Harzmagie. Jürgen H. Moch
zurück. Ihre Mutter glaubte nicht wirklich, dass alles ganz toll werden würde, das konnte sie an dem leichten Vibrieren unterhalb des positiven Klangs in ihrer Stimme hören. Es schien eher so, als wenn sie versuchte, sich selbst zu motivieren. Der Versuch scheiterte kläglich, fand Elisabeth.
»Dein Vater wird in Clausthal an der Universität dozieren und wir werden sicher schnell ein Haus finden mit einem schönen Garten. Ich habe da schon eine Empfehlung von einer guten Freundin bekommen. Du wirst schon sehen, es wird ganz … wundervoll. Schlaf dich jetzt aus.« Während sie das sagte, begann ihre Stimme immer mehr zu wanken. Sie beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, aber danach quietschten die Stufen nicht gleich. Ihre Mutter schniefte vor der Tür und putzte sich die Nase. Dann erst setzten die vertrauten Geräusche der Stufen ein, als sie nach unten ging.
Clausthal? Liegt das nicht im Harz? Elisabeths Gehirn nahm unter Protest die Arbeit wieder auf. Sie würde alle Freunde verlieren, die gewohnte Umgebung und die Vorzüge der Stadt. Sie würden sich dort verstecken vor diesen Anderen, so viel war ihr jetzt schon klar. Sie zogen ans Ende der Welt.
Alles, was Elisabeth über den Harz wusste, beschränkte sich darauf, dass es das höchste Gebirge Norddeutschlands war und die innerdeutsche Grenze früher hindurch lief. Wie hieß noch der höchste Berg? Sie hatte das im Heimat- und Sachunterricht lernen müssen, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Im fünften Schuljahr war ihre Klasse im Schullandheim am Torfhaus gewesen. Ihre Mutter hatte sie genau in der Woche wegen einer dringenden Untersuchung bei Dr. Borga zu Hause behalten. Damals war Elisabeth zunächst traurig gewesen, nicht mitfahren zu können. Die anderen hatten nach der Fahrt berichtet, dass sie in Höhlen und Bergwerksmuseen hatten gehen müssen. Fast alle hatten sich auf den langen Wanderwegen zu Orten, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte, Blasen gelaufen. Elisabeth versuchte, sich zu erinnern. Gab es nicht den Blocksberg? Da, wo die Hexen zu Walpurgis auf ihren Besen hinflogen? Nein, das war nur eine Geschichte von Ottfried Preußler, oder nicht? Die kleine Hexe, ein Kinderbuch, das sie einmal bei einer Freundin gelesen hatte. Das Märchen war recht witzig gewesen und genau das Richtige für träumende Kinder. Sie träumte aber nicht. Für sie würde es wirklich in den Harz gehen.
Elisabeth öffnete die Augen. Die Sonnenstrahlen waren schwächer geworden und krochen als schmale Streifen an der Wand empor. Bald würde die Sonne untergehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie einen unbändigen Hunger verspürte. So hungrig war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie musste etwas essen.
Ein erneuter Versuch, sich zu bewegen, gelang ihr endlich, aber der Preis waren heftige Gliederschmerzen und ein erneutes Brummen im Kopf. Elisabeth kämpfte verbissen weiter. Sie konnte und wollte nicht mehr warten. Es passierten haufenweise Dinge, ihr ganzes Leben schien sich an einem Tag umzukrempeln und sie lag nutzlos im Bett. Sie biss die Zähne aufeinander und schwang sich herum, bis sie den Halt verlor, aus dem Bett rollte und auf allen vieren auf dem Boden landete. Die offenen Haare fielen ihr ins Gesicht. Für einen Moment raubten ihr die Kopfschmerzen die Sicht. Sie atmete stoßweise durch die Nase, bis sie sich wieder gefangen hatte. Langsam hob sie die rechte Hand, ergriff ihren Bettpfosten und zog sich daran hoch. Die Sachen, die sie angehabt hatte, hatte wohl ihre Mutter mitgenommen. Jedenfalls waren diese nirgends zu sehen. Wie eine Betrunkene tastete sie sich vorsichtig zur Kommode und zog die Schubladen auf. Während sie sich anzog, fiel ihr Blick in den Spiegel.
Von der anderen Seite schaute ihr eine Person mit einem trotzigen Gesichtsausdruck entgegen. Mit den verwuschelten offenen Haaren sah sie verwegen aus, fast schon wild. Sie griff nach der Bürste, hielt dann aber inne. Mit Kopfschmerzen war es keine gute Idee, sich Knoten aus den Haaren zu bürsten. Stattdessen griff sie nach einem Haargummi. Während sie es sich um ihre Mähne wand, hörte sie draußen vor dem Haus ein Auto anhalten. Türen klappten und kurz darauf klackte die Gartentür. Klara wurde gebracht. Sie hatte sicher noch keine Ahnung, was alles passiert war. Elisabeth würde es ihrer jüngeren Schwester jedenfalls nicht erzählen.
