Freitod. Heribert Weishaupt

Freitod - Heribert Weishaupt


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es vorbeigehen würde. Endgültig.

      Irgendwann war es vorbei. Er hatte das Zimmer verlassen und sie hörte, wie er den Fernseher einschaltete. Abartig!

      Dann klingelte es und sein Freund kam.

      Er bot sie an wie eine Prostituierte. Die Erniedrigung war schlimmer als die Schmerzen, die er ihr zuführte.

      Hämisch sagte er: „Als Lohn für deine Dienste.“

      Dann tätschelte er ihre Wange und löste ihr als Belohnung die Fessel einer Hand.

      Danach war nichts mehr so, wie vorher. Sie war wie gelähmt und konnte nicht aufstehen. Sie löste die Fessel der anderen Hand, hielt den Kopf aus dem Bett und erbrach sich.

      In ihrem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie hatten sich doch einmal geliebt. Wie konnte es so weit kommen? Hätte sie das vorhersehen müssen? Hatte sie die Signale einfach nicht bemerkt oder hatte sie sie ignoriert? Womöglich war sie selbst schuld? Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war – ein unmögliches Vorhaben.

      Ein Gedanke kristallisierte sich heraus: Sie musste hier heraus, einfach nur weg.

      Sie erhob sich und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Sie kleidete sich so schnell wie möglich an, öffnete die Tür zum Wohnzimmer, durchquerte es und rannte aus der Wohnung. Sie hörte nicht die obszönen Worte, die Mike und sein Freund hinter ihr herriefen.

      Schweißnass erreichte sie ihr Auto, startete den Motor und fuhr los. Sie hatte kein Ziel, sie wollte nur weg. Wohin war ihr gleich. Sie bog rechts ab, dann links ab, dann noch einmal links ab. Sie fuhr zu schnell. Die Ampel, die Rot zeigte, übersah sie. Zum Glück waren um diese Uhrzeit kaum Fahrzeuge unterwegs. Manchmal verschwamm die Fahrbahn vor ihren tränenvollen Augen.

      Sie war völlig durcheinander.

      Die Energie, die sie aufgebracht hatte, als sie die Wohnung fluchtartig verließ, war verpufft. Eine maßlose Traurigkeit und Selbstzweifel machten sich breit. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass sie selbst schuld war. Sie fühlte sich schmutzig und nutzlos.

      Ihres Freundes wegen hatte sie alle Freundschaften vernachlässigt, manche sogar aufgegeben. Jetzt war sie allein, mutterseelenallein.

      Sie lenkte ihren Wagen wie in Trance. Vor sich sah sie die Brücke über die Sieg. Über sich die Brücke der Autobahn. Fast in voller Fahrt holperte sie über den Bürgersteig. Auf dem Standstreifen hinter dem Bürgersteig unter der Autobahnbrücke stieg sie voll in die Bremse. Sie stieg aus. Kein Auto, keine Menschenseele war hier. Ohne den Wagen abzuschließen, verließ sie im gleichen Trancezustand, wie sie gefahren war, den Standstreifen und ging in Richtung der Brücke über die Sieg.

       1

      April 2019

      Es war so ein trister Samstagabend, so wie die letzten beiden vorher. Seit heute stand fest, dass noch einige weitere folgen würden.

      Ronnis Freundin Susie befand sich seit mehr als zwei Wochen in einer Rehabilitationsmaßnahme. Die Scheidung von ihrem Mann, er war Gynäkologe und hatte es schamlos mit einigen Patientinnen getrieben, hatte ihr sehr zugesetzt. Ihr Arzt fand, dass für sie eine Kur angezeigt war. Nach reiflicher Überlegung hatte sie zugestimmt. Damals kannte sie Ronni noch nicht. Heute hatte sich entschieden, dass die ursprünglich für drei Wochen vorgesehene Reha-Maßnahme um weitere zwei Wochen verlängert wurde. Am Morgen hatte Susie Ronni angerufen und ihn informiert. Er war darüber nicht sehr begeistert.

      Ronni lebte noch nicht offiziell mit Susie zusammen, aber was hieß das schon. Wenn er nach Dienstende sagte, ich fahre nach Hause, meinte er Susies Eigentumswohnung in Siegburg-Seligenthal. Natürlich war das Wohnen in ihrer luxuriösen, hundertvierzig Quadratmeter großen Wohnung wesentlich angenehmer als in seiner sechzig Quadratmeter großen Zweizimmer-Wohnung in Bonn.

      Das war aber nicht der eigentliche Grund, weswegen er sich in Susies Wohnung so wohl fühlte. Er liebte Susie und er war glücklich, wenn er jeden Tag und jede Nacht mit ihr zusammen sein konnte.

