Harzmagie. Jürgen H. Moch

Harzmagie - Jürgen H. Moch


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bis ihr ganzer Körper schmerzte. Tränen füllten ihre Augen und liefen über das Gesicht. Sie bog in die Straße ein, in der sie wohnte, indem sie über den Spielplatz abkürzte, der an der vorderen Ecke lag. Über den Zaun setzte sie mühelos hinweg und auch über die lange Balkenwippe, auf der sie als Kind so gerne gesessen hatte. Eine Mutter, die vor der Rutsche stand, drehte sich zu ihr um und schüttelte nur verwundert den Kopf. Ihr Kind stand oben auf dem Turm und kaute an einem Stofftuch, das es in der Hand hielt, und blickte Elisabeth nach. Da flog diese auch schon über den zweiten Zaun hinweg und sprintete auf ihr Heim zu. Das Wohnhaus der Wollners lag auf der linken Seite. Der Vorgarten war von einer hohen Hecke umrahmt, sodass man die blau gestrichenen Fensterrahmen des Erdgeschosses von der Straße aus kaum sehen konnte.

      Elisabeth drückte mit so viel Schwung das Tor auf, dass es heftig gegen die Mauer knallte und zurückschlug, doch da war sie schon hindurch. Ihre Tasche riss sie dabei vor dem Bauch hoch, um den Schlüssel zu suchen, aber sie fand ihn in ihrer Nervosität nicht. Ihr fiel es immer schwerer, denn ihre Hände krampften heftig zusammen und sie konnte gar nicht mehr richtig greifen. Eine Bürste und der zusammenklappbare Regenschirm fielen heraus. Mit gekrümmten Fingern hämmerte sie auf die Klingel. Sie wollte rufen, doch aus ihrem Mund kam nur noch Schluchzen und Röcheln.

      Plötzlich überlagerte ein neues stärkeres Gefühl die Panik, die sie gerade noch verspürt hatte: heftiger Schmerz. Die Beine knickten ihr ein und sie sackte in sich zusammen. Welle um Welle schoss durch ihren Körper. Sie zuckte unkontrolliert. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und ihr Vater schaute heraus. Michael Wollner war ein großer, hagerer Mann mit hellbraunen Haaren, einer altmodischen Nickelbrille und vielen kleinen Lachfältchen, die sich allerdings schlagartig in eine ernste Sorgenmiene verwandelten, als er sah, wer da so wild geklingelt hatte.

      »Elisabeth! Oh, mein Gott! Was ist passiert?« Sein Blick erfasste die Tasche, die herausgefallenen Sachen und seine zusammengekrümmte Tochter auf den Stufen. Unerwartet verschwand er wieder und man hörte ihn durch den Flur rennen. Nur wenige Sekunden später tauchte er mit einer kleinen Bügelglasflasche auf. Er drehte Elisabeth auf den Rücken, nicht ohne ein paar heftige, unkontrollierte Schläge abzubekommen. Sie grollte, wimmerte, jaulte wie von Sinnen. Als sie wieder heftig nach Luft schnappte, goss er ihr entschlossen den Inhalt der Flasche in den Mund. Ein gurgelndes Geräusch ertönte, dann hustete Elisabeth und besprühte dabei ihren Vater mit einem Restschwall der Medizin. Aber das Meiste davon schien seinen Weg in ihren Hals gefunden zu haben. Sie bäumte sich noch einmal abrupt auf, dann erschlaffte ihr ganzer Körper.

      Sorgenvoll betrachtete Michael Wollner sie. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte sie sanft an der schweißnassen Schulter, zog sie aber erschrocken zurück, als Elisabeth schlagartig wieder die Augen öffnete und wie ein Tier vor Schmerz aufschrie. Die Reaktion war nur kurz und heftig, dann sackte sie gleich darauf wieder in sich zusammen. Einige Momente später versuchte er es erneut und als Elisabeth sich nicht mehr bewegte, nahm er sie vorsichtig auf und trug sie ins Haus.

      Es dauerte einige Minuten, in denen die Tür offen stehen blieb. Schließlich kam Michael Wollner wieder heraus und sah sich um. Niemand schien von dem Vorfall große Notiz genommen zu haben. Er machte sich daran, ihre am Boden verstreuten Sachen aufzulesen. Dabei fielen ihm das Zeugnis und ein Brief in die Hände, die beide ziemlich zerknittert aussahen. Er überflog kurz die Zahlen und seufzte nun ein hörbares »Oje!«. Als von drinnen ein Krachen erklang, beeilte er sich, alle Sachen einzusammeln, und verschwand im Haus.

      »Eine ganze Flasche? Bist du wahnsinnig? Das kann sie umbringen!«, erklang Emilia Wollners aufgebrachte Stimme.

