Freitod. Heribert Weishaupt
hätte ich sein können, dachte Ronni nicht ganz ohne einen Funken Neid. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Eroberung sicherlich am nächsten Morgen wieder allein sein würde. Er schätzte die junge Frau so ein, dass sie jemand gesucht hatte, der ihre Zeche zahlte und ihr für diese Nacht das Bett wärmte. Nein, das war schon gut so, wie es war. In zwei Wochen würde Susie wieder zurück aus der Reha sein und er brauchte keine Abenteuer. Lediglich das Alleinsein setzte ihm stark zu, was wiederum ein gutes Zeichen war, da ihm dadurch klar wurde, wie sehr er Susie vermisste.
Langsam schlenderte er auf dem Bürgersteig entlang der Siebengebirgsallee Richtung Sieg.
Inzwischen hatte er die letzten Häuser passiert und die Straße, die in einem Bogen um die Mannstaedt-Werke herumführte, war nur spärlich ausgeleuchtet. Dieses verdammte LED-Licht. Wer mag der Urheber dieser Idee gewesen sein und was mag die Umstellung aller Straßenlaternen auf dieses Schummerlicht die Stadt gekostet haben, regte er sich innerlich auf. Anschließend schlug der Ärger gegen sich selbst um, da er sich über solche Nichtigkeiten aufregte, die er eh nicht ändern konnte. Vielleicht war es doch im Nachhinein dumm von ihm gewesen, die Chance einer wunderbaren Nacht mit dieser Schönheit aus der Kneipe vertan zu haben und sein Ärger hatte darin seinen Ursprung.
Nur selten begegnete ihm ein Auto, das einen Moment lang für etwas mehr Licht sorgte. Auch wenn die Temperaturen tagsüber manchmal die Nähe von zwanzig Grad erreichten, sanken sie, sobald die Sonne untergegangen war, erheblich ab und am frühen Morgen zeigte das Thermometer öfter unter zehn Grad an. Er hatte den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Auch wenn er es nicht direkt vor sich selbst zugeben wollte, hätte er jetzt lieber auf den Spaziergang verzichtet. Aber ich bin doch kein Weichei, dachte er, um sich ein wenig aufzumuntern.
In einiger Entfernung konnte er die Umrisse der Mendener Brücke sehen, die sich über die Sieg spannte und den Troisdorfer Stadtteil Friedrich-Wilhelms-Hütte mit dem Sankt Augustiner Stadtteil Menden verband.
Sein Plan sah vor, der Straße in Richtung Friedrich-Wilhelms-Hütte zu folgen und dort am kleinen Bahnhof auf den nächsten Zug nach Bonn zu warten. Vielleicht würde er auch ein Taxi rufen, falls die Wartezeit zu lange dauern sollte.
Als er sich auf Höhe der Brücke befand, stutzte er und strengte seine Augen an. Stand dort nicht in der Mitte der Brücke eine Gestalt auf dem Brückengeländer? Nein, Unsinn, das ist nicht möglich, dachte er.
Er zählte im Geiste noch einmal nach. Er hatte vier Bier und einen klaren Schnaps getrunken. So vernebelt konnte seine Wahrnehmung doch nicht sein. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, aber die erste Erkenntnis änderte sich nicht. Dort stand zweifelsohne eine Person auf dem Brückengeländer, die anscheinend im Begriff war, zu springen. Wenn er sich nicht völlig täuschte, war es eine weibliche Person.
Mit einem Mal war Ronni klar, was hier vor sich ging. Mit Sicherheit wollte sich eine Frau vom Brückengeländer in den Fluss stürzen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und erneut bahnte sich der Ärger in ihm seinen Weg in sein Gehirn. Wäre ich bloß nicht diesen Weg gegangen. Hätte ich mich doch auf die Frau im Lokal eingelassen, läge ich jetzt im warmen Bett und könnte die Nacht genießen, dachte er. Stattdessen stand er in der Dunkelheit an dieser Brücke und war gezwungen, einer Selbstmörderin bei der Ausführung ihres Plans zuzusehen. Wenn er noch einige Biere mehr getrunken hätte, würde er jetzt dem Ärger die Oberhand überlassen und einfach umkehren. Hätte, hätte, hätte – so war es aber nicht. Er stand hier und sah die Frau auf der Brücke. Er musste sich entscheiden, ob er weitergehen oder der Frau helfen sollte.
„Junge Frau sprang von der Brücke in den Tod. Kein Zeuge, der den Vorgang beobachtet hat“, könnte die Schlagzeile am nächsten oder übernächsten Tag in der Zeitung lauten.
