Harzmagie. Jürgen H. Moch

Harzmagie - Jürgen H. Moch


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Bescheinigungen vorlegen müssen. Sie litt an einem seltenen Nervenleiden, hatte man ihr gesagt. Aber manchmal dachte sie, dass sie sich von einem Junkie gar nicht so sehr unterschied. Sie wusste, dass die Alkis am Bahnhof auch zittrige Hände hatten, wenn sie mit einem Pappbecher in der Hand die Leute um einen Euro anbettelten. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, was diese Leute so empfanden. Über das Zittern fühlte sie sich irgendwie mit ihnen verbunden. Deswegen hatte sie auch Mitleid. Auf einem Klassenausflug hatte sie einem Mädchen in abgerissenen Klamotten, das höchstens ein paar Jahre älter war als sie, etwas von ihrem Taschengeld gegeben. Die Klassenkameraden hatten sie deswegen aufgezogen, aber die blutunterlaufenen Augen des Mädchens hatten etwas seltsam Vertrautes an sich gehabt und für einen Moment einen dankbaren Ausdruck angenommen. Dann hatte das Mädchen sich zu den anderen umgedreht, eine unflätige Gebärde gemacht und sie vulgär beschimpft. Elisabeth erinnerte sich nicht mehr an andere Details, nur an diesen Glanz in ihren Augen. Irgendetwas Gequältes hatte darin gelegen, das man als Gesunder kaum verstehen konnte.

      In diesem Moment ruckelte die Straßenbahn wieder und schüttelte alle Fahrgäste ordentlich durch. Elisabeth nutzte die Gelegenheit und drängelte sich kurzentschlossen zum Ausgang durch. Ab hier konnte sie auch durch die Eilenriede laufen. Da war es sicher etwas kühler und vor allem entging sie so dem vorlauten Zwerg, der sie gerade angesprochen hatte. Außerdem gefiel ihr Hannovers Stadtpark. Er war relativ groß, jedenfalls groß genug, um ein paar Stunden aus der Stadt zu verschwinden. Ein verlockender Gedanke.

      Die Tür hatte sich noch nicht ganz geöffnet, da sprang sie schon hinaus, wobei sie versehentlich einen untersetzten Mann mit Bomberjacke anrempelte. Dieser fluchte laut und drückte sie beiseite, um seinerseits einzusteigen. Das Fläschchen entglitt ihren Fingern. Sie sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie es auf der Kante des Bahnsteigs aufschlug und in viele kleine, glitzernde Stücke zersprang. Hilflos beobachtete Elisabeth, wie die letzten Scherben durch die vordrängenden Fahrgäste zertreten wurden und in das Gleisbett fielen. Nur ein kleiner Fleck des ehemaligen Inhalts blieb auf der Kante zurück und lief langsam auseinander.

      Allein und verloren stand sie auf dem Bahnsteig und starrte auf den Boden. Auch das noch! Der Tag schien sich komplett gegen sie gewandt zu haben. Ihre Medizin war wichtig. Sie hatte zwar gerade einen Schluck getrunken, aber sie sollte stets etwas für den Notfall bei sich tragen. Sie befand sich schon so lange sie denken konnte in Behandlung. Alle paar Wochen musste sie mit ihrer Mutter zu Frau Dr. Borga, welche sie ganz genau untersuchte und ihrer Mutter dann wieder neue Medizin mitgab.

      Dr. Borga war eine Ärztin mit einer Vorliebe für ungewöhnliche Behandlungsmethoden. Neuro-Homöopathische Praxis – alternative ganzheitliche Heilmethoden stand auf ihrem Schild. Der Behandlungsraum hatte so gar nichts gemein mit einer herkömmlichen Praxis. Er befand sich in einem komplett verglasten Anbau mit seltenen Pflanzen und einer zentral gelegenen Sitzgruppe. Es mutete eher wie ein Dschungel an, hatte aber etwas unglaublich Beruhigendes an sich. Auf einer Seite des Raumes war eine Arbeitsfläche mit einem kleinen gemauerten Ofen, auf dem Dr. Borga ihre pflanzlichen Präparate herstellte. Auf Regalen darüber standen viele Gläser mit eingelegten oder getrockneten Pflanzen aufgereiht. Von hier stammte auch die Medizin, die Elisabeth einnehmen musste.

      Elisabeth hatte sich daran gewöhnt und der Trank half ihr zuverlässig, das Zittern im Zaum zu halten. Ihr Vater hatte diesbezüglich ab und zu versucht, ihre Mutter zu überreden, zu einem echten Neurologen zu gehen, aber die hatte sich energisch durchgesetzt. Auch sonst führte Emilia Wollner ein striktes Regiment in der Familie. Ebenso resolut verteidigte sie die rein vegane Ernährung. Elisabeth und ihre jüngere Schwester Klara kannten nichts anderes, aber sie wusste, dass ihr Vater immer wieder mit sich rang und jede Gelegenheit nutzte, um auf Besprechungen und Tagungen auswärts zu essen. Wie sie von all dem Grünzeug überhaupt so groß geworden war, blieb ihrem Vater ein Rätsel, wie er ständig betonte. Trotz seiner Körpergröße von einem Meter achtzig hatte sie ihn mit ihren fünfzehn Jahren schon fast eingeholt. Ihre Mutter maß hingegen nur etwa einen Meter sechzig. Elisabeth war gertenschlank, fast schon dürr. Gerade deswegen schaffte sie es in Sport, vor allem im Laufen, zu glänzen. So waren die Sportstunden das Einzige, auf das sie sich in der Schule freute.

