Furt, wo er mit der direkt vorbeifließenden Sieg verbunden war. Der Fluss führte heute nur mäßig Wasser, und der grobe Kies in der Furt war zwar nass, aber die Furt ohne Probleme passierbar.
Der See lag jetzt verträumt in der morgendlichen Stille vor mir. Lediglich die Enten gackerten bereits in den noch über den See liegenden Nebelschwaden. Im nördlichen Teil des Sees hatte sich der Nebel bereits vollständig gelichtet und die ersten Sonnenstrahlen brachen sich im spiegelglatten Wasser.
Ich war verschwitzt, und da ich mein Lauftempo beim Durchqueren der Furt gedrosselt hatte, wurde mir zunehmend kalt. Hätte ich doch nur ein noch dickeres Wintershirt angezogen, haderte ich mit mir.
Langsam erhöhte ich wieder mein Tempo, jedoch nur so viel, dass ich den Blick über den See genießen konnte, ohne Gefahr zu laufen, über einen Stein oder einer Wurzel zu straucheln. Ich befand mich inzwischen am nördlichen Ende des Sees und musste jetzt den direkten Uferweg verlassen. Noch ein kurzer Blick zum gegenüberliegenden Ufer. Dort ragen hohe Bäume und dichtes Springkraut in den Himmel. Aber es gab auch den ein oder anderen versteckten, kleinen Angelplatz, der nur von dieser Uferseite einzusehen war.
Zu dieser frühen, morgendlichen Herbstzeit hatte ich in der Vergangenheit nur selten einen Angler gesichtet. Doch heute schien sich ein Angler bereits in einer kleinen Bucht auf der gegenüberliegenden Uferseite eingerichtet zu haben. Der See war an dieser Stelle nicht sehr breit. Aus der Entfernung konnte ich daher recht gut verschiedene Gegenstände, wie einen Anglerstuhl und eine große Tasche erkennen. Vor der Bucht drehte ein Schwan seine Kreise. Hin und wieder steckte er seinen Kopf ins Wasser und entfernte sich langsam vom Ufer. Die Angelstelle schien verlassen zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass hier aktiv geangelt wurde.
Mein Gefühl sagte mir: Irgendetwas stimmte nicht. Meine Schritte verlangsamten sich, bis ich schließlich anhielt. Ich suchte das Ufer mit meinen Augen ab. Einen Angler konnte ich nirgendwo ausmachen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, meinen Lauf fortzusetzen. Immer wieder strengte ich meine Augen an, um Details zu erkennen. Lag da nicht etwas Größeres im Wasser? Vielleicht ein Stück eines Baumstammes, das dort im Wasser vermoderte? Nein, ein Baumstamm war das nicht. Es schien fast so, als wenn zwei Füße und zwei Beine an Land lagen und der restliche Körper im Wasser. Konnte das womöglich ein Mensch sein?
Mit einem Male war ich mir sicher – dort lag jemand im Wasser.
Ich musste dorthin. Bestimmt war ich die einzige Person, die sich zu dieser Zeit am See aufhielt und helfen konnte. Meine Beine setzten sich augenblicklich in Bewegung und nahmen den unterbrochenen Lauf wieder auf. Nur mit dem Unterschied, dass mein Lauftempo jetzt wesentlich höher war. Ich geriet zunehmend ins Schwitzen. Die vorher noch empfundene Kälte war verschwunden.
Am Ende des Sees bog ich in einen kleinen Pfad ein, der zunehmend holpriger wurde. Große Steine wechselten sich mit dicken Ästen ab, die über den Pfad lagen. Der Weg forderte meine gesamte Aufmerksamkeit, um nicht hinzufallen. Hin und wieder schlugen Äste in mein Gesicht und hinterließen Kratzspuren, die durch den eindringenden Schweiß brannten. Auf den Weg zu achten und gleichzeitig nach oben zu schauen, um den Ästen auszuweichen, funktionierte nicht.
Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich wahrscheinlich Erste Hilfe leisten müsse, wenn dort ein Mensch im Wasser lag. Mein Tempo wurde schneller.
Wie lange lag mein Erste-Hilfe-Kurs bereits hinter mir. Vierzig Jahre oder noch länger? Zu meiner Führerscheinprüfung, so mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren, hatte ich einen Kurs belegt, erinnerte ich mich. Von damals hatte ich bestimmt nichts mehr behalten. Stabile Seitenlage, wie war das noch? Allmählich stieg Panik in mir auf. Wie sollte ich helfen, wenn ich nicht mehr wusste, wie?
