Herbstnebel. Heribert Weishaupt
enge Hosen bevorzugt. So hatten sie zumindest das Gefühl, der Oberschicht ein wenig näher zu sein.
Alle gafften die junge Frau am Schandpfahl an. Die Frauen schauten voller Verachtung, die Männer eher gierig, obschon das ungepflegte Aussehen der Frau nicht gerade ansprechend war. Hatte sich doch das Gerücht verbreitet, dass sie in mehreren Fällen einen verheirateten Mann verführt hatte. Manch einer der Männer dachte sicherlich mit Blick auf seine Gattin: Hätte sie doch nur mich verführt, ich hätte nichts dagegen gehabt.
Möglichst unauffällig reckten die Frauen ihre Hälse. Nein, der von diesem Weibsstück verführte Ehemann und dessen Frau waren nirgendwo zu sehen. Dieser Umstand war natürlich Anlass zu unüberhörbarem Getuschel und Nährboden für Vermutungen und Gerüchte, insbesondere unter den Damen des Ortes. War es vielleicht doch nicht nur eine einfache, unsittliche Verführung, sondern steckte vielleicht mehr dahinter – vielleicht sogar Liebe?
Als die Glocken verstummten, baute sich der Richter vor der Frau auf. Wie auf ein unsichtbares Zeichen erstarb jedes Gespräch und Getuschel. Der Richter schaute sich Beifall heischend um und ergriff das Wort: „Dieses Kind unserer Stadt hat schweres Unrecht begangen. Eindeutig, durch mehrere Zeugen belegt und letztendlich auf frischer Tat überführt, hat sie sich mehrmals der Prostitution schuldig gemacht. Ihr Lieben, lasst uns in die Kirche gehen und für die verführte Seele unseres lieben Mitbürgers und Freundes beten. Nach dem Gottesdienst wird die gerichtlich beschlossene Anprangerung beginnen.“
Damit drehte er sich um und schritt gemessenen Schrittes zum Kirchenportal. Die Gemeinde folgte gehorsam und leise murmelnd in gebührendem Abstand.
Die Frau hatte den Kopf gesenkt, denn sie wusste was in Kürze auf sie zukam. In ihrem Kopf gingen immer wieder die gleichen Gedanken herum: Wieso wurden nur immer die Frauen bestraft, wenn sie einem Mann und dem Ruf der Liebe folgten? Die Männer hatten alle Freiheiten und Entschuldigungen auf ihrer Seite und gingen dabei grundsätzlich straffrei aus. War das Gerechtigkeit?
Sie galt jetzt als „öffentliche Frau“ – als Prostituierte. Man würde sie verspotten, beleidigen und anspucken. Sogar Freunde würden sie mit Unrat bewerfen. Bei dessen Wahl waren die Bürger durchaus kreativ und nicht zimperlich. Faule Eier, verfaultes Obst und Salatköpfe waren als Wurfmaterial üblich. Aber auch Exkremente und tote Ratten wurden nicht selten als Wurfgeschosse eingesetzt. Lediglich das Anfassen und Schlagen sowie das Werfen harter Gegenstände war verboten und galt als unehrenhaft. Trotzdem kam es gelegentlich zu „Unfällen“, wenn die Verärgerung der Bürger zu groß war. Manchmal dann sogar mit Todesfolge für den Verurteilten.
Das Gericht hatte für die Anprangerung trotz der Schwere des Vergehens mit Rücksicht darauf, dass es sich um eine zierliche Frau handelte, zwei Stunden festgelegt. Lediglich bei Männern konnte die Strafe in seltenen Fällen vier Stunden und mehr betragen. Die Gerichtsbarkeit war der Meinung, binnen dieser Zeit sei die Schmerzgrenze für die Delinquenten erreicht.
Der Pfarrer hatte schließlich mit seiner aufgeregten und ungeduldigen Gemeinde ein Einsehen. Der Gottesdienst dauerte bei Weitem nicht so lange wie üblich. Vielleicht konnte der Pfarrer auch selbst das bevorstehende Ereignis kaum erwarten, war die Verführung zum Ehebruch doch eine Todsünde und die Anprangerung durchaus die gerechte Strafe dafür.
Der Bürgermeister schritt als Erster durch das, vom Kirchendiener geöffnete, Portal der Kirche in die gleißende Sonne. Dann drängten die Männer, danach die Frauen und Kinder durch die Kirchenpforte …
*
Jemand rüttelte vorsichtig an seiner Schulter.
„Sie müssen jetzt gehen. Wir schließen“, sagte die Bibliothekarin, die leise neben ihn getreten war.
Verärgert hob er den Kopf und schaute die junge Frau vorwurfsvoll, ja fast vernichtend, an. Dabei rutschte ihm das Buch von den Oberschenkeln und polterte zu Boden.