      Bei dem Gedanken daran hellte sich ihre Miene wieder auf. Sie würde sicherlich zu Hause neue Medizin bekommen. So joggte sie Richtung Eilenriede los, dem großen Park in Hannovers Nordosten. Elisabeth kannte dort viele Verstecke, vor allem eine alte dicke Eiche, auf die sie gerne kletterte. Oben gab es eine Astgabel, die so verborgen lag, dass man kaum mehr von unten zu sehen war, wenn man sich dort hineinlegte. Sie hatte sich schon oft dorthin verzogen, wenn sie Ärger mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester hatte.

      Kaum dass Elisabeth um die Ecke gebogen war, trat die blinde Frau mit ihrem Stock tastend hinter dem Wartehäuschen hervor. An der Stelle, wo die Flasche des Mädchens zerbrochen war, blieb sie kurz stehen und drehte den Kopf schief. Ihr Mundwinkel zuckte kurz und deutete ein kaltes Lächeln an, das so gar nicht zu dem hübschen Gesicht passen wollte. Dann schlug sie denselben Weg ein, den kurz vorher Elisabeth genommen hatte.

      Elisabeth querte inzwischen noch eine weitere Straße und bog nach wenigen Metern vom Weg ab, der durch den Park bis zum Zoo führte. Sie nahm die Strecke direkt durch die Büsche. Kaum dass sie die ersten Bäume passierte, wurde es dunkler und kühler. Anfangs musste sie aufpassen, um nicht in übelriechenden Müll, Glasscherben oder eine eilig verrichtete Notdurft zu treten. Wir Menschen können ja so unzivilisiert sein, dachte sie bei sich, als sie kurzerhand über eine Ansammlung mehrerer solcher Hinterlassenschaften hinwegsetzte.

      Dahinter eröffnete sich ein schmaler Trampelpfad, der etwa parallel zum Hauptweg Richtung Nordosten führte. Sie kannte diesen Pfad von früheren Ausflügen gut. Leichtfüßig lief sie ihn entlang und vermied dabei herumliegende Äste und Blätter, sodass ihre Turnschuhe fast keinen Laut verursachten. Immer wieder musste sie sich vor herunterhängenden Zweigen ducken. Der Weg machte eine leichte Kurve und stieg etwas an.

      Neben dem Weg, im weichen Boden, tauchten einige Kaninchenlöcher auf. Ein paar ihrer Bewohner saßen davor und huschten erst im letzten Moment rasch davon. Elisabeth lächelte. Das Laufen tat so gut und machte den Kopf frei, dass sie sogar ihr Zeugnis vergaß. Wie im Rausch lief sie weiter und erreichte ein paar Minuten später schon ihren Lieblingsbaum. Sie hatte Glück, dass in diesem Moment kein Mensch zu sehen war. Ohne langsamer zu werden, schob sie sich entschlossen ihre Tasche auf den Rücken. Ein paar Schritte gegen den Stamm und ein kräftiger Abdruck ließen sie nach oben schnellen. Sie streckte sich zu ihrer vollen Länge aus, dann schlossen sich die Finger um einen herunterhängenden Ast, an dem sie sich behände hochzog. Ab hier ging es kletternd weiter bis knapp unter die Baumkrone, wo sie sich in eine breite Astgabel gleiten ließ, wodurch sie einen großen schwarzen Vogel aufscheuchte, der krächzend das Weite suchte.

      Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Ast. Langsam beruhigte sich ihr Atem und ihr Puls wurde wieder normal. Sie nahm ihre Tasche ab und klemmte sie in eine kleinere Astgabel. Mit geschlossenen Augen sog sie die Luft mit all ihren Waldgerüchen durch die Nase ein und seufzte erleichtert auf.

      Die Geräusche der Stadt wirkten hier gedämpft, wie durch Watte, und schienen so kilometerweit entfernt zu sein. Erst jetzt bemerkte Elisabeth, wie müde sie eigentlich war. Noch einmal rutschte sie in der Astgabel hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Hier würde sie erst einmal bleiben. Der starke Baum fühlte sich nach Sicherheit an. Als sie sich endlich zurecht gekuschelt hatte, entspannte sie sich und schlief ein.

      So vorsichtig, wie er es nur vermochte, zog er die Kellertür hinter sich zu. Die Angeln hatte er mehrfach geölt, damit sie nicht quietschten. Leise klickerte seine Beute aneinander, welche er mit der linken Hand krampfhaft an seine Brust gedrückt hatte. Es handelte sich um drei Gläser mit weißem Pulver und Aufklebern mit handgeschriebenen, lateinischen Worten.

      Schweiß stand auf Theobalds Stirn. Er wusste, dass er nichts einfach aus der Apotheke


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