Herbstnebel. Heribert Weishaupt
konnte sie sich aber auch vorstellen, dass er im Ernstfall gerecht aber unerbittlich war und seine Vorstellungen und Entscheidungen durchsetzen konnte.
So wie heute hatte Lisa sich ihren ersten Arbeitstag beim Kriminalkommissariat 11 des Bonner Polizeipräsidiums nicht vorgestellt. Kurz vor sieben Uhr rief ihr neuer Chef sie zu Hause an.
„Frau Brenner! Wir haben einen Notfall, den wir schlechthin immer haben: Uns fehlt Personal! So wie ich Sie kennengelernt habe, sind Sie bestimmt eine Frau, die flexibel und belastbar ist und gut improvisieren kann. Ich werfe Sie jetzt ins kalte Wasser. Anstatt hier ins Präsidium, fahren Sie sofort zum Tatort Ihres ersten Falls.“
Nach diesen Worten lachte er aus vollem Hals.
„Dann heißt das, dass ich nicht nur flexibel und belastbar sein muss, sondern auch noch eine gute Schwimmerin?“
„Ja, genau, diese Antwort habe ich erwartet. Nicht lange zetern, sondern das Problem sofort auf den Punkt bringen und anpacken.“
„Okay, wo soll ich hin?“, fragte Lisa, die nun wirklich nicht begeistert war.
Sie ließ sich das aber nicht anmerken.
„Fahren Sie zur Burg Blankenberg. Wahrscheinlich ein Mord.
Alles weitere erfahren Sie von dem Kollegen vor Ort. Mehr weiß ich auch noch nicht“, waren die einzigen Informationen, die er ihr mit auf den Weg gab.
Lisa wohnte in Troisdorf in einer kleinen aber gemütlichen Mietwohnung. Die Fahrt von Troisdorf zur Burg Blankenberg war alles andere als angenehm gewesen. Bereits bei ihrer Abfahrt in Troisdorf war es neblig. Später, als sie im Tal der Sieg entlangfuhr, nahm der Nebel noch zu. Es wirkte, als wäre die gesamte Natur in Watte eingepackt. Ihre Nebelscheinwerfer fraßen sich Kilometer um Kilometer durch die weiße Suppe. Die schlimmsten Augenblicke waren für Lisa immer, wenn ihr ein schwerer LKW auf der kurvenreichen Siegtalstaße entgegenkam. Wie aus dem Nichts tauchten sie manchmal in einer Kurve auf und rasten für die Sichtverhältnisse viel zu schnell an ihr vorbei.
Jetzt stand sie hier auf dem Parkplatz in der Nähe der Burg Blankenberg und schaute sich um. Am Waldrand konnte sie schemenhaft zwei Personen erkennen und ging darauf zu. Es handelte sich um zwei Streifenpolizisten.
„Halt! Wo wollen Sie hin? Hier können Sie nicht durch!“, blaffte einer der beiden sie an.
Lisa zeigte den beiden Polizisten ihren Dienstausweis.
„Mein Name ist Lisa Brenner von der Mordkommission“, sagte sie trotzdem zusätzlich, als wenn sie die Befürchtung hätte, dass die beiden ihren Ausweis nicht lesen könnten.
„Was ist geschehen?“
„Ein Mord“, sagte der größere und jüngere der beiden Männer. Dabei drehte er sich von Lisa weg, als Zeichen, dass er weiterhin keine Auskunft mehr geben wollte.
„Ach, ja? Wie kommen Sie auf Mord?“, fragte Lisa weiter, die gerne etwas mehr gehört hätte.
„Selbstmord ist sicherlich kaum möglich“, beteiligte sich jetzt der andere Polizist am Gespräch.
„Wie soll die Frau sich denn selbst an den Baum gekettet und sich dann selbst den Schädel eingeschlagen haben?“, ergänzte er aufgeregt.
Er war das glatte Gegenteil seines Kollegen: Wesentlich älter, klein, korpulent und anscheinend auch gesprächiger.
„Was Sie nicht sagen“, bemerkte Lisa lediglich.
„Liebe Frau Kommissarin. Trotz meiner vielen Dienstjahre habe ich so etwas noch nicht gesehen. Sie sind noch jung, ist vielleicht Ihr erster, richtiger Mord und ich sage Ihnen, bereiten Sie sich auf einen schlimmen Anblick vor. So etwas werden auch Sie nicht alle Tage sehen. Das geht an die Nieren.“
Dabei schüttelte er unablässig seinen Kopf, als wenn er nicht glauben wollte, was er gesehen hatte.