Seit sie zurückdenken konnte, hatten sich beide Schwestern einen ungleichen Kampf geliefert. Klara war häufig krank, unsportlich und so ungeschickt, dass sie in ihrem kurzen Leben bereits mehrere Knochenbrüche gehabt hatte. Aktuell trug sie wegen eines Wadenbeinbruchs am linken Bein einen Gips. Dafür war sie aber mit einem Wissensdurst gesegnet, der ihr trotz der vielen Fehlstunden in der Schule Bestnoten bescherte. Und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre größere Schwester genau das spüren zu lassen. Auch diesmal, so ahnte Elisabeth, würde es nicht lange dauern, bis sie sie wegen ihres Zeugnisses drangsalierte. Dafür hatte sie sich schon mehrfach mit Knuffen und Remplern revanchiert. So ging mindestens einer der vielen Knochenbrüche direkt auf ihr Konto. Das hatte ihr damals richtig leidgetan. Aber das lag nun schon über sechs Jahre zurück.
Was Elisabeth am meisten wurmte, war, dass Klara immer Recht bekam. Sie provozierte zumeist so lange, bis Elisabeth etwas tat und schließlich den ganzen Ärger dafür bekam. Sie spürte, wie sie immer wütender wurde, aber das vertrieb die Kopfschmerzen zum großen Teil. Ihr Blick wurde klarer, als sie sich schließlich vorbeugte und direkt in den Spiegel schaute. Einen Moment irritierte sie, was sie sah, denn sie sah immer noch desolat aus, aber in ihren Augen lag das Funkeln eines wilden, erwachenden Geistes, der sich nicht mehr beugen wollte.
»Heute wirst du dich wundern, Schwesterherz. Ich weiß diesmal mehr als du«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit. Getrieben von einem knurrenden Magen ging sie schließlich nach unten, um etwas zu essen.
Waldpilzomelett à la Binsenkraut
Im ersten Stock der Bergapotheke roch es himmlisch. Theobald saß auf einem hohen Drehhocker direkt am Küchentresen. Sein Blick schweifte umher. Die hypermoderne Küche wollte nicht so recht zu den alten Wänden passen, überlegte er nicht zum ersten Mal. Es kam ihm falsch vor, dass seine Mutter auf Mikrowelle und Induktionsherd abfuhr, wo es doch besser zu ihr passen würde, in einem offenen Kessel über dem Lagerfeuer zu kochen. Die moderne Aufmachung täuschte nicht darüber hinweg, dass hier eine äußerst selbstverliebte, aber auch talentierte Hexenköchin herumwerkelte. Für ihr göttliches Essen war er jedoch bereit, alles zu verzeihen und jeden zu belügen. Es war seine große Schwäche. Er hatte noch nie etwas bei ihr bekommen, was nicht vorzüglich schmeckte. Gerade brutzelten für sein Lieblingsessen Maronen und Steinpilze in einer Pfanne mit einigen Zwiebelspalten und Kräutern, die aus dem eigenen Garten hinter dem Haus stammten. Anna Binsenkraut stand breitbeinig am Herd und schwang den Kochlöffel. Sie hatte den Apothekermantel gegen eine Schürze vertauscht, trug aber immer noch das viel zu knappe Kleid, sodass Theobald peinlich berührt wegsah. Sie sang beim Kochen leise vor sich hin – zumindest würde das jeder andere denken. Aber Theobald wusste, dass sie ständig ein wenig Magie bei der Zubereitung einsetzte. Sie konnte es generell nicht lassen, was ihnen schon mehr Probleme bereitet hatte, als er zählen konnte. Er hatte es ihr mehr als verziehen, dass sie zur Strafe in den Harz verbannt worden war. Im Grunde war es für ihn ein Segen, denn hier schaute keiner mehr so genau hin, was passierte. Das Wichtigste war, dass die Menschen nichts mitbekamen, und das taten sie nicht. Sie waren so dumm. Theobald grinste unwillkürlich darüber. Auch er hatte seine Geheimnisse, von denen nicht einmal seine Mutter wusste. Noch in Gedanken schob er die Hand unter seinen Pullover und tastete nach dem Amulett seiner Großmutter. Es hing noch dort. Der schwere Opal, umrahmt von altem Silber, schmiegte sich an seine Brust. Kein anderer Junge hätte dieses Schmuckstück freiwillig getragen, dafür sah es zu sehr nach alter Frau aus. Aber Theobald wusste es besser, er kannte die Kraft des Amulettes, welche ihm erlaubte zu sein, wer er war.
Es zischte, als das Ei in die Pfanne floss und die Pilze einfasste. Achtlos warf Anna Binsenkraut die Schüssel direkt in die Spüle.
»Wir können gleich essen, es dauert nur noch drei Minuten. Deck doch schon einmal den Tisch!«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Rasch deckte er den Tisch und schnitt noch dicke Kanten von dem frischen Brot ab, das er heute geholt hatte.
Dabei schweiften seine Gedanken unwillkürlich zu den Geschehnissen am Nachmittag. Er bekam ein schlechtes Gewissen, denn er wusste, dass er vor den drei anderen Jungen geflohen war. Als er daran dachte, wen die drei statt seiner erwischt hatten, wurde