Inzwischen hatte ich das Nordufer des Sees passiert, ohne auf diesem Stück des Weges den See nochmals zu Gesicht bekommen zu haben. Der Weg wurde jetzt besser. Steine und Äste waren nicht mehr vorhanden, dafür säumten die hohen Stängel des drüsigen Springkrautes den Wegrand und der Weg wurde schmaler. Der nächtliche Tau hatte ihn stellenweise sehr rutschig gemacht und ich konzentrierte mich weiterhin auf meine Schritte.
Irgendwo war hier die Angelstelle. Als ich um eine Wegbiegung lief, erreichte ich einen breiten Wanderweg. Nein, hier war ich auf dem falschen Weg. Ich war bestimmt an der Angelstelle vorbei gelaufen.
Ich drehte mich um und ging jetzt langsam zurück, den Blick immer nach rechts zum See gerichtet.
Dann sah ich einige Meter vor mir die gesuchte Stelle. Das Springkraut war niedergetreten, und als ich zwischen das Springkraut trat, lag der See vor mir. Ich stand schwitzend inmitten der hochragenden Stängel des asiatischen Krautes, dessen süßlicher Duft mir in die Nase stieg und mich zum Niesen reizte.
Im Unterbewusstsein nahm ich wahr, dass am Ufer ein umgekippter Anglerstuhl und ein ebenfalls umgekippter Anglerkoffer lagen. Der Inhalt war über den gesamten Angelplatz verteilt. Mehrere Flaschen Kölsch lagen verstreut umher. Wie es den Anschein hatte, waren alle leer.
Dann fiel mein Blick auf zwei große Stiefel, die aus dem Wasser ragten. Die restliche dazugehörige Gestalt lag völlig unter Wasser. Ihre Kleidung war vom Wasser aufgebläht. Der Körper wirkte dadurch westlich kompakter, als er wahrscheinlich tatsächlich war. Es war ein Mann, der auf dem Rücken im Wasser lag. Das Gesicht konnte ich nicht genau erkennen.
Aufgeregt lief ich die letzten Meter bis zum Wasser. Meine Füße stießen dabei gegen einige der vielen umherliegenden Gegenstände.
Ich beugte mich zu der reglos im Wasser liegenden Gestalt hinunter. Zwei leblose Augen starrten mich an. Das Gesicht strahlte eine gewisse Überraschung oder vielleicht auch Ärger aus. Angst konnte ich nicht erkennen. Die Haut wirkte aufgeschwemmt und es schien, als ob alles Leben aus dem Gesicht gewichen war und einem farblosen, leicht bläulichen Schimmer Platz gemacht hatte. Womöglich lag der Mann bereits länger im Wasser. Die Arme waren vom Körper abgewinkelt, als ob er die Balance im Wasser suchte.
Mir war schlagartig klar: Hier kam jegliche Erste-Hilfe zu spät. Der Mann war tot.
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, der nicht von der morgendlichen Frische herrührte. Was sollte, nein, was musste ich jetzt unternehmen?
Natürlich, die Polizei informieren. Aber wie? Ein Handy hatte ich wieder einmal nicht dabei. Ich ärgerte mich darüber. Wie oft hatte meine Frau zu mir gesagt: „Nimm dein Handy mit. Du weißt nie, was passiert. Vielleicht verletzt du dich. Dann kannst du mich wenigstens anrufen, und ich kann dich mit dem PKW holen.“
Vorsichtig bewegte ich mich in Richtung des Weges zurück. Ich wollte mit keinem Fuß gegen einen der umherliegenden Gegenstände oder Flaschen stoßen.
Es gab nur eine Möglichkeit. Ich musste so schnell wie möglich nach Hause laufen und von dort die Polizei informieren. Mir war klar, dass ich dieses Vorgehen der Polizei gegenüber ausführlich erklären musste. Darüber wollte ich mir im Augenblick keine weiteren Gedanken machen. Womöglich traf ich aber auch einen Spaziergänger, der sein Handy dabei hatte, und der die Polizei anrufen könnte. Ich wählte die Richtung bis zu dem breiten