      Trotzdem wollte er seine kleine Wohnung in Bonn nicht aufgeben. Man weiß ja nie …, war so ein Gedanke in der hintersten Ecke seines Gehirns. Dafür hatte er in seinem Leben auch schon zu viel Negatives erfahren, als dass er alle Eventualitäten einfach zur Seite wischen konnte. In der Zeit, in der Susie sich in der Reha-Maßnahme befand, lebte er wieder in seiner kleinen Wohnung. Die Wohnung in Seligenthal war ihm einfach zu groß und dort würde er sich ohne seine Freundin noch einsamer fühlen.

      Ohne besonderen Plan war Ronni mit dem Zug nach Troisdorf gefahren. Durch seine Ermittlungsarbeit in verschiedenen Fällen kannte er Troisdorf. Er mochte die Überschaubarkeit der Kleinstadt an manchen Tagen mehr als die Hektik in Bonn oder Köln. An diesem Abend war er lustlos durch die menschenverlassene Fußgängerzone geschlendert.

      Jetzt saß er seit fast zwei Stunden an der Theke in einer der vielen Troisdorfer Bars und Kneipen. Schaute lustlos dem jungen Mann hinter der Theke bei dessen Tätigkeiten zu. Um ihn herum nur lachende, gut gelaunte Menschen. Manchmal drang ein frivoles Lachen einer Frau an sein Ohr, manchmal vernahm er irgendwelche Sprachfetzen und hin und wieder auch den Teil einer belanglosen Unterhaltung.

      Der allgemeine, hohe Geräuschpegel im Lokal überlagerte grundsätzlich alles. Er machte sich jedoch auch nicht die Mühe, genauer hinzuhören, um etwas zu verstehen oder sogar zu analysieren. Er hatte einfach kein Interesse. Ein halbvolles Glas Bier stand vor ihm, inzwischen sein viertes. Er wusste, er trank zu schnell und er passte hier eigentlich nicht hin – zumindest nicht in seiner jetzigen Stimmung. Aber welche Alternative hatte er, wenn er nicht allein zu Hause vor dem Fernseher sitzen wollte und darauf warten, dass er irgendwann aus Langeweile oder Frustration einschlafen würde?

      Als er noch beim ersten Bier war, setzte sich eine junge Frau auf den noch freien Barhocker neben ihm. Wallendes, blondes Haar, top Figur, die sie gekonnt zur Geltung brachte. Bereits nach wenigen Minuten sprach sie ihn an und sie kamen ins Gespräch. Belangloses, ob er öfter hier wäre? Er verneinte. Es wäre ihre Stammkneipe, ob er auch eine Stammkneipe hätte. Er verneinte erneut und konterte damit, dass es für April auch abends noch sehr warm sei. Wahnsinn!

      Trotz des inhaltslosen Gesprächs fühlte er sich geschmeichelt, schließlich schien sie wesentlich jünger als er zu sein. Gehöre ich doch noch nicht zum alten Eisen? Habe ich bei jüngeren Frauen vielleicht doch noch eine Chance? Jetzt, beim vierten Bier, hätte er sich womöglich anders verhalten und wäre einem kleinen Flirt an der Theke nicht abgeneigt gewesen. Doch zu Beginn des Abends hatte er noch einen klaren Kopf und war vernünftig. Hatte er doch Susie, mit der er richtig glücklich war. Außerdem strengte ihn das nichtssagende Gespräch mit der jungen Frau zu sehr an. Mit jedem Satz, jeder Frage, schwand sein Interesse an der blonden Schönheit immer mehr. Beim zweiten Bier raffte er sich dazu auf, ihr freundlich, aber bestimmt klarzumachen, dass er allein sein wollte und sie ihren Charme nicht unnütz an ihn verschwenden sollte. Leicht pikiert suchte sich die junge Frau daraufhin ein zugänglicheres Opfer im inzwischen voll besetzten Lokal.

      Danach genehmigte er sich zum Bier zusätzlich einen klaren Schnaps, sozusagen als Trost oder zur Bestätigung seines Alleinseins. Er wusste nicht genau, welcher Grund ausschlaggebend war, wahrscheinlich waren es beide Gründe.

      Seitdem grübelte er darüber, weswegen er überhaupt die Bar aufgesucht hatte, wenn er doch grundsätzlich allein und für seine Mitmenschen unzugänglich sein wollte. Allein sein konnte er genauso gut zu Hause. Bier hatte er mit Sicherheit noch in ausreichender Menge im Kühlschrank.

      Im Spiegel an der Wand ihm gegenüber sah er, dass die junge Frau inzwischen jemand anderes gefunden hatte, der ihren Charme bereitwillig konsumierte. Der Mann, schätzungsweise noch älter als Ronni selbst, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und beide kicherten um die Wette. So ist es nun einmal im Leben: Jeder Topf findet seinen Deckel, dachte er.

      Als sie mit ihrem Auserwählten Arm in Arm das Lokal verließ, gestand er sich ein, dass es vergeudete Zeit für ihn war, weiterhin an der Theke zu sitzen und sich volllaufen zu lassen. Er trank sein Bier aus, bezahlte und verließ ebenfalls das Lokal.


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