Harzmagie. Jürgen H. Moch

Harzmagie - Jürgen H. Moch


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um ihren verstorbenen Mann, Bruder oder einen anderen männlichen Verwandten handeln musste und sie gerade von seinem Grab kam. Die Friedhofbesucherin hatte dort anscheinend Selbstgespräche geführt. Die alte Frau wandte sich noch einmal um und lächelte sie an.

      »Sie haben da einen schönen Mantel, meine Liebe, genauso einen hatte Ernst-Gustav auch, als er noch dem Führer gedient hat. Mir wäre der ja zu warm bei dem Wetter. Gießen Sie die Blumen aber nicht zu stark, es wird heute noch regnen, auch wenn es nicht danach aussieht.« Noch während sie weiterredete, wandte sich die Seniorin ab und ging mit wackeligen Schritten den Weg zur Erzstraße hinunter. Auf halbem Wege blieb sie nochmal stehen und rief ihr über die Schulter zu: »Ach, was ich beinahe vergessen hätte: Alles Gute zum Geburtstag!«

      Sabrina, die ihr nachgeblickt hatte, klappte nun sprachlos der Unterkiefer herunter. Wer war die Alte? Kannte sie die Frau? Aber woher? Heute war ihr Geburtstag, aber bis auf ihre Eltern wusste das vermutlich niemand. Irgendwie war ihre Lust auf den Friedhof verflogen.

      Sie verwarf den Gedanken, sich auf eine Bank zu setzen, und stapfte Richtung Haupteingang. Während sie noch krampfhaft zu erraten versuchte, woher sie diese alte Frau kannte, kam sie an einem Grab vorbei, auf dem frische Blumen standen. Es wäre ihr nicht sonderlich aufgefallen, wenn nicht auf dem Grabstein ein paar weiche, schwarze Damenlederhandschuhe gelegen hätten, gerade so, als wenn sie jemand vergessen hätte. Sabrina blieb stehen und blickte auf den Stein. Dort stand:

      Ernst-Gustav Steiger, Lt. d. R.

      * 02.05.1905 † 07.05.1945

       Sophie Wilhelmine Steiger

      * 22.07.1909 † 22.07.1999

      Sabrina las die Inschrift mehrmals. Den Mann kannte sie nicht, aber die verstorbene Frau war nicht nur am selben Tag geboren und gestorben, sondern war genau an dem Tag gestorben, an dem sie vor sechzehn Jahren geboren worden war. Und heute war der 22.07.2015 – ihr Geburtstag. Das konnte doch alles kein Zufall sein!

      Noch größer wurden ihre Augen, als sie den Namen nochmals las. Sabrina trug den gleichen zweiten Vornamen wie sie: Wilhelmine. Sabrina mochte den Namen nicht. Wie hatte sie ihre Mutter schon verflucht, aber diese hatte immer wieder gelächelt und ihr gesagt, dass sie diesen Namen zu Ehren ihrer Urgroßmutter trug. Ihr Blick fiel wieder auf die Handschuhe. Sie mussten der alten Dame gehören. Kurzentschlossen griff sie danach und rannte durch die Pforte zur Erzstraße zurück. Doch von der alten Frau war weit und breit nichts zu sehen. Sabrina blieb auf der Straße stehen und keuchte. Sie war einfach keinen Sport gewöhnt und nun war sie zum zweiten Mal in kurzer Zeit völlig durchgeschwitzt und aus der Puste. Zur Abkühlung trat sie in den Schatten eines Hauses und atmete tief durch. Erst jetzt untersuchte Sabrina die Handschuhe etwas genauer. Wie weich sie sich anfühlten, fast wie Haut. Ihre Finger glitten bewundernd darüber. Sie waren perfekt und vermutlich sehr teuer. Dabei kam ihr ein Gedanke.

      Manchmal nähten die Frauen Namensschilder in ihre Kleidungstücke. Tatsächlich fand sich auf der Innenseite des Futters ein angenähtes Stück Stoff mit aufgestickten Initialen: S.W.S.

      »Sophie Wilhelmine Steiger«, hauchte Sabrina. Dann schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein. Nach einer Pause kam ihr ein anderer Gedanke und sie sagte zu sich selbst: »Oder: Sabrina Wilhelmine Schubert«. Sie zog kurzerhand einen davon an. Er passte wie angegossen. Das gab es doch nicht. Sabrina war abergläubisch veranlagt und hatte genug Fantasy- und Gruselromane gelesen, um an mehr, als nur Zufall zu glauben. Trotz des Mantels wurde ihr kalt und sie blickte sich hastig um, aber niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Wenn sie die alte Frau nicht wiedersah, würde sie die Handschuhe behalten, dachte sie bei sich, während sie den einen von der Hand zog, sich wieder umdrehte und zurück zum Friedhof ging. Als sie erneut an dem Grabstein vorbeikam, blieb sie noch einen Moment stehen.

      »Ich gebe sie zurück, ich verspreche es. Ich weiß nur nicht wie!« Sie wartete noch etwas, ganz so, als erhoffte sie sich eine Antwort, dann steckte sie die Handschuhe ein. Reflexartig griff sie nach einer der Gießkannen und goss die Blumen. Sie wusste nicht warum, aber es kam ihr richtig vor.

