Freitod. Heribert Weishaupt
Arbeit verschrieben. So wie Frank wollte Ronni nicht enden – wobei enden sicherlich das falsche Wort war. Er glaubte, dass der Zeitpunkt auch für ihn jetzt schon reif war, etwas zu ändern. Sich vorzubereiten, einen Plan zu erstellen, für die Zeit nach seinem Beruf. Aber wie und was? Einfach würde es jedenfalls nicht werden.
„Was hältst du von einem Kaffee? Ich sehe gerade, Sybille hat welchen aufgebrüht.“
Ronni schaute zu dem halbhohen Aktenschrank in der Nähe von Sybille Baums Schreibtisch, auf dem eine alte Kaffeemaschine vor sich hin gurgelte. Sybilles Kaffee war berühmt und berüchtigt. Er weckt Tote auf, sagte Ronni einmal.
„Nein, danke. Wenn es gestattet ist, hole ich mir eine Tasse heißes Wasser in der Küche. Einen Beutel grünen Tee habe ich immer dabei.“
Frank griff in seine Hosentasche und holte eine zerknitterte Teebeuteltasche heraus und ging damit zur Küche. Sie befand sich in einem winzigen Zimmer am Ende des Flurs, das mehr einer Abstellkammer glich.
Als er nach einigen Minuten zurückkam, schaute Ronni ihn irritiert an.
„Du warst doch immer derjenige, der Sybilles Kaffee über alles liebte. Wie hast du immer gesagt? Dieser Kaffee ist nur für starke Männer. Und jetzt trinkst du grünen Tee?“
„Je älter man wird, desto einsichtiger wird man. Susanne hat mir gesagt, grüner Tee wäre gut gegen hohen Blutdruck“, antwortete Eisenstein mit der Miene eines weisen Gelehrten.
„Seit wann hast du Bluthochdruck? Das ist mir total neu.“
Ronni kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Ich habe keinen Bluthochdruck. Susanne meinte, der Tee wäre auch gut zur Vorbeugung. Inzwischen schmeckt er mir besser als diese Plürre dort drüben.“
Dabei zeigte er mit dem Arm zu dem tiefschwarzen Gebräu auf dem Aktenschrank.
„Kann ich verstehen, wenn Susanne das sagt“, lachte Ronni, stand auf und holte sich eine Tasse von Sybilles superschwarzem Kaffee.
„Komm, lass uns von etwas anderem reden. An welchem Fall arbeitest du zurzeit?“, wechselte Frank das Thema, nachdem sich Ronni wieder hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.
Dabei richtete er seinen Oberkörper auf, denn er war in den letzten Minuten etwas in sich zusammengesunken. Sein Blick war wieder fest und neugierig – beinahe so wie früher. Womöglich war das die Folge des neuen Lebensspenders grüner Tee.
„Okay, du möchtest also wissen, an welchen schwierigen Fällen wir uns festgebissen haben, seitdem du nicht mehr da bist? Und lass mich raten, du möchtest diese Rätsel lösen? Diese Fälle, die niemand bisher gelöst hat. Dich juckt es in den Fingern, mitzumachen. Stimmt‘s?“
Ronni hatte sich vorgebeugt und schaute Frank lachend in die Augen.
„Ja, du hast recht. Mich juckt es tatsächlich. Aber nicht in den Fingern, sondern im Kopf. Ich brauche etwas, womit sich meine Synapsen im Gehirn beschäftigen können“, dabei kratzte er sich demonstrativ seine kurzen, grauen Haare.
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, als hätte er eine unerwartete Erleuchtung.
„Apropos Rhein. Du hast recht. Ich sollte tatsächlich öfter am Rhein spazieren gehen. Dann würde ich vielleicht die Leiche dieses Industriellen finden. Ist dir der Fall von dem gekenterten Kanufahrer auf den Tisch gekommen?“, fragte Eisenstein.
Ronni erkannte in den Augen des pensionierten Kriminalhauptkommissars die gleiche Neugierde wie früher.
„Nein. Ich kenne keinen Fall von einem gekenterten Kanufahrer. Wann war das? Wenn dich das interessiert, kann ich gerne mal nebenan bei den Kollegen nachfragen.“
„Das war im Juni. Das stand doch groß in der Zeitung. Der Firmenchef Jochen Lippmann, diese Zulieferfirma für Windkraft, der Name ist mir entfallen, ist mit seinem Kanu auf dem Rhein gefahren und nicht mehr nach Hause gekommen. Die Ehefrau hat ihn bei der Polizei am nächsten Tag als vermisst gemeldet. Irgendwann hat man sein Kanu in der Nähe der Siegmündung kieloben gefunden. Von ihm keine Spur – bis heute.“
„Nein, den Fall kannte ich bisher nicht. Du scheinst ja gut informiert zu sein. Zumindest hast du den Fall ausführlich in der Zeitung verfolgt.“
Mit einem Mal wurde Ronni sehr nachdenklich. Er schaute zur Zimmerdecke hoch, als wenn er dort oben die Lösung seiner Fragen finden könnte.
