Freitod. Heribert Weishaupt
auf der anderen Flussseite erreichten.
Sie gab keine Antwort, sodass er davon ausging, dass auch sie nicht ortskundig war. Nach vielleicht einhundert Metern sah er die Leuchtreklame eines Restaurants. Sie gingen hinein.
„Wir schließen in einer guten halben Stunde“, sagte der Wirt, als sie das Lokal betraten.
Er stand hinter der Theke und musterte die junge Frau mit einem kritischen Blick. Wahrscheinlich hatte er so viel Menschenkenntnis, dass er spürte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht waren es auch nur die zerzausten Haare und das noch immer blasse Gesicht.
„Ist in Ordnung. Wir wollen uns nur kurz aufwärmen und einen Wein trinken“, sagte Ronni und zog die Frau am Arm mit hinein.
Das Lokal war so gut wie leer und sofort umgab sie eine angenehme Wärme. Sie setzten sich in eine Ecke und Ronni bestellte zwei Rotwein.
„Ich hoffe, Sie trinken einen Rotwein?“, fragte er.
Sie nickte nur mit dem Kopf, schaute ihn nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte vor sich.
Irgendwie muss ich es doch schaffen, ein Gespräch mit ihr zu führen, dachte er. Doch das schien nicht so einfach. Nachdem der Wirt die beiden Gläser vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte, hob er sein Glas, schaute sie an und sagte: „Ich heiße übrigens Ronni. Ich finde, nach dem, was wir in der letzten Stunde gemeinsam erlebt haben, könnten wir du zueinander sagen. Findest du das nicht auch?“
„Mein Name ist Sarah“, sagte sie leise und hob vorsichtig das Weinglas, trank einen kleinen Schluck, schaute ihn aber nicht an.
So vorsichtig, wie sie das Glas angehoben hatte, stellte sie es auch wieder auf den Tisch. Das wird ja eine lustige Unterhaltung, dachte er. Sie saßen eine Weile schweigend zusammen. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine volle Minute. Jeder schaute vor sich auf sein Glas Wein.
„Wann haben Sie … wann hast du dich dazu entschlossen?“, fragte er.
„Wozu?“
„Von der Brücke zu springen. War das ein spontaner Entschluss oder hast du das bereits länger geplant?“
„Das war ganz spontan. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war fertig“, sagte sie und Ronni bemerkte, wie sie mit ihren Tränen kämpfte.
Sie klang erschöpft. Ronni hatte den Eindruck, dass sie etwas Schlimmes erlebt hatte. Er wollte sie dazu bringen zu reden. In vielen Fällen hilft es, wenn man sein Erlebtes jemandem erzählen kann. Er wollte dieser Jemand sein und zuhören.
„Was ist geschehen? Möchtest du darüber reden?“, fragte er und legte seine Hand zu ihrer Beruhigung auf ihre. Zum ersten Mal schaute sie ihn an und er blickte in wunderschöne, braune, aber verängstigte Augen. Ihre Augenlider zuckten. Ein Zeichen für Stress und Anspannung. Dann schaute sie wieder auf ihr Weinglas, atmete hörbar ein und begann:
„Ich bin von diesem Scheißkerl weggerannt. Immer diese Erniedrigungen, diese Gewalt. Ich habe ihn angebettelt, angeschrien er soll mich in Ruhe lassen – ich will nicht, habe ich geschrien – immer wieder. Dann hat er mich vergewaltigt und ist danach einfach ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernseher eingeschaltet, als wäre nichts gewesen.“
Sie stockte. Sie hatte sich beinahe in Rage geredet. Ronni konnte fast sehen, wie ihr Herz hämmerte. Er verstärkte den Druck auf ihre Hand, die er immer noch umfasste.
„Dann klingelte es und sein Freund kam“, fuhr sie fort.
Sie hielt erneut inne. Ronni ahnte, was dann geschah.
„Du musst nicht weitersprechen. Ich kann mir vorstellen, was dann geschah“, sagte er mitfühlend.
„Nein, das kannst du dir nicht vorstellen. Du hast keine Ahnung.“
Ihre Stimme war laut, ihr Körper straffte sich und sie schaute Ronni fast wütend an. Dann sank sie wieder in sich zusammen und schaute wie vorher ihr Glas an. Ronni wartete.
