Freitod. Heribert Weishaupt

Freitod - Heribert Weishaupt


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Zuerst die Sache mit deinem Freund und dann der Tod deines Vaters. Ist er plötzlich und unerwartet verstorben oder war er bereits länger krank?“

      „Durch einen Unfall. Er war total fit und gerade einmal sechzig Jahre alt.“

      „Furchtbar. Ein Verkehrsunfall wahrscheinlich?“

      „Nein. Er war mit dem Kanu auf dem Rhein und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Das Boot wurde kurz hinter Bonn gefunden. Mit dem Kiel nach oben. Von meinem Vater keine Spur – bis heute. Er ist mit Sicherheit ertrunken.“

      „Wie tragisch“, bekundete Ronni seine Anteilnahme.

      „Ja, das stimmt. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er sein Leben lang Kanu gefahren ist. In jungen Jahren sogar als Leistungssportler. Die letzten Jahre fuhr er nur zur Entspannung und zum Abbau vom beruflichen Stress manchmal auf dem Rhein.“

      „Das ist alles sehr traurig und war auch für dich sicher eine schlimme Zeit, aber es freut mich, wenn es dir jetzt wieder gut geht. Hast du inzwischen eine neue Beziehung oder lebst du noch allein in Menden?“

      „Ja, ich wohne noch immer in Menden. Von Männern habe ich aber noch immer die Nase voll, wie du bestimmt verstehen kannst. Du bist natürlich davon ausgenommen“, lachte sie.

      „Naja, ich habe nur getan, was ich tun konnte“, wiegelte Ronni ab.

      „Bei der nächsten Haltestelle am Bahnhof Beuel muss ich aussteigen. Tschüss, und mach`s gut“, sagte sie und stand auf.

      „Ich fahre noch bis Ramersdorf. Was hältst du von einem unverbindlichen Feierabendbier, wenn wieder einmal die Sonne scheint? Ich kenne noch nicht einmal deinen Nachnamen. Hast du eine Telefonnummer?“

      „Gib mir deine Hand.“

      Ronni hielt ihr seine Hand hin und in Windeseile hatte sie einen Kugelschreiber gezückt und schrieb ihm auf den Handrücken, wahrscheinlich ihre Telefonnummer.

      In dem Moment gingen die Türen der Bahn auf und sie entschwand im Regen.

      Ronni betrachtete die Zahlen auf seinem Handrücken und überlegte, ob er sie sofort abschreiben sollte. Er befürchtete, dass der Regen die Zahlen verwischen könnte, wenn er ausstieg. Doch dann hatte er einen Einfall. Er nahm sein Smartphone und machte ein Foto von seiner Hand.

      Die Frau neben ihm hatte, seitdem er sich mit Sarah unterhalten hatte, keinen Blick mehr in ihre Frauenzeitschrift geworfen. Auch der ältere Mann gegenüber schien das Interesse am Regen verloren zu haben. Ronni meinte, ein zustimmendes Nicken bei ihm beobachtet zu haben, als er mit seinem Smartphone seinen Handrücken fotografierte.

      Bis zur Endstation in Ramersdorf leerte sich die Bahn merklich. Als er ausstieg, befand er sich nur noch mit wenigen Auserlesenen in der Bahn, die ebenfalls dort ausstiegen und eilends in alle Richtungen in den Regen verschwanden.

      Er öffnete seinen Schirm und ging gemächlichen Schrittes in Richtung seiner Dienststelle. In Gedanken war er noch immer bei der zufälligen Begegnung in der Bahn.

      Wie sich ein Mensch in wenigen Monaten doch verändern kann, dachte er. Bei ihrer ersten, einschneidenden Begegnung im April wirkte sie verzweifelt, schüchtern und sie schien sich selbst nicht zu mögen. Heute machte sie auf ihn den Eindruck einer selbstsicheren, strahlenden, das Leben bejahenden, jungen Frau. Wenn er sich ihr Bild nach diesen wenigen Minuten erneut ins Gedächtnis rief, musste er sich eingestehen, dass ihm dieses Bild gefiel.

      Zum Glück hatte er ihr nicht gesagt, dass er Kommissar bei der Kriminalpolizei war. Er hatte festgestellt, dass es die meisten Menschen abschreckt, sich privat mit einem Polizisten zu unterhalten. Wie hatte sein ehemaliger Kollege Frank Eisenstein einmal gesagt: Wenn die Menschen in Not sind oder Hilfe benötigen, rufen sie nach der Polizei. Geht es ihnen wieder gut, sehen sie die Polizei lieber von hinten.