„Ich räume das Buch schon ins Regal. Sie müssen jetzt leider gehen“, flüsterte die Frau, damit niemand der noch vorhandenen Besucher der Bücherei etwas hören konnte.
Sie bückte sich und hob das Buch mit dem Titel „Gerichtsbarkeit vom Mittelalter bis zur Neuzeit“ auf.
Aus dem In-Ear-Kopfhörer seines Smartphones drangen die Stimmen der Folk-Gruppe „Faun“ mit der Ballade „Diese kalte Nacht“ in sein Ohr: „Diese Nacht ist kalt und der Wind, der bläst durch unser Land. Und wer jetzt noch geht, ist ein armer Tor oder auf dem Weg zu der Liebsten, die jede Reise lohnt …“
„Verdammt“, sagte der Mann enttäuscht und verärgert zu sich selbst.
Dabei riss er sich die Kopfhörer aus den Ohren.
Wie gerne hätte er seinen Tagtraum, von dem was er vorher gelesen hatte, zu Ende geträumt und dabei der schönen Musik, die thematisch zwischen Spätmittelalter und Romantik angesiedelt war, gelauscht.
Gerade jetzt, wo die Frau in seinem Traum ihre gerechte Strafe bekommen sollte, wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt.
„Sie können ja gerne morgen wiederkommen“, sagte die junge Bibliothekarin besänftigend.
Sie hatte die Verärgerung des Mannes bemerkt.
Ohne eine Antwort zu geben und ohne die Frau eines Blickes zu würdigen, schritt der Mann zum Ausgang und verließ die Städtische Bücherei.
Teil I
Ich habe sie beobachtet.
Alle ihre Aktivitäten,
die Gemeinsamkeit mit ihrer Tochter,
ihre verwerfliche Beziehung.
Wie kann eine Frau nur so verdorben,
rücksichtslos und gefühlskalt sein?
Kapitel 1
Es war Spätherbst. Viele Bäume hatten bereits ihre Blätter abgeworfen. In den Wäldern, auf den Wiesen und in den Parks lag ein bunter Teppich Herbstlaub. Lediglich Eiche, Esche und Rotbuche trugen noch Restbestände der wunderschön gefärbten Blätter, die den Herbst zu einer bunten und wenn die Sonne auf die Blätter schien, leuchtenden Jahreszeit machten. Aber nur noch wenige Tage und auch diese Bäume würden ihre kahlen Äste in den Himmel recken.
Die Tage wurden merklich kürzer und die Abende und Nächte bereits recht frisch. Wer morgens zur Arbeit fuhr, hörte im Verkehrsfunk häufig die Warnung vor zähem Nebel, der sich erst in den Vormittagsstunden auflösen würde. Dieses Naturschauspiel war den Menschen im Siegtal vertraut und sie hatten gelernt, ihr Leben darauf einzustellen. Abends legte sich der Nebel über den Fluss und über die feuchten Wiesen rechts und links des Ufers. Die wärmenden Strahlen der Sonne waren an manchen Tagen nicht in der Lage, den Nebel bis in Bodennähe vollständig aufzulösen. So konnten die Tage auf den Höhen meistens einige Sonnenstunden aufweisen, im Tal war es dagegen durchgehend trüb.
Es war nicht zu übersehen: Der Herbst lag in den letzten Zügen und der Winter kündigte sich an.
*
Ein kurzer Blick reichte, um festzustellen, dass der Platz, auf dem sie gewöhnlich saß, auch heute Abend frei war. Es waren lediglich einzelne Plätze besetzt. Nur wenige Fahrgäste fuhren an Wochentagen zu dieser Zeit mit der S-Bahn in Richtung der oberen Sieg. Erschöpft ließ sich die junge Frau direkt am Fenster mit dem Gesicht in Fahrtrichtung nieder. Bei einer ihrer ersten Fahrten hatte sie einen Platz gewählt, von dem sie nicht in die Fahrtrichtung blicken konnte. Bereits nach kurzer Zeit hatte sie mit Übelkeit zu kämpfen.
Sie stellte ihre Handtasche auf den Schoß. Es war eine dieser großen Taschen, die man über die Schulter hängen und auch für kleinere Einkäufe nutzen konnte. Sie zog den Reißverschluss auf und nahm eine kleine Flasche Wasser heraus. Es war gerade noch ein Schluck in der Flasche, die sie gierig leer trank. Gerne hätte sie noch mehr getrunken – aber es musste bis zu Hause reichen.
Langsam setzte sich die S-Bahn der Linie 12 in Bewegung, um dann bereits nach wenigen Sekunden volle Fahrt aufzunehmen.