Herbstnebel. Heribert Weishaupt

Herbstnebel - Heribert Weishaupt


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sich wie zu Eis gefroren. Ihr Herz schien stehen zu bleiben.

      „Ganz ruhig und keinen Laut“, forderte sie eine ruhig klingende, männliche Stimme auf.

      Zur Unterstützung dieser Aufforderung bohrte sich der Gegenstand tiefer in ihre Haut. Sie bemerkte, wie eine warme Flüssigkeit an ihrem Hals hinab lief.

      „Geh schneller, wenn ich bitten darf“, flüsterte jetzt sarkastisch die Stimme direkt an ihrem Ohr.

      Die Haare auf ihren Unterarmen richteten sich auf. Sie begann zu zittern. Sie wollte sich zur Ruhe zwingen – aber es misslang.

      „Was … was … wollen …“

      „Kein Wort, habe ich gesagt.“

      Und wieder schien sich der spitze Gegenstand tiefer in ihr Fleisch zu bohren.

      Sie ging so schnell, wie es ihr möglich war. Sie japste nach Luft. Die Messerspitze, und sie war sicher, dass es eine Messerspitze war, blieb fest an ihrem Hals. Sie hatte keine Möglichkeit, den Kopf zu wenden und ihren Angreifer anzusehen.

      In ihrem Kopf ging es zu, wie in einem Bienenstock. Es brummte und summte – sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

      „Jetzt nach links, hinüber zur Burg“, befahl ihr die Stimme.

      Sie überquerten die Straße, die an dieser Stelle durch eine Straßenlaterne beleuchtet wurde und betraten den Burgparkplatz. Kein Auto parkte dort. Manchmal stand hier ein Auto, in dem ein junges Liebespaar saß. Aber heute war kein Wagen zu sehen, keine Menschenseele da, die ihr zur Hilfe kommen könnte.

      Der Mann drängte sie zu einem unbefestigten Fußweg, der durch den Wald zur Burg führte. Mehrfach stolperte sie in der Dunkelheit. Beim ersten Mal war sie froh, dass sie das Messer nicht mehr am Hals spürte. Doch bei jedem Stolpern riss der Unbekannte sie an den Haaren zurück. Jedes Mal schrie sie laut auf. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie brutal er sich verhalten würde, wenn sie hinfallen würde. Ihre Schritte wurden langsamer. Mit einem Male war das Gelände offen und es schien, als wenn sich der Nebel etwas lichtete. Sie kannte sich hier aus und wusste, dass sie an der Stelle waren, wo die beiden steilen Wegbiegungen zum Burggelände hoch führten. Weiter oben zeichnete sich die Silhouette der Burgruine ab.

      Der Mann gebot ihr, stehen zu bleiben. Der Druck des Messers verschwand. Erleichtert, fast dankbar, atmete sie tief ein. In diesem Augenblick des Einatmens legte sich etwas über ihren Mund, das ihr die Zähne auseinanderdrückte und sich tief in ihre Mundwinkel einschnitt. Sie spürte, wie dieses Etwas hinter ihrem Kopf zusammengezogen wurde. Sie konnte kein Wort mehr sagen – sie konnte nicht einmal ihre Zunge bewegen. Auch das Atmen war nur noch durch die Nase möglich. Für einen kurzen Augenblick breitete sich der Geschmack von Gummi oder Leder in ihrem Mund aus. Sie war sich nicht sicher. Dann schmeckte sie nur noch den metallischen Geschmack von Blut – ihrem eigenen Blut.

      „Geh‘ weiter“, flüsterte die Stimme und der Druck des Messers an ihrem Hals war wieder da.

      Da sich die Messerspitze exakt an derselben Stelle wie zuvor in ihre Haut bohrte, wollte sie vor Schmerz schreien. Es kam aber nur ein Würgen aus ihrer Kehle.

      Der Weg war jetzt wieder asphaltiert. Langsam schlurfte sie die beiden Kehren der Straße hoch und sie erreichte völlig außer Atem den Burghof.

      Im Tal hatte der Nebel jedes Licht der Sterne und des Mondes verschluckt. Bis hier oben waren die Nebelschwaden noch nicht in diesem Maße vorgedrungen und der Mond, es war beinahe Vollmond, beleuchtete schemenhaft das Geschehen auf dem Burghof. Der Mann drängte sie, den Burghof zu überqueren. Unter einer mächtigen Buche kurz vor der Burgmauer forderte er die Frau auf, stehen zu bleiben.

      Mit schnellen, festen Griffen packte er ihre Handgelenke, spannte eine Gliederkette darum und zog die Frau mit dem Rücken gegen den Baum. Er zog die Ketten so fest an, dass sie zu keiner Bewegung mehr fähig war. Hinter dem Baum fügte er beide Ketten zusammen und verband sie mit einem Kabelbinder. Danach schritt er vor die Frau und betrachtete selbstgefällig sein Werk. Ihre flehenden, angsterfüllten Augen nahm er in der Dunkelheit nicht wahr.

