Harzmagie. Jürgen H. Moch
auf dem sie diese gefunden hatte. Sie hatte sich vorgenommen, sie einfach dort abzulegen, aber daraus wurde nichts. Eine junge Frau stand vor dem Grab. Sie war für den Harz zu vornehm gekleidet. Ein modischer Hosenanzug in einem Fliederton, eine schicke Bluse und teure italienische Stilettos. Sabrina blieb in einiger Entfernung stehen und verbarg sich hinter einem Baum. Die Frau hatte einen Regenschirm dabei, mit dem sie auf dem Boden herum kratzte. Das kam Sabrina sehr merkwürdig vor. Noch merkwürdiger war, dass Sabrina ein Kribbeln spürte, während sie die Frau beobachtete, die nun das Grab umrundete und dabei achtlos auf andere Gräber trat. Sabrina blickte sich um, aber alle anderen auf dem Friedhof – zwei Seniorinnen und ein alter Mann, die am Wasserhahn standen und sich unterhielten, eine Mutter mit Kinderwagen und einem Kleinkind auf einer Bank, eine Frau mit einer Harke drei Reihen weiter, die Unkraut jätete – waren abgelenkt. Niemand außer ihr beachtete die Fremde.
Als die seltsame Frau schließlich wieder vor dem Grab stand, öffnete sie ihre Handtasche und entnahm einen kleinen Gegenstand. Sabrina sog scharf die Luft ein, als sie sah, dass es eine Art Messer war, mit dem sich die Frau ohne zu zögern in die Hand schnitt und mit einer energischen Bewegung Blut auf das Grab spritzte. Sabrinas Nackenhaare begannen sich aufzustellen und sie spürte, wie die Handschuhe, die sie immer noch hielt, eiskalt wurden. Die Frau wiederholte die Geste noch mehrfach, dann steckte sie das Messer wieder weg und wickelte ein Taschentuch um ihre Hand. Sie schien zufrieden mit sich selbst zu sein, drehte sich elegant um und stelzte in großen Schritten auf den Haupteingang zu. Die anderen Friedhofsbesucher schenkten ihr immer noch keine Beachtung.
Kaum dass sie aus Sabrinas Blickfeld verschwunden war, rannte diese zu dem Grab. Als sie es erreichte, stand dort auf dem Grabstein ein anderer Name:
Theresa Kuhnert
* 12.03.1956 † 24.01.2010
»Das gibt‘s doch gar nicht!« Irritiert schaute Sabrina in die nächste Reihe und dann in die davor. Nein, sie stand in der richtigen Grabreihe, nur das Grab war weg. Vorsichtig streckte sie die Finger aus, um den Stein zu berühren, doch sie zuckte zurück, als ein brennender Schmerz sich auf ihrer Hand auszubreiten begann, noch bevor sie den Stein berührte. Sie keuchte auf.
Dann zog sie kurzerhand die Handschuhe an, die sich immer noch eiskalt anfühlten, und streckte die Finger vor. Diesmal konnte sie den Stein anfassen. Ein leises Knistern erklang und ein Netz aus leuchtenden Linien breitete sich von dem Punkt aus, wo sie den Grabstein berührte. Symbole um das Grab erglühten. Als sie die Augen zukniff, offenbarte sich für einen kurzen Moment die alte Inschrift, die sie vor ein paar Tagen gesehen hatte. Aber dann wurden auch die Handschuhe heiß, Schwefelgeruch verbreitete sich. Mit einem dumpfen Knall wurde Sabrina zurückgeschleudert und krachte unsanft mit dem Rücken gegen einen anderen Grabstein, fiel darüber und landete in einem Blumengesteck. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.
Sie brauchte ein paar Sekunden, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war tatsächlich gerade durch einen Zauber umgehauen worden. Ein echter Zauber! So etwas gab es doch gar nicht. Sie blickte hoch, konnte aber sehen, dass niemand sie beachtete. Irgendwie hatte keiner der anderen Menschen Notiz von ihr genommen. Dann erschrak sie bis ins Mark. Die fremde Frau tauchte wieder auf, blickte sich suchend um und kam dann mit großen Schritten auf das Grab zu. Sabrina suchte panisch nach einem Versteck. Direkt neben ihr befand sich ein frisch ausgehobenes Grab. Sabrina überlegte gar nicht lange und glitt hinein. Unten zog sie eilig die Handschuhe aus und steckte sie weg, dann presste sie sich gegen die eine Wand des Grabes. Es war eng, kalt und feucht, aber davon spürte sie nicht viel. Eine Menge Erde rieselte auf sie herab und begrub sie halb, doch sie wagte sich nicht mehr zu bewegen, denn nun waren die Stilettoschritte ganz nah zu hören.
Jemand schnüffelte, dann murmelte eine weibliche Stimme etwas. Wieder spürte Sabrina das Kribbeln. Sie hielt die Luft an und wiederholte in ihrem Kopf immer wieder die Worte: Du siehst mich nicht, ich bin tot! Du siehst mich nicht, ich bin tot!
Die Sekunden zogen sich wie Minuten hin, dann vernahm sie ein unterdrücktes Kichern.
