Harzmagie. Jürgen H. Moch
gehen!« Sabrinas Stimme überschlug sich fast, so schrie sie jetzt. Eine unsichtbare Welle breitete sich von ihr aus und drückte das Wesen gegen die Wand. Plötzlich brach ein helles Licht in den Raum, als die Tür aufgerissen wurde. Die Gestalt löste sich in eine Nebelschwade auf und verschwand aus dem Fenster.
Sabrinas Mutter stand in der Tür und starrte sie wütend an. Sabrina, immer noch in Kampfpose, blickte irritiert in die inzwischen leere Ecke, dann zu ihrer Mutter und wieder zurück.
»Was um alles in der Welt machst du für einen Höllenlärm? Du könntest ja Tote damit aufwecken. Jetzt leg dich sofort wieder hin! Ich hätte dir keinen Wein abgeben sollen und der Film war einfach zu viel, du bist ja völlig benebelt. Weißt du eigentlich, wie lächerlich du gerade in T-Shirt mit Handschuhen aussiehst?«
Erst jetzt wurde Sabrina bewusst, wie die ganze Situation auf ihre Mutter wirken musste. Hastig streifte sie die Handschuhe ab und verstaute sie in ihrem Nachtschrank in der untersten Schublade.
»Entschuldigung Mama, ich muss geträumt haben!«, stammelte sie dabei. Als diese gegangen war, legte sich Sabrina wieder ins Bett. Die Kälte saß ihr in den Knochen und sie merkte eine Erschöpfung, die bis in alle Glieder ging. Das mussten die verfluchten Handschuhe sein. Sie würde sie nie wieder anfassen.
Einige Straßen weiter, in einem von Kerzenlicht erhellten Keller, saß Theobald vor einem kleinen brodelnden Kessel, in den er gerade ein weißes Pulver geschüttet hatte. Er erschauderte und blickte sich um. Da war es schon wieder gewesen, dachte er, nur anders, noch machtvoller als heute Nachmittag.
Das Ende der Welt
Beim Abendbrot berichtete Klara wie erwartet fröhlich von ihren guten Noten. Nur eine Zwei, was hieß, dass alles andere Einser waren, bis auf Sport, aber das zählte bei ihr nicht. Und natürlich kam es, wie es kommen musste. Klara fing danach an, Elisabeth zu löchern, was sie denn für Noten hätte. Eine Weile sagte diese nichts und stopfte alles auf dem Tisch in sich hinein, dessen sie habhaft werden konnte, aber nichts davon machte sie richtig satt. Klara bemerkte offenbar nicht, dass ihre Eltern ständig Blicke tauschten. Ihr Vater sah besorgt aus, aber ihre Mutter schaute immer wieder genau auf Elisabeth, ganz so, als würde sie jedes Stück in ihrem Mund zählen. Erst als es nichts mehr zu essen gab, konnte sie ihrer Schwester nicht mehr ausweichen. Immer noch hungrig, wollte sie schon aufstehen, aber ihre Mutter bestand auf eine Familienansprache. Das Gute daran war, dass Elisabeth schon wusste, was jetzt kam, und sich so in allen Einzelheiten an den immer mehr entgleisenden Gesichtszügen von Klara ergötzen konnte. Das anschließende Streitgespräch wurde nach einer ganzen Weile von Emilia Wollner mit einem Machtwort beendet und beide Kinder auf ihre Zimmer geschickt. Klara ging unter Protest, der so laut ausfiel, dass Elisabeth ihn noch oben in ihrem Zimmer hören konnte.
Am anderen Morgen erwachte Elisabeth ganz früh. Wieder hungrig schlich sie nach unten zum Kühlschrank, nur um ihre Mutter bereits beim Packen vorzufinden. Emilia Wollner hatte dunkle Augenringe und schien geweint zu haben. Unter ihren Blicken nahm sich Elisabeth nur eine Banane und wollte sich gerade wieder aus der Küche trollen, als ihre Mutter ihr mit einem Löffel und einer nur allzu bekannten Bügelflasche in der Hand den Weg abschnitt. Sie nötigte ihr einen ganzen Esslöffel von dem Zeug auf, bevor sie sie vorbeiließ. Danach verflog Elisabeths Hunger sofort. Sie nahm die Banane mit nach oben und begann zu packen. Es hatte keinen Zweck, mit ihrer Mutter zu diskutieren. Das hatte noch nie etwas gebracht.
Trotz des frühen Packens dauerte es bis fast drei Uhr nachmittags, bis sie alles eingeladen hatten und losfahren konnten. Ein Umzugsunternehmen mit insgesamt sechs Mann tauchte auf und bekam von Michael Wollner den Schlüssel und genaue Anweisungen, was sie wie einpacken sollten.
Auf der Fahrt aus der Stadt hielten sie noch an einem Bioladen und kauften einige Dinge zum Essen. Klara, die seit dem Einsteigen nur gezetert hatte, verweigerte jeden Bissen, worauf Elisabeth sich auch ihr Essen schnappte, nachdem sie die eigene Portion eilig aufgegessen hatte.