      Ja, ja, sein Werk war gut gelungen. Er zerrte einen prall gefüllten Rucksack herbei, den er wahrscheinlich irgendwann vorher hinter dem Baum abgelegt hatte. Neben dem Rucksack lag ein großer Felsbrocken. Im Schein des Mondes sah die Frau, dass er den Sack nur wenige Schritte vor ihr abstellte und sich kurz mit dem Inhalt beschäftigte. Er nahm einen Gegenstand heraus und stellte ihn auf die Bruchsteinmauer, die den Burghof umgab. Sie hatte keinerlei Vorstellung, um was es sich dabei handelte. Wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte sie auf ein Stativ mit einer Kamera getippt. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. Es war nicht die Kälte, weswegen die Frau am ganzen Leib zitterte. Sie hatte Angst – Todesangst. Sie ahnte, dass sie der Mittelpunkt der Vorbereitung war und etwas Schreckliches mit ihr geschehen würde.

      Wenn sie gewusst hätte, was auf sie zukommen würde, hätte sie wahrscheinlich bereits vorher das Bewusstsein verloren. So dauerte es für sie noch eine lange Zeit, bis die Ohnmacht und letztendlich der Tod sie erlöste.

      Kapitel 2

      Lisa war froh, als sie ihren Wagen von der Straße auf den Parkplatz an der Burg Blankenberg einlenken konnte. Der Parkplatz lag in einer Kurve der Serpentinen, die hoch zur Stadt führten. Hier im Wald hing der Nebel noch dicht zwischen den Bäumen und Sträuchern und sie wäre fast am Parkplatz vorbei gefahren.

      Vor einigen Wochen hatte sie die Zusage zur Versetzung nach Bonn erhalten. Sie hatte einen Versetzungsantrag von Köln zum Kommissariat in Bonn-Beuel gestellt, da dort im KK 11 eine Stelle freigeworden war und sie in Bonn bessere berufliche Möglichkeiten und Chancen sah. Außerdem wäre sie um einiges näher an ihrem Wohnort Troisdorf und die zermürbenden Fahrten im Berufsverkehr über den Rhein und durch Köln würden entfallen.

      Die wenigen Tage Resturlaub, die sie genommen hatte, wollte sie unter anderem dazu nutzen, sich in Bonn vorzustellen und sich ihren neuen Arbeitsplatz anzusehen. Kurz nach der Zusage stattete sie ihrer neuen Arbeitsstelle aus diesem Grunde einen Besuch ab.

      Obschon sie bereits seit einigen Jahren Kommissarin war, klopfte ihr Herz. Sie war aufgeregt. Heute ging es nicht um Entführung, Brandermittlung oder Bandenkriminalität,sondern heute war ihre Vorstellung beim Leiter des KK 1, dem auch das KK 11 für Tötungsdelikte unterstand.

      „Gehen Sie bitte nach dort drüben zum Aufzug und fahren Sie in den 3. Stock. Der Leiter des KK 1 erwartet Sie“, sagte ihr die freundliche Dame beim Empfang, nachdem sie die Besucherin telefonisch im KK 1 angemeldet hatte.

      Auf dem Weg zum Aufzug versuchte sie, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen, indem sie ihre Gedanken ablenkte und an ihre Tochter dachte. Hoffentlich war ihre Mutter heute mit ihrer Tochter klar gekommen. Sie hatte ihre Mutter gebeten, dafür zu sorgen, dass Nicole, die nicht gerade einfach im Umgang war, rechtzeitig zur Schule kam. Insbesondere bei ihrer Mutter versuchte sie ständig, ihren Willen durchzusetzen, da sie ihrer Meinung nach oft zu nachgiebig mit ihrer Tochter war. Etwas mehr Konsequenz war manchmal angebracht.

      Zu weiteren Gedanken kam Lisa nicht, da ein leises Klingeln des Aufzuges andeutete, dass die dritte Etage erreicht war.

      Auf dem Flur kam ihr ein Mann entgegen. Er war groß und bullig mit einer ausgeprägten Halbglatze. Mit lauter, sonorer Stimme stellte er sich ihr als Leiter des Kriminalkommissariats 1 vor. Er war ihr keineswegs unsympathisch und begleitete sie zu den Zimmern des KK 11. Dort stellte er sie ihren neuen Kollegen mit netten Worten vor und zeigte ihr sowohl ihren Arbeitsplatz als auch anschließend das gesamte Haus. Ihr erster Eindruck war, dass in dem Kommissariat ein gutes Betriebsklima herrschte. Obschon sie überzeugt war, dass Schmitz, so hieß ihr Chef, bei allen Freiheiten, die er seinen Mitarbeitern erlaubte, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen ließ. Als er sich ihr vorstellte, konnte sie sich ein Grinsen wegen des „seltenen“ Namens kaum verkneifen, was er wiederum sofort bemerkte.

      „Ja, ja, grinsen Sie nur. Wir Schmitzen‘s sind immerhin jahrhundertealter, rheinischer Adel. Können Sie das auch von sich behaupten?“, lachte er sie lauthals an.

      Sie


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