Oh nein, nun hat sie mich!, dachte Sabrina. Sie schloss die Augen und wartete auf das Unvermeidliche, doch es kam anders. Eine leise Stimme meldete sich.
»Da bin ich ja noch genau im richtigen Moment gekommen, um zu verhindern, dass du erneut dein Unwesen treibst. Lass den Quatsch. Du kannst diesen Zauber nicht brechen, das solltest du eigentlich wissen. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit erneuern, damit du schön da bleibst, wo du bist. Und nun wird niemand mehr wissen, wo du liegst, man wird dich vergessen. Ich bin jetzt die Meisterin und lass mir nicht ins Handwerk pfuschen.«
Wieder vergingen lange Sekunden, dann entfernten sich die Schritte genauso schnell, wie sie gekommen waren. Sabrina hockte komplett mit Erde bedeckt in dem offenen Grab. Das taube Gefühl war noch nicht ganz verschwunden. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Sie ahnte, wie knapp sie gerade einer bösen Begegnung entgangen war. Sie wartete noch eine Weile, um ganz sicher zu sein, dann kletterte sie mühsam aus dem Grab heraus. Die ganze Erde auf ihr machte es schwieriger, als es eh schon war.
Auf allen vieren zog sie sich auf den festen Rand und richtete sich auf. Sie musste sich recken, um die Glieder wieder zu durchbluten. Die Frau war wirklich weg, aber stattdessen stand, keine fünf Meter von ihr entfernt, das Kleinkind von der Bank, wo immer noch dessen Mutter saß. Das Kind starrte Sabrina wie gelähmt mit aufgerissenen Augen an, unfähig etwas zu sagen. Es musste wirklich ein Schock sein, ohne Vorwarnung jemanden vor sich aus einem Grab klettern zu sehen. Die Tatsache, dass die Person komplett in Schwarz gekleidet und von oben bis unten voller Dreck klebte, begünstigte diesen Eindruck nur.
»Hi! Schöner Tag heute!« Sabrina fiel nichts Besseres ein und blickte zur Uhr. »Oh, so spät, nun muss ich aber los. Bis zum nächsten Mal.« Dann rannte sie in Richtung der Pforte, durch die sie den Friedhof betreten hatte. Erst jetzt löste sich das Kind aus seiner Starre und lief seinerseits schreiend zu seiner Mutter.
Wundervoll!, dachte Sabrina bei sich. Ich bin heute fast den drei Deppen in die Arme gelaufen, dann verfolgt worden, habe eine Magierin bei einem Ritual auf dem Friedhof beobachtet, bin von einem Zauber umgehauen worden, hab mich in einem Loch versteckt, bin fast entdeckt worden und nun glaubt ein Kind, dass ich ein Vampir bin, der gerade aus dem Grab geklettert ist. Außerdem renne ich schon wieder. Ich glaube, ich bin in den letzten Tagen mehr gelaufen als vorher in einem ganzen Schuljahr. Ich brauche dringend eine Dusche.
Zutaten
Emilia Wollner fühlte sich ausgelaugt und völlig fertig. Seit Tagen hatte sie nicht geschlafen, um all das nachzuholen, was man besser vorher hätte planen sollen. Die Möbelpacker waren Mittwoch spät gekommen und hatten bis tief in die Nacht gearbeitet. Sie hatte ständig zwischen den Räumen hin und her laufen müssen, damit alles an seinen richtigen Platz kam. Sie hatte es noch geschafft, einen Maler zu organisieren, der in aller Eile anrückte, um die Räume schnell noch zu streichen, bevor die Möbel hineingestellt wurden. Der Eilaufschlag, den er nahm, war unverschämt, aber es gab keine Alternative. Der Maler hielt jedoch, was er versprach. Er rückte mit drei Gesellen und zwei Lehrlingen an und holte noch einen anderen Kollegen mit einem Gesellen dazu. Und dann legten sie in Windeseile los. Sie waren gerade mit dem Erdgeschoss fertig, als der Möbelwagen eintraf, und machten dann oben weiter. Der Kollege empfahl Emilia Wollner auch noch einen Klempner für den tropfenden Wasserkopf in der Dusche. Als sie ihn anrief, wusste der schon Bescheid und versprach, gleich am Folgetag zu kommen. Die Handwerker hier im Harz schienen alle schnell zu reagieren, auch wenn Emilia sich etwas wunderte, warum das so war.
Es ging schon auf drei Uhr morgens zu, als ihr ein Zettel in die Hand fiel, den sie extra auf das Armaturenbrett geklebt hatte. Zutaten für Medizin, stand dort. Emilia fluchte so, dass es gut war, dass ihre Töchter sie nicht hören konnten. Sie fingerte ihr Handy heraus und rief die Webseite mit dem Apothekennotdienst auf. Hoffentlich hatte noch eine Apotheke Notbereitschaft. Doch sie bekam keine Webseite. Es gab hier kein Netz.
»Verdammt, Borga, was hast du mir angetan. Und das nach all dem, was ich bereit war, für dich zu geben!« Sie fuhr von ihrem Haus nach Süden Richtung Prinzenteich los und schwenkte