Oder: „Frau stürzte von der Brücke in den Tod. War es Selbstmord oder Mord?“
Er würde die Antwort kennen. Er würde wissen, wie es tatsächlich gewesen war. Er wäre der Zeuge, den niemand kannte. Der nicht eingeschritten war, aber der wusste, dass die Frau Selbstmord verübt hatte. Vielleicht aus Verzweiflung, aus Angst oder einfach nur aus Müdigkeit am Leben. Niemand würde jemals den wahren Grund erfahren. Sie würde nur eine nichtssagende Ziffer in der Statistik der unaufgeklärten Todesfälle sein. Könnte er mit diesem Wissen, diesem Versäumnis und dieser Feigheit leben?
All diese Gedanken gingen ihm in Windeseile binnen weniger Sekunden durch den Kopf.
Das Leben geht manchmal eigene Wege und man ist halt so, wie man ist. Der Ärger hatte den Kampf um die Oberhand verloren. Die Vernunft und das Verantwortungsgefühl hatten gewonnen. Er konnte unter keinen Umständen umkehren und die Frau ihrem selbstgewählten Schicksal überlassen.
Allerdings wusste er nicht sofort, wie er die Situation in den Griff bekommen könnte. Hilfe war nicht zu erwarten. Ein vorbeifahrendes Auto anhalten? Wozu? Wann würde das nächste Auto über die Brücke fahren? Um diese Uhrzeit war auf diesen Straßen hier so gut wie kein Autoverkehr mehr. Wenn das nächste Auto die Brücke passieren würde, wäre es vielleicht bereits zu spät. Die nächste Frage war, würde überhaupt jemand anhalten? Falls er Glück hätte, dass ein Auto käme und der Fahrer anhalten würde, war immer noch die Frage, wobei ihm der Autofahrer helfen sollte. Gerade, als er das dachte, passierte ein Auto die Brücke und fuhr, ohne die Geschwindigkeit zu verringern achtlos an der Frau und ihm vorüber. Zu viele „hätte“ und „wäre“, fand er. Eine solche Aktion würde die Frau nur unnötig unter Stress setzen und dazu bringen, ihr Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen.
Mit einem Mal war Ronni hellwach, als wenn man ihm einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf gegossen hätte und er wusste, was er zu tun hatte.
Schnell überquerte er die Straße und ging langsam auf die Frau zu. Sie stand unbeweglich auf dem Brückengeländer und stierte in die Tiefe. Mit der linken Hand hielt sie sich am Stahl des Brückenbogens fest, der sich bis zur anderen Flussseite spannte. Ihm war klar, wenn sie diesen sicheren Halt losließe, würde sie unweigerlich in die Tiefe stürzen.
Noch ungefähr fünfzehn Meter bis zu der Frau. Er blieb kurz stehen.
„Warten Sie. Das nimmt kein gutes Ende, was Sie da vorhaben. Ich komme etwas näher, wenn Sie nichts dagegen haben“, rief er in ruhigem und nicht zu lautem Ton, denn er durfte die Frau auf keinen Fall erschrecken.
Die Frau schreckte sichtlich aus ihren Gedanken hoch, ohne in die Richtung zu schauen, aus der die Worte an ihr Ohr drangen. Sie drehte ihren Oberkörper ein wenig und legte auch die zweite Hand an den Stahl der Brücke. Dabei schwankte ihr Körper leicht nach vorne.
Er machte ein paar Schritte und redete ruhig weiter.
Noch zehn Meter bis zu der Frau.
„Ertrinken ist sowieso kein so schöner Tod, als wie er immer dargestellt wird. Es gibt da wesentlich bessere, schnellere und nicht so schmerzhafte Möglichkeiten.“
Die Frau war vielleicht Mitte zwanzig, schätzte er. Sie trug eine dunkle, dünne Jacke, Jeans und blaue Sneakers. Jetzt drehte sie das Gesicht zum ersten Mal langsam in seine Richtung und wurde von einer Straßenlaterne erhellt. Schwarze, zerzauste Haare umrahmten ein hübsches Gesicht, das aber grau und fahl im Licht der Laterne erschien. Lediglich die Lippen waren mit einem knallroten Lippenstift geschminkt. Auf ihn wirkte das Gesicht wie eine Maske. Die Frau betrachtete den Störer mit einer Miene aus Erstaunen und Feindseligkeit.
„Lassen Sie mich in Ruhe … sonst … springe ich“, sagte sie leise und stotternd.
Noch acht Meter.
„Das wollten Sie doch sowieso. Wenn Sie nicht gestört werden wollten, hätten Sie Ihr Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt, eventuell nach Mitternacht, planen sollen. Und wie gesagt, das was Sie vorhaben, nimmt kein gutes Ende.“
Er wusste, dass er weitersprechen musste, solange die Frau ihn anschaute. Aus einschlägiger Literatur wusste er auch, dass ein Selbstmörder im Regelfall keine Zuschauer bei seiner Tat haben möchte.
Noch sechs Meter, dann hatte er sie erreicht.
Vielleicht konnte