Totenstille am See. Heribert Weishaupt
Zeit am Sonntagmorgen unterwegs.
Ich lief weiter bis zu den ersten Häusern der „Schwarzen Kolonie“ im Ortsteil Friedrich-Wilhelms-Hütte. Ihren Namen verdankt sie den schwarzen Dachziegeln der Häuser, die Louis Mannstaedt um 1912 für seine Arbeiter bauen ließ. In den letzten Jahrzehnten hatten die Bewohner die Häuser liebevoll restauriert. Seit längerer Zeit standen sie unter Denkmalschutz.
An diesem Sonntagmorgen wirkten die Häuser noch verschlafen, und die engen Straßen waren menschenleer. Lediglich einem älteren Mann mit seinem Hund begegnete ich. Leider hatte er kein Handy dabei und wie er sagte, wohnte er fünfzehn Minuten von hier entfernt. Also auch keine Hilfe.
Sollte ich irgendwo an einer Haustüre klingeln? Da es nur noch fünfhundert Meter bis zu mir nach Hause waren, entschied ich mich dagegen. Die wenigen Minuten, die ich bis nach Hause noch benötigte, würden am Sachverhalt nichts ändern.
Völlig außer Puste und erschöpft drückte ich den Klingelknopf bei mir zu Hause. Natürlich hatte ich wie immer keinen Haustürschlüssel dabei. Gleichzeitig fiel mir plötzlich völlig unpassend ein, dass ich die Brötchen vergessen hatte.
„Wie siehst du denn aus. Du bist ja total fertig“, empfing mich meine Frau, als sie mir die Haustüre öffnete.
„Da kannst du sicher sein. Ich bin fertig. Am See liegt ein Toter – ertrunken“, stammelte ich außer Atem.
„Ich rufe die Polizei an!“ und schon eilte ich durch den Flur ins Wohnzimmer zum Telefon.
Meine Frau stand wie versteinert im Hausflur und sah entgeistert hinter mir her.
Als ich den Telefonhörer ans Ohr hielt und mich umdrehte, sah ich, dass meine dreckigen Laufschuhe Spuren auf den Fliesen im Flur und auf dem Teppich im Wohnzimmer hinterlassen hatten.
Ich wählte die Notrufnummer 110. Es meldete sich ein Mann mit einer freundlichen Stimme, der fragte, wie er mir helfen könne. Als Erstes nannte ich meinen Nachnamen. Vor Aufregung fiel mir fast mein Vorname nicht ein, den ich nach einem tiefen Atemzug hinzufügte.
Meine Frau stand inzwischen neben mir und hörte mit fragendem Blick zu, was ich wohl dem Polizisten am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte.
„Am Sieglarer See liegt ein Toter“, fuhr ich dann aufgeregt fort und musste nach diesem Satz erneut tief durchatmen.
„Ja, den habe ich gerade gefunden.“
„Nein, ich kann nicht dort bleiben, weil ich schon wieder zu Hause bin.“
„Ja, ich habe den See verlassen. Ich konnte sie von dort nicht anrufen, da ich kein Handy dabei hatte.“ „Nein, ich bin kein Spaziergänger, ich bin Jogger. Auf meiner Runde am See entlang habe ich den Toten gefunden.“
„Nein, ohne Zweifel, der Mann ist tot.“
„Was, ich soll wieder zum See zurück? Ich bin total kaputt. Ich kann nicht nochmals dorthin laufen.“
„Ja, natürlich habe ich ein Auto.“
„Ja, okay, ich fahre zum Parkplatz und gehe dann das letzte Stück bis zum See.“
„Bis dann. Ich fahre sofort los“, beendete ich den Dialog.
„Du musst wieder zum See?“, fragte meine Frau, als ich den Hörer aufgelegt hatte.
„Was ist denn eigentlich geschehen?“
„Ich habe am See einen toten Angler gefunden. Ich muss noch einmal zum See. Die Polizei erwartet mich dort. Vielleicht kann ich dir später mehr erzählen, wenn ich wieder zurück bin – aber das kann bestimmt einige Zeit dauern. Warte nicht mit dem Frühstück auf mich. Oder willst du vielleicht mitfahren?“
„Um Himmels willen, nein. Ich mag diese Aufregung am frühen Morgen nicht“, rief sie mir hinterher, denn ich war bereits auf dem Weg zur Garage.
Meine Gedanken schwirrten durcheinander.
„Ein Toter am See. Ein Unfall? – oder vielleicht auch nicht?“
Und ich war mitten drin, in den Ereignissen.