„Danach haben sie mich ausgelacht und Witze über mich gemacht. Ich habe mich schnell angezogen und bin aus der Wohnung gelaufen, zu meinem Wagen. Ich bin planlos umhergefahren, bis ich in Menden an der Brücke landete. Dort bin ich ausgestiegen.“
Sie brach ab. Sie wusste, dass Ronni den Rest kannte.
Nach diesem Gefühlsausbruch schaute sie Ronni wieder an. Ihre Augen waren voller Tränen, die unbeachtet ihre Wangen hinunterliefen.
Erst jetzt bemerkte Ronni die roten Striemen am Hals und auf den Händen. Sie hatte die Jacke nicht ausgezogen. Ronni wollte sich nicht vorstellen, welche Hinweise auf Gewaltexzesse sie noch unter der Jacke auf ihrem Körper verbarg.
„Wie kann er mir so etwas antun? Wir haben uns doch einmal geliebt“, stellte sie jetzt die Frage, die sie bereits vorher sich selbst gestellt und keine Antwort gefunden hatte.
„Ich verstehe,“ sagte Ronni, obschon er nicht verstand.
Er verstand nicht, wieso eine junge Frau ihr Leben auf diese Art wegwerfen wollte. Sei der Grund auch noch so schwerwiegend, schließlich hatte man nur ein Leben. Er war der Überzeugung, dass es immer einen Ausweg gab.
„Hat er dich vorher bereits öfter geschlagen?“
„Ja, wenn er getrunken hatte. Danach hatte er sich immer entschuldigt und ich habe ihm jedes Mal wieder verziehen.“
„Wirst du ihn anzeigen?“, fragte Ronni vorsichtig.
„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern und fügte resigniert hinzu: „Nein, ich denke nicht. Das bringt doch nichts.“
„Ich bin der Meinung, so solltest du nicht denken. Ich finde, eine Person, die dir so etwas antut, sollte ihre Bestrafung erhalten. Ich könnte dir dabei helfen. Ich kenne Polizeibeamtinnen, die mit Frauen, denen man so eine Straftat angetan hat – und eine Straftat ist es nun einmal – einfühlsam umgehen.“
„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte sie bestimmt und Ronni sah ein, dass er diese Entscheidung akzeptieren musste. Zumindest für den Augenblick.
„Du hast so etwas Schlimmes erlebt und ich finde, du solltest mit einem Arzt, vielleicht auch Psychologen, darüber sprechen. Oft ist es besser, wenn man Hilfe bekommt und nicht allein damit fertigwerden muss. Ich könnte dir bei der Suche eines Arztes behilflich sein.“
„Nein, danke. Das ist nicht notwendig. Ich habe meinen Papa. Wir verstehen uns sehr gut und er wird mir gerne helfen“, sagte sie entschieden und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht überzeugend gelang.
Auch diese Entscheidung musste Ronni akzeptieren, selbst wenn er grundsätzlich anderer Meinung war.
„Wo willst du jetzt hin?“, fragte er besorgt.
Ihm war nicht ganz klar, ob der „Scheißkerl“, wie sie ihn nannte, ihr Mann oder ihr Freund war. Fall es ihr Mann war, konnte sie unmöglich nach Hause zurück.
„Nach Hause. Ich habe hier in Menden eine kleine Wohnung. Meinen Wagen habe ich unterhalb der Autobahnbrücke an der Sieg abgestellt. Von dort bin ich auf die Siegbrücke gegangen.“
„Und wo wohnt dein Freund? Ich vermute, dass er nicht dein Mann ist.“
„In Sankt Augustin. Zum Glück ist er nicht mein Mann. Und Freund? Das ist vorbei. Jetzt endgültig.“
Sie sagte das sehr entschlossen und bestimmt.
„Und wegen so einem Typ wolltest du von der Brücke springen? Sei froh, dass du es nicht getan hast.“
„Ja, jetzt bin ich das auch. Als ich auf dem Geländer stand, kamen mir schon Zweifel. Sonst wäre ich längst gesprungen, bevor du kamst. Ich war mir nicht mehr sicher und hatte keinen Mut.“
„Keinen Mut zu springen?“
„Das auch. Ich meine aber, keinen Mut nicht zu springen. Plötzlich fühlte ich so eine Sinnlosigkeit und ich habe einfach losgelassen. Zum Glück warst du da und ich danke dir dafür.“
Sie