Harzmagie. Jürgen H. Moch

Harzmagie - Jürgen H. Moch


Скачать книгу
die ganze Umgebung um sich herum vergessen zu haben und jagten sich im Mondlicht über die Wiese. Plötzlich sprang der Rüde von hinten auf sie. Seine Masse drückte die Wölfin zu Boden. Sie wehrte sich halbherzig und biss ihm in den Vorderlauf, doch bald schien sie sich ihrem Schicksal zu ergeben. Hartwig erstarrte, als er zu sehen glaubte, dass der Wolf sie mit beiden Pfoten gepackt hatte. Wie stellte er das an? Mit Pfoten konnte man doch nicht greifen. Aufgeregt vergewisserte er sich immer wieder, dass er diese Szene im Kasten hatte. Ein äußerst ungewöhnliches Schauspiel mitten in den Ruinen. Vielleicht konnte er ja seine Aufnahme für gutes Geld verkaufen.

      Der