3. Kapitel
Kriminalhauptkommissar Frank Eisenstein stand in der Mitte des Wohnzimmers. Noch war der Raum leer. Während er sich um sich selbst drehte, füllte sich der Raum in seiner Vorstellung mit Mobiliar und harmonischen Accessoires. Bereits jetzt empfand er eine heimelige Atmosphäre. Der Makler hatte ihm diese Wohnung in Troisdorf-Bergheim wärmstens empfohlen, und auch der Mietpreis war für den Großraum Bonn durchaus angenehm. Die Wohnung gefiel ihm recht gut. Nur mit dem Gedanken, künftig in diesem beschaulichen Ort zu wohnen, konnte er sich noch nicht abfinden. Von der Großstadt in einen kleinen Stadtteil von Troisdorf zu ziehen, auch wenn es nur wenige Autominuten bis Bonn waren, war ein Schritt, der gut überlegt sein musste.
Eisenstein war vor zwei Monaten nach Bonn versetzt worden. Ein Grund für Eisensteins Versetzung war nicht allein die Beförderung zum Kriminalhauptkommissar und der damit verbundenen Besoldung nach A 12 des Bundesbesoldungsgesetzes gewesen, sondern vor Allem wollte er mit seiner Freundin zusammenleben.
Im Frühjahr lernte er Inka bei einem Türkeiurlaub kennen. Kurze schwarze Haare und als Anfang-Vierzigerin eine tadellose Figur waren die Kriterien, die Eisenstein zuerst ins Auge gefallen waren. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war er mehr und mehr von ihrer Ausstrahlung, ihrer ansteckenden Fröhlichkeit und auf der anderen Seite von der Ernsthaftigkeit der Gespräche, die er mit ihr führen konnte, angetan. Aus dem anfänglichen Urlaubsflirt wurde mehr. Der Altersunterschied von etwas mehr als zehn Jahren störte beide nicht. Sie liebten und respektierten sich. Eisenstein hätte nicht erwartet, dass er nach seiner zweiten Scheidung vor vier Jahren nochmals zu einer Beziehung fähig war. Inka war eine einfühlsamere Frau, als seine beiden Frauen vorher. Sie akzeptierte es, dass ihr Freund berufsbedingt wenig und unregelmäßig Freizeit hatte. Ihm hingegen war klar, dass Inka nicht ihre Stelle bei der Stadt Bonn aufgeben und zu ihm nach Duisburg ziehen würde. Daher war der Anfang ihrer Beziehung auf die Wochenenden beschränkt, an denen sie sich abwechselnd bei ihm oder in ihrer Wohnung in Bonn-Pützchen, einem kleinen rechtsrheinischen Vorort von Bonn, trafen.
Eine Wochenendbeziehung war auf Dauer für beide nicht akzeptabel. Aus diesem Grund wollten sie in näherer Zukunft irgendwann zusammenziehen.
Die freiwerdende Stelle im Kommissariat Bonn kam ihm gerade recht. Binnen eines Monates wurde sein Versetzungsantrag bewilligt, und seitdem wohnte er bei seiner Freundin. Da die Wohnung gerade einmal 55 qm groß war, galt es als nächsten Schritt eine für beide Seiten akzeptable Wohnung zu finden. Leider hatten sie gegensätzliche Vorstellungen von der Lage einer gemeinsamen Wohnung. Inka bevorzugte die ländliche Gegend, wohingegen er ein Stadtmensch war. Mehrere gute Wohnungsangebote hatten sie inzwischen ausgeschlagen. Er bezweifelte bereits, ob sie jemals übereinkommen würden. Die Vororte von Bonn und die Städte und Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis, die er bisher kennen gelernt hatte, wirkten auf ihn kleinstädtisch, ja fast dörflich. Er würde wohl über kurz oder lang in den sauren Apfel beißen müssen und eine Wohnung in irgendeinem Nest akzeptieren.
Während Eisenstein noch mit sich rang, ob er mit der Lage dieser Wohnung klarkommen würde, war seine Freundin bereits Feuer und Flamme, als sie das Haus gesehen und den ersten Rundgang durch die Räume unternommen hatte. Nur noch drei weitere Mieter im Haus und diese Parterrewohnung mit großer Terrasse und freiem Zugang zum angrenzenden Rasen, auf dem einige große Bäume im Sommer angenehmen Schatten spenden würden, war ihre Idealvorstellung von einer Mietwohnung. Außerdem lag das Naherholungsgebiet der Siegaue direkt vor ihrer Haustüre.
Inka führte ein angeregtes Gespräch mit dem Makler. Eisenstein schlenderte in Gedanken vertieft durch den Raum. Sein Handy klingelte. Mehrmals ignorierte er den nervigen Klingelton. Letztendlich griff er dann doch in seine Jackentasche und holte das Handy hervor.
Bereits im Display sah er, dass es seine Dienststelle war.