„Hier, mein Kollege war als Erster am Tatort. Er hat sich übergeben, bis sein Magen total leer war“, fügte er als abschreckendes Beispiel hinzu und wies mit dem ausgestreckten Arm auf seinen jungen Kollegen, der sich inzwischen einige Schritte entfernt hatte.
Dann hob er das Absperrband hoch, um die Kommissarin durchzulassen.
„Vielen Dank“, sagte Lisa abwesend, die aufgrund der Schilderung des Kollegen bereits ein grausiges Bild vor Augen hatte.
Gott sei Dank war die Tote kein Kind. Das wäre der absolute Horror für sie gewesen. Sie dachte dabei an ihre kleine Tochter.
„Wie weit ist es denn bis zum Tatort?“ rief sie, als sie bereits ein Stück gegangen war.
„Immer den Weg nach und dann hoch zur Burg. Ist nicht zu verfehlen“, rief der ältere Polizist ihr hinterher.
Der Weg führte durch einen Wald und es war nicht immer einfach, dem Weg im Nebel zu folgen, obschon sie der Meinung war, hier oben im Wald eine bessere Sicht zu haben, als unten im Tal.
Als sie um eine Biegung kam, sah sie das Licht von mehreren Scheinwerfern, das wie weiße Finger in den Himmel ragte. Nach zwei steilen Kehren betrat sie etwas außer Puste den Burghof. Sie stellte fest, dass sie nicht mehr so in Form war, wie früher. Der Dienst im KK 36 für regionale Kriminalität bestand aus viel Schreibtischarbeit und die Versorgung und Beaufsichtigung ihrer Tochter hatte sie doch mehr, als sie sich eingestehen wollte, vom sportlichen Training abgehalten.
Sie blieb stehen und ließ den Blick über den Burghof schweifen. Die Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung waren bereits eingetroffen. Personen in weißen Overalls arbeiteten in gebückter Stellung oder knieten auf dem Boden mit dem Gesicht direkt über der Erdoberfläche. Drei Polizisten in Uniform standen etwas abseits an einem Streifenwagen und unterhielten sich. Dann liefen noch einige Männer in Jeans, Winterjacken oder Parkas geschäftig umher. Alle hatten eines gemein: alle trugen blaue Überziehschuhe über ihren Straßenschuhen und alle, bis auf die drei Polizisten, hielten sich unterhalb der Krone einer riesigen Buche auf.
Lisa war gespannt, wer der Kommissar war, den sie unterstützen sollte.
Sie schaute unwillkürlich an sich herab. Mit ihren einfachen Lackschuhen, der dünnen Stoffhose und der modischen Regenjacke war sie nicht gerade passend und in erster Linie nicht warm genug gekleidet. Sie merkte bereits, wie die Kälte an ihren Beinen hochkroch.
„Bringen Sie uns eine Thermoskanne mit Kaffee?“, fragte plötzlich eine Männerstimme hinter ihr.
Lisa hatte nicht bemerkt, dass jemand hinter sie getreten war. „Leider nein. Ich soll Sie hier unterstützen. Personalengpass und so, wurde mir gesagt.“
Dabei drehte sie sich zu dem Mann hinter ihr um.
Sie erkannte ihn sofort. Schon immer war sie stolz darauf, dass sie Gesichter, die sie einmal gesehen hatte, mit den dazu gehörenden Namen in Einklang bringen konnte. Daher fügte sie hinzu: „Guten Morgen, Herr Kern.“
„Na, ein guter Morgen ist das hier bestimmt nicht. Und wer sind Sie?“
Ronni Kern war überrascht, dass diese junge Frau seinen Namen kannte. Daher fiel seine Frage barscher aus, als er ursprünglich wollte.
„Mein Name ist Lisa Brenner, Ihre neue Kollegin. Genauer gesagt, seit heute Ihre Kollegin. Bei meiner Vorstellung vor einigen Wochen haben wir uns gesehen.“
„Respekt. Ich hätte Ihren Namen nicht mehr gewusst. Und das mit dem „Herrn Kern“ lassen wir künftig. In unserem Büro duzen wir uns alle. Ich bin Ronni“, dabei streckte er ihr seine Hand entgegen und lächelte sie gewinnend an.
„Prima, ich bin Lisa“, entgegnete sie und drückte seine Hand.
Ronni, mit seiner unkomplizierten Art, war ihr sofort sympathisch. Auch das gewinnende Lächeln, das er jetzt aufgesetzt hatte, gefiel ihr. Hinzu kamen seine gute Figur, seine pechschwarzen, glänzenden Haare und wenn sie dann in sein freundliches Gesicht sah, musste sie sich eingestehen, dass dieser Mann in hohem Maße ihrem Beuteschema entsprach.