      Nachdem sie die Kanne zurückgebracht hatte, ging sie weiter zum Haupteingang und bog dort in die Schulstraße Richtung Universitätshauptgebäude ein. Die Straße führte direkt auf das Kaufhaus Heinze zu. Tief in Gedanken an die alte Frau versunken zog sie die Handschuhe aus ihrer Manteltasche und streifte sie über. Sie fühlten sich wie eine zweite Haut an, man spürte sie fast gar nicht. Und sie sahen absolut cool aus. Sie kam am Kaufhaus an, immer wieder den Blick auf die Handschuhe gerichtet. Kurz bevor sie es betrat, verließ gerade ihr Klassenkamerad Theobald Binsenkraut die Bäckerei Biel nebenan. Er war ein Streber in Naturwissenschaften und vermutlich der Einzige in der Klasse, der ab und zu mit ihr redete. Außerdem war er auch jemand, der vermutlich nicht in den Urlaub fuhr. Sie wollte ihm gerade einen Gruß zurufen, da bemerkte sie die drei anderen Jungen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite die A-Roe, wie die Einheimischen die Adolph-Roemer-Straße kurz nannten, entlang kamen. Vinzenz Lederer war groß, breitschultrig und hatte einen Hammerkopf, den er fast kahl rasiert hatte. Er trug schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, wie das auch Neonazis so gerne machten. Keiner an der Schule wusste, warum ausgerechnet er mit den türkischen Zwillingen Alim und Ojan so gut klarkam. Sabrina hatte die Theorie aufgestellt, dass mentales Vakuum sich – wie schwarze Löcher – gegenseitig anzog. Das hatte ihr viel Gelächter von der Klasse eingebracht, aber leider auch einen brutalen Schubser in die Schulhecke eine Woche später, weil die drei so lange gebraucht hatten, zu verstehen, dass sie gemeint waren.

      Sie ging schnell in den Eingang des Kaufhauses, in dem an der rechten Seite ein scheinbar uralter Herr in grauem Anzug die ankommenden Gäste freundlich begrüßte und die gehenden ebenso verabschiedete, diese aber mit einem kritischen und wachen Auge musterte, ob sie auch gezahlt hatten. Der alte Herr Heinze war der Besitzer des einzigen Kaufhauses mit Rolltreppe in Clausthal. Er erledigte den Türsteherjob gleich selbst mit. Ein Wahrzeichen seines Hauses. Sabrina lehnte sich an die Wand und schielte um die Ecke. Sie wurde sich des erstaunten Gesichts von Herrn Heinze bewusst, ignorierte aber seinen Blick, weil sie aus sicherer Deckung beobachten wollte, was jetzt passieren würde.

      Theobald steckte gerade ein Brot beim Gehen in eine Tasche und hatte die anderen nicht bemerkt. Erst als diese die Straße querten und von einem Auto dafür angehupt wurden, bemerkte er sie. Für einen Moment blickte er erschrocken, dann drehte er auf dem Absatz um und floh wieder in die Bäckerei. Die anderen drei lachten auf und schlenderten langsam auf das Geschäft zu, als hätten sie alle Zeit der Welt. Sie bauten sich davor auf. Theobald würde ihnen nicht entkommen.

      »Wollen Sie Ihrem Freund nicht helfen? Sie kennen ihn doch, oder?«

      Sabrina zuckte zusammen. Herr Heinze war vorgetreten und stand nun neben ihr. Während Sabrina noch nach Worten suchte, wandte er sich bereits mit einer bestimmenden Geste einem Studenten zu, der es nach vorne gebeugt mit dickem Rucksack allzu eilig hatte, ins Freie zu kommen.

      »Die Kasse ist im Erdgeschoss gleich auf der rechten Seite, junger Mann. Sie können sie gar nicht verfehlen!«

      Der Student wurde bleich, nickte aber und hastete wieder hinein. Mit einem überlegenen Lächeln wandte sich Herr Heinze wieder an sie.

      »Es ist doch ganz leicht. Sie müssen nur die drei kräftigen Burschen verjagen.«

      »Äh, ich weiß nicht wie, Herr Heinze. Die sind richtig fies, müssen sie wissen.«

      »Papperlapapp, Jungs sind Jungs. Ich war schließlich selbst mal jung.«

      Sabrina konnte sich bei diesem kleinen, älteren Mann mit schütterem Haar nicht vorstellen, dass er jemals jung gewesen sein sollte. Aber er musste es gewesen sein, irgendwann. Seit sie denken konnte, stand er hier, auch schon, als sie ein kleines Kind mit zwei Zöpfchen gewesen war und an der Hand ihrer Mutter lief. Er hatte immer gleich alt ausgesehen, fast schon zeitlos. Wie ein Vampir, schoss es ihr durch den Kopf, nur dass er auch bei Tag hier stand. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals nicht da war oder nicht mehr da sein würde.

      »Nun, was ist? Brauchen Sie etwa Hilfe?«

      »Ich wäre dankbar für jede Hilfe.« Sabrina versuchte zu lächeln.

      »Na,


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