Als sie schließlich auf dem Messeschnellweg Richtung Hildesheim fuhren, gab es auch diese Portion nicht mehr und Elisabeth bekam noch einen Löffel von der Medizin. Klara probierte alles, um ihre Eltern umzustimmen. Sie versuchte sogar, sich zu übergeben, aber es half alles nichts. Elisabeth steckte ihre Ohrstöpsel ein und machte diesmal sogar wirklich Musik an, um den Rest des Streits nicht mitzubekommen, zumindest nicht jedes Wort.
Vor der Autobahnabfahrt Seesen trübte es sich immer weiter ein, als Klara endlich den Mund hielt und trotzig aus dem Fenster starrte. Es begann heftig zu regnen, als wäre der Sommer vorbei, aber das passte zu der unterkühlten Stimmung im Auto.
Herr Wollner fuhr von der Schnellstraße ab und bog auf eine kurvenreiche Straße ein, die in den Harz führte. Elisabeth stellte erleichtert die Musik ab.
Sie passierten einen Felsen namens Hübichenstein, als der Nebel schlagartig weniger wurde und hier und da Sonnenstrahlen durch den Dunst stachen.
Ein Schild wies den Weg nach Bad Grund, doch ihr Vater fuhr weiter. Er machte gerade eine verärgerte Bemerkung über einen Drängler hinter ihm, der wegen des Gegenverkehrs nicht überholen konnte. In einer langgezogenen engen Rechtskurve passierten sie auf der linken Seite einen Parkplatz und ein Museum. Dort schien es eine dieser Höhlen zu geben. ›Iberger Tropfsteinhöhle‹ war dort zu lesen. In der Kurve überholte sie der Wagen. Michael Wollner regte sich fürchterlich auf, aber der silberne Polo mit einem jungen, vermutlich einheimischen Mann hinter dem Steuer hatte gekonnt Schwung geholt und schoss in wenigen Sekunden an dem Passat der Wollners vorbei, gerade noch rechtzeitig, um vor einem entgegenkommenden Bus wieder einzuscheren. Elisabeth, die auf der Rückbank hinter ihrer Mutter saß, konnte nun die Kurve gut überblicken. Es hatte sich eine ganze Schlange von Autos hinter ihnen gesammelt, so langsam fuhr ihr Vater.
»Vielleicht sollten wir einmal halten und die alle vorbeilassen!«, schlug sie vor.
»Ja, wie denn? Hier gibt es keinen Parkplatz und ich fahre schon, so schnell ich kann.«
»Dann dreh um und fahr zurück nach Hause«, fiel nun Klara wieder ein.
»Ruhe da hinten!«, brüllte ihr Vater, doch jetzt legte Klara erst so richtig los.
Zwei Kurven weiter erreichten sie auf der linken Seite einen kleineren Parkplatz. Herr Wollner zog den Wagen raus, weil gerade kein Gegenverkehr kam, und hielt abrupt an, dass alle durchgeschüttelt wurden. Während die nachfolgenden Autos Fahrt aufnahmen und an ihnen vorbeisausten, stieg ihr Vater aus und ging ein paar Schritte von dem Auto weg. Er drehte ihnen den Rücken zu, aber sie hörten ihn deutlich fluchen.
Emilia Wollner schnallte sich ab und drehte sich nach hinten. Sie wirkte sehr ernst, doch Klara beachtete sie gar nicht.
»Ich will nach Hause, ihr spinnt alle miteinander. Ich will in mein Zimmer, ich will nicht in den Harz, ich will in die Stadt.« Klara wurde nun regelrecht hysterisch. »Ihr macht das nur, um mich zu ärgern, ich bin die Allerbeste in meinem Jahrgang. Ich will, dass ihr mich zurückbringt. Ihr seid nicht meine Eltern! Ihr seid echte Monster!«
Patsch!
Elisabeth hatte die Bewegung ihrer Mutter gesehen, bevor diese ausholte, aber sie war so sprachlos, dass sie nichts tun konnte. Ihre Mutter hatte noch nie die Hand gegen Klara erhoben. Doch genau das war eben gerade passiert. Klara hatte sich die allererste Ohrfeige ihres Lebens eingefangen. Emilia Wollner funkelte Klara mit Tränen in den Augen und geröteten Wangen wütend an, sodass diese sich nur noch traute zu wimmern.
»Sag das nie, nie wieder oder ich vergesse mich! Und jetzt halt die Klappe! Und du, grinse nicht so unverschämt, sonst fängst du dir auch noch eine!«
Elisabeth merkte, dass sie gemeint war, biss sich auf die Lippe und wandte den Blick wieder aus ihrem Fenster, während Klara nur leise in sich hinein schluchzte.
Die Autoschlange hatte sie inzwischen passiert. Emilia Wollner stieg aus und ging zu ihrem Mann. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis beide zum Auto zurückkamen. So hatte Elisabeth ausgiebig Zeit, den Wald zu mustern. Er hatte etwas unheimlich Beruhigendes an sich.