      Trotzdem beschloss er, sie in Kürze anzurufen und wenn möglich ein Treffen mit ihr zu vereinbaren.

       3

      An manchen Tagen betritt man nicht mit besonders viel Euphorie sein Büro. Insbesondere dann nicht, wenn es draußen regnet und man mit dem aufgespannten Schirm durch Wind und Regen laufen muss und die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hin nass sind.

      Schlechtgelaunt stellte Ronni den vor Wasser triefenden Schirm am Garderobenständer ab und entledigte sich seiner Jacke, die ebenfalls vom Regen nicht verschont geblieben war. Das Wasser tropfte von ihr auf den Boden und bildete dort in kurzer Zeit eine Pfütze.

      Lediglich ein knappes „Morgen“ zu Sybille Baum, seiner Sekretärin und Bürogehilfin, kam lustlos über seine Lippen.

      „Morgen, Ronni“, begrüßte ihn Sybille auch nicht gerade enthusiastisch.

      Normalerweise war sie morgens immer gut gelaunt und freundlich. Aber an diesem Morgen schien ihr eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Oder war es das Wetter? Dafür hätte er Verständnis.

      „Du hast bereits netten Besuch“, überraschte sie ihn und zeigte zu seinem Schreibtisch.

      Mein Gott, der Büroalltag fängt ja bereits gut an. Wer besucht mich denn so früh am Morgen?, dachte er. Erst jetzt sah er, dass jemand auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch saß und eine Zeitung aufgeschlagen in den Händen hielt.

      Es ist erstaunlich, wie manchmal ein kleiner Impuls oder Anlass reicht, um die Stimmung komplett umzukrempeln. Sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. In diesem Fall schlug Ronnis Stimmung in Freude um.

      „Hallo Frank – der frischgebackene Pensionär hat Sehnsucht nach seiner früheren Wirkungsstätte?“, begrüßte er seinen ehemaligen Kollegen Frank Eisenstein.

      Frank warf die Zeitung auf den Schreibtisch, stand auf und umarmte seinen Freund und ehemaligen Kollegen herzlich.

      „Nein, ich hatte zufällig in der Gegend zu tun und wollte nur kurz ‚Hallo‘ sagen“, wiegelte Frank mit einem Lächeln ab.

      „Ja, natürlich. Kann ich durchaus verstehen. Ramersdorf ist ja auch der Nabel der Welt, wo man immer etwas zu erledigen hat“, lachte Ronni.

      „Egal, komm setz dich. Ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist. Ich habe Zeit, wir können in Ruhe plaudern. Warst du schon in den anderen Büros und hast dort die Kolleginnen und Kollegen begrüßt?“, fragte Ronni.

      „Nein, das möchte ich nicht, sonst heißt es noch, der Alte hat zu viel Zeit und hält uns nur von der Arbeit ab. Aber es stimmt – ich habe Zeit, leider zu viel.“

      „Ich verstehe, aber ich bin sicher, das wird sich irgendwann einpendeln. Du bist gerade mal ein paar Wochen in Pension und du wirst dich an den Ruhestand noch gewöhnen. Bald wird die Zeit kommen, dass du, wie viele andere Pensionäre überhaupt keine freie Minute mehr hast, weil du mit allen möglichen Sachen beschäftigt bist, für die du während der Berufstätigkeit keine Zeit hattest.“

      Ronni versuchte, seinen Freund aufzumuntern und ihm eine Perspektive zu geben, denn er hatte den Eindruck, dass der Ruhestand ihm stark zusetzte.

      „Von wegen ein paar Wochen. Es sind inzwischen zwei Monate. Früher, ich meine, als ich noch im Dienst war und es kommt mir vor, als wären es Jahre her, verrann die Zeit wie im Fluge. Jetzt tickt sie langsam und gleichmäßig vor sich hin. Ein Tag vergeht wie der andere. Diese Zeit der Eintönigkeit ist wie ein Dieb. Sie stiehlt mir Stunden und Tage meines Lebens – und dann noch dieses Sch…wetter.“

      Ronni war beinahe erschüttert über das, was sein Freund von sich gab.

      „Es wird auch wieder irgendwann die Sonne scheinen und dann kannst du am Rhein spazieren gehen oder Fahrrad fahren. Ich beneide dich um diese Freiheit. Wenn man berufstätig ist, wünscht man sich mehr Zeit für solche Aktivitäten. Hat man wie du die Möglichkeit dazu, ist der Wunsch plötzlich nicht mehr vorhanden.“

      Ronni lebte inzwischen sechs, sieben oder waren es bereits zehn Jahre in Bonn und er war in dieser Zeit maximal dreimal in seiner Freizeit am Rheinufer


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