„Fast die gleiche Geschichte habe ich heute Morgen gehört. Nur in der Geschichte handelte es sich um keinen Firmeninhaber, sondern um einen Vater und die Geschichte hat mir die Tochter erzählt. Dass es zweimal die gleichen Ereignisse in kürzester Zeit gibt, halte ich für unwahrscheinlich. Nein, das ist ein und dasselbe Ereignis, da bin ich mir sicher.“
Ronni erzählte seinem Freund in wenigen Worten, wie er Sarah vom Suizid abgehalten hatte und wie er sie heute Morgen unverhofft in der Straßenbahn wiedergetroffen hatte.
„Kennst du den Nachnamen dieser Sarah?“, wollte Eisenstein wissen.
„Nein. Trotzdem, ich vermute, das ist die Tochter dieses Jochen Lippmann.“
„Kann sein. Ich weiß, Jochen Lippmann hat eine Tochter, die ungefähr in dem Alter dieser Sarah sein muss. An den Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern.“
„Woher weiß du das und wieso interessiert dich dieser Fall so sehr?“, fragte Ronni verwundert.
„Ich kenne Jochen Lippmann noch aus meiner Zeit in Duisburg. Er hat seine Firma, einige Jahre bevor ich nach Bonn kam, in Bonn gegründet. Er ist ungefähr so alt wie ich. Vielleicht ein, zwei Jahre jünger. Ich kenne seine Tochter als junges Mädchen. Sie und meine Tochter waren gute Schulfreundinnen. Daher interessiert mich der Unfall – wenn es denn überhaupt ein Unfall war.“
„Was meinst du damit: Wenn es denn überhaupt ein Unfall war?“
Ronni wurde hellhörig. Hatte Frank ihn aufgesucht, um mit ihm den Unfall von Jochen Lippmann zu besprechen? War er eventuell mehr als nur neugierig? Ganz klar! Er wollte aus dem Unfall einen Fall – seinen Fall – machen.
„Überlege doch mal: Jochen Lippmann ist ein äußerst sportlicher Mann, erfahrener Kanufahrer, der bestimmt nicht in der Mitte des Stroms, in der stärksten Strömung fuhr. Außerdem ist er ein hervorragender Schwimmer. Der Rhein hatte zu dieser Zeit kein Hochwasser, im Gegenteil, der Pegelstand war unter Normalwasser gesunken. Und dann kentert er aus unbekannten Gründen und seine Leiche ist bisher nicht auffindbar? Ich sage nur: seltsam – mehr als seltsam!“
„Da könntest du mit deiner Vermutung richtig liegen. Was sollen wir deiner Meinung nach unternehmen?“, fragte Ronni reichlich naiv, obschon er Franks Antwort bereits kannte.
„Ja, was wohl? Wir haben einen Fall – einen Vermisstenfall, vielleicht sogar einen unklaren Todesfall. Wir sollten die Ermittlungen aufnehmen“, war Franks eindeutige Forderung.
„Wir? Du meinst sicher ich. Du bist dabei raus“, antwortete Ronni spontan.
„Klar, ich meine auch dich. Aber vielleicht kann ich dir ein wenig zur Seite stehen, schließlich kenne ich die Familie. Ich könnte mich zum Beispiel einmal mit der Ehefrau oder mit der Tochter unterhalten. So von Freund zu Freundin. Ist vielleicht besser, als wenn du offiziell mit der Frau und mit der Tochter sprichst.“
„Hm“, machte Ronni und nickte bedächtig.
„Vielleicht hast du recht. Ich werde bei den Kollegen nachhören, wie damals die Ermittlungen verlaufen sind. Außerdem werde ich genaue Informationen über die Firma von Jochen Lippmann einholen. Vielleicht stoßen wir auf irgendwelche Ungereimtheiten. Aber du hältst dich zurück. Du kannst gerne privat mit der Ehefrau sprechen, aber das war es dann auch. Du bist nicht mehr im Dienst.“
„Natürlich, und danke. Ich fühle mich jetzt wieder besser. Es geht doch nichts über eine interessante Aufgabe.“
Ronni war erstaunt, wie sich die mentale Verfassung seines früheren Kollegen