Freitod. Heribert Weishaupt

Freitod - Heribert Weishaupt


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gegen den Pfeiler der Brücke klatschte und die Geräusche der nahen Autobahn.

      „Auch wenn durch den enormen Regen der letzten Woche der Wasserspiegel der Sieg stark gestiegen ist, werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ertrinken. Wenn Sie das vorhatten, hätten Sie den Rhein auswählen sollen. Sie werden lediglich unliebsam aufschlagen, sich alle möglichen Knochen brechen. Wenn Sie Glück haben, sogar das Genick, falls Sie den Mut aufbringen, kopfüber hinunterzuspringen. Dann wäre Ihr Plan aufgegangen. Wahrscheinlich aber werden Sie nicht sterben. Das Wasser ist zu dieser Jahreszeit sehr kalt. Mit Sicherheit werden Sie sich eine Erkältung holen und wahrscheinlich werden Sie schwerverletzt sein. Im schlimmsten Fall sogar querschnittgelähmt. Ist das Ihr Plan? Sicher nicht.“

      Das mochte eine unpassende und zu lange Ansprache sein, aber es handelte sich noch nicht einmal um eine zweckdienliche Lüge. Er brachte sie zumindest dazu, sich auf ihn zu konzentrieren und ihr Vorhaben für einige Augenblicke hintenan zu stellen.

      „Verschwinden Sie“, zischte die Frau und schaute wieder in die Tiefe.

      Er machte erneut wenige, kurze Schritte.

      Noch fünf Meter.

      „Es gibt Schöneres, als ein Leben im Rollstuhl zu verbringen und auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich helfe Ihnen von diesem Geländer herunter und ich lade Sie zu einem Glas Wein ein. Was halten Sie davon?“

      „Dummes Gerede von jemandem, der keine Ahnung hat. Gehen Sie nach Hause zu Frau und Kinder und lassen Sie mich in Ruhe“, entgegnete sie und wandte dabei wieder den Blick ihm zu.

      Ihre Kiefer mahlten. War das ein Zeichen von Nervosität oder Unsicherheit? Unsicherheit, weil sie eventuell an ihrem Vorsatz, in die Tiefe zu springen, zweifelte?

      Noch drei Meter.

      Immer näher arbeitete er sich an sie heran.

      „Falsch. Ich habe keine Frau und auch keine Kinder, aber ich habe Erfahrung in solchen Sachen, wie die, die Sie vorhaben. Ich habe leider schon zu oft den Tod, schwere Verletzungen und daraus resultierende Pflegefälle gesehen. Auch war ich selbst schon einmal an einem Punkt, wo ich dachte, es geht nicht mehr weiter.“

      Er machte eine kurze Pause. Er wollte seine letzten Worte erst einmal wirken lassen. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass man seinem Gegenüber Mitgefühl suggerieren soll, wenn man etwas von ihm erfahren möchte oder wenn man dessen Handeln ändern will. Von einem ähnlichen, eigenen Erlebnis zu berichten, kann dabei hilfreich sein.

      „Meine damalige Frau hatte mich auf Mallorca in eine Schlucht gestürzt und ich bin nur mit knapper Not dem Tod entronnen, weil ich leben wollte. Ich weiß seitdem, wie schön das Leben sein kann“, fuhr er fort.

      „Auch für Sie wird es einen neuen Anfang geben und irgendwann werden Sie rückblickend feststellen, dass Ihr jetziger Plan keine Lösung war und werden froh sein, ihn nicht umgesetzt zu haben“, schloss er mit einer positiven Aussicht.

      Noch zwei Meter und er hatte sie erreicht.

      Die Frau stand vollkommen still. Dachte sie über seine Worte nach?

      „Nein, ich will nicht mehr zurück“, stammelte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fluss zu.

      Sie ließ die Hand, mit der sie zuletzt zusätzlich den kalten Stahl der Brücke ergriffen hatte, los. Nur mit einer Hand sicherte sie noch ihr Gleichgewicht und machte Anstalten, auch diesen unsicheren Halt loszulassen.

      Anscheinend war seine Strategie nicht so erfolgreich, wie er erhofft hatte. Aber aufgeben war für ihn keine Option.

      „Natürlich können Sie zurück. Was Sie davon abhält, mein Angebot anzunehmen, ist lediglich die Scham vor sich selbst, sich einzugestehen, dass Sie nachgegeben haben. Womöglich betrachten Sie es als Niederlage, einen gefassten Vorsatz zu ändern. Aber machen Sie sich keine Gedanken. Nur Sie und ich wissen von diesem Abend. Jetzt den Plan zu ändern und meine Hand zu ergreifen, ist keine Schwäche, sondern Stärke.“

      Ronni, von der Frau unbemerkt, die letzten Schritte näher zu ihr vorgedrungen. Er konnte sie fast mit dem ausgestreckten Arm erreichen. Er streckte ihr seine Hand entgegen.

      War es ein Geistesblitz, war es Eingebung oder war es seine Erfahrung? Er wusste, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man erahnen will, wie er reagieren wird. Auf die Körperspannung! Bisher waren es immer nur Gegner, denen er gegenüberstand. Zum ersten Mal war es eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte.

      Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte und ihn ansah, wusste er, spürte er, dass sie sich entschieden hatte. Dass all sein Gerede und seine Bemühungen vergeblich gewesen waren. Dass sie sich fallen lassen würde.

      Mit einem Ruck drehte die Frau ihren Kopf und schaute in das trübe Wasser der Sieg und ließ ihre Hand los. Ronni sah, wie sie ihre Arme nach oben riss und fast, wie in Zeitlupe nach vorne kippte.

      Nur noch ein Meter. Ein lächerlicher Meter. Ronni schien diesen letzten Meter bis zu ihr zu fliegen. Dann packte er zu. Entschlossen, erbarmungslos und mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, fasste er ihren Arm und zog sie zurück. Bevor sie auf den rettenden Asphalt des Bürgersteigs aufschlug, fing er sie auf.

      Er konnte nicht umhin, sie erleichtert in die Arme zu nehmen. Sie drückte ihren Kopf an seine Schulter und blieb lange in seinen Armen hängen. Sie weinte leise und zitterte, das konnte er deutlich durch die dünne Jacke spüren.

      Ronni sog die Luft tief in seine Lungen ein und stieß sie wieder kräftig aus. Auch er benötigte einige Augenblicke, um seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen.

      „Da haben wir noch einmal Glück gehabt“, sagte er erleichtert.

      Die Frau hob den Kopf und sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. War es Erleichterung, was er in ihren Augen sah?

      Er wusste es nicht. Auf jeden Fall sah er keinen Zorn oder Wut darüber, dass er sie gerettet hatte.

      „Nun wollen wir mal sehen, ob wir irgendwo ein warmes Plätzchen finden, wo wir uns von dem aufregenden Abend erholen können. Vielleicht können wir dort auch noch das versprochene Glas Wein trinken“, spielte er gute Laune vor, obschon er alles andere als gut gelaunt war.

      Die Frau sagte nichts. Noch immer sah sie ihn an und hielt sich bei ihm mit beiden Händen fest, als würde sie befürchten, umzufallen, wenn er sie losließe. Auch Ronni hielt sie mit den Händen an den Schultern und schaute sie an.

      Natürlich freute er sich, dass er die Frau davon abgehalten hatte, ihr Leben wegzuwerfen. Aber deshalb gute Laune? Nein, auch er war geschockt und musste zuerst einmal verarbeiten, was er erlebt hatte.

      „Danke“, hauchte sie leise, fast unhörbar.

      Dann löste sie sich von Ronni und trat einen Schritt zurück.

      „Ich glaube, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe“, sagte sie.

      Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, aber sie schien sich langsam zu erholen.

      „Nein, ich lasse Sie jetzt auf keinen Fall allein nach Hause gehen. Wir werden uns einen Ort suchen, wo wir uns unterhalten können. Wir sollten das, was wir soeben erlebt haben, versuchen zu verarbeiten. Und das geht nur, wenn wir darüber sprechen. Irgendwo wird es hier eine ruhige Ecke in einem Lokal geben.“

      „Ich habe leider kein Geld dabei. Ich denke, es ist besser, dass ich doch nach Hause gehe“, antwortete sie kleinlaut.

      „Das kann ich verstehen. Wenn man von der Brücke springen will, nimmt man sicherlich keine Geldbörse mit. Ich habe heute meinen großzügigen Tag. Ich denke, der Wein geht auf meine Kosten“, antwortete Ronni locker.

      Ohne Absprache mit der Frau schlug er den Weg über die Brücke nach Menden ein. Sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und trottete recht langsam neben ihm her. Wahrscheinlich hatte die Aktion – und wer weiß wie lange sie bereits gedauert hatte, bevor er die Frau erblickte – sie-nicht nur mental, sondern auch körperlich eine Menge Kraft gekostet.

      „Wenn


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