      »Nein, nicht eine ganze. Das Meiste davon hat sie mir gleich wieder auf das Hemd gespuckt. Der Rest ist leider dann ausgelaufen. Ich war mir nicht sicher, wie viel sie braucht. So heftig war es noch nie.«

      »Ausgerechnet jetzt. Ihre eigene Flasche hatte sie doch heute Morgen dabei. Die wird sie doch hoffentlich nicht verloren haben. Ich habe fast keine Reserve mehr.«

      Währenddessen öffnete Elisabeth vorsichtig ein Auge zur Hälfte. Soweit sie erkannte, lag sie in ihrem Zimmer auf dem Bett, denn sie konnte im Halbdunkel einen Teil ihrer Kommode und die linke untere Ecke des Fensters erkennen. Die Jalousie war fast zugezogen. Die Sonne stand tief und warf durch die Ritzen Streifen gelben Lichts auf die Wand. Es ging offenbar schon auf den Abend zu. Die Stimmen ihrer Eltern drangen an Elisabeths Ohren, während ihr Gehirn sich mühte zu verstehen. Ein bleischweres Gefühl drückte sie in ihre Matratze und ein anhaltendes Brennen zog sich von ihrem Mund über die Kehle bis in den Magen. Erinnerungen an intensiven Schmerz im ganzen Körper schossen in ihr hoch. Elisabeth stöhnte schwach. Der Versuch, sich zu bewegen, scheiterte. Es fühlte sich an, als hätte sie am ganzen Körper Muskelkater. Arme und Beine reagierten einfach nicht auf die Anweisungen ihres dröhnenden Gehirns. Sie gab es auf. Die Stimmen von unten erschienen ihr so laut, als stünden ihre Eltern direkt neben ihr.

      »Wir sollten sie wirklich zu einem anderen Arzt bringen. Ich sage das schon lange, aber du willst ja nicht hören. Man wird ihr im Krankenhaus Annastift oder besser noch im International Neuroscience Institute helfen können.«

      »Nein!« Die Stimme ihrer Mutter erklang schneidend und beendete das Gespräch abrupt.

      Die Treppenstufen quietschten. Jemand kam nach oben. Elisabeth schloss das Auge wieder. Sie wollte niemanden sehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie ins Haus gekommen war. Das Letzte, was sie noch wusste, war, dass sie gegen die Gartenpforte geprallt war, danach lag alles in dunklem Schmerz.

      Vorsichtig öffnete sich ihre Zimmertür. Ihre Mutter betrat leise den Raum.

      »Betsy-Schatz, bist du wach? Wie geht es dir?«

      Sie kam näher und setzte sich neben ihr auf das Bett. Elisabeth konnte die Schritte auf dem Boden hören, das Rascheln des Stoffes und auch das Atmen ihrer Mutter. Alles erschien ihr unnatürlich laut. Als sie Platz nahm, stach der Blütengeruch ihres Parfüms Elisabeth in die Nase, aber dann bemerkte sie auch einen erdigen Geruch mit einer bitteren Note, die sie an den Waldboden unterhalb einer Eiche erinnerte. Ihr Geist spielte ihr sicher einen Streich.

      »Sie schläft wohl noch!«, meldete sich die Stimme ihres Vaters vom Flur aus.

      »Sie ist gestürzt, ich muss sie untersuchen. Geh bitte raus und mach die Tür zu. Kümmere dich um Klara, wenn sie gebracht wird. Sie braucht mit dem Gips sicher Hilfe.« Die Stimme ihrer Mutter ließ keinen Zweifel, dass sie verärgert war und es ernst meinte. Eine Pause entstand.

      »In Ordnung, wenn du meinst!«, kam zögerlich die Antwort ihres Vaters und er schloss die Tür.

      Elisabeth spürte die Hand ihrer Mutter auf ihrem Kopf. Sie sprach mehr zu sich als zu Elisabeth.

      »Du Arme, was hast du nur angestellt? Warum hast du bloß deine Medizin nicht zur Hand gehabt? Die Krämpfe können dir ernsthaft schaden.«

      Dabei begann sie, Elisabeth, die so tat, als wäre sie immer noch völlig weggetreten, vorsichtig auszuziehen. Danach tastete sie ihre Tochter sorgfältig ab. Elisabeth hätte sich am liebsten gewehrt und ihre Mutter angeschrien, sie solle sie in Ruhe lassen, aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Besonders unangenehm wurde es, als ihr sogar der Mund geöffnet und ein Augenlid kurz angehoben wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit seufzte Emilia Wollner schließlich erleichtert auf.

      »Es ist alles in Ordnung, denke ich. Nichts gebrochen, keine Schrammen, keine Prellungen. Du hattest diesmal viel Glück. Wenn Papa nicht zu Hause gewesen wäre ... nicht auszudenken!« Sie stand wieder auf und ging ein paar Schritte auf die Tür zu. Dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Vielleicht hilft es dir, zu wissen, dass wir einen Ausflug machen, nein vielmehr ziehen wir um. Du kannst diese Schule hinter dir lassen und dort neu beginnen. Wir fahren bereits morgen hoch in die Berge. Ich muss noch alles packen. Die Möbel kommen dann per LKW nach. Du wirst es lieben. Es wird ganz toll!«

      Elisabeth hörte die Worte, die ihre Mutter an sich selbst richtete, konnte sie aber nicht wirklich glauben. Ein Umzug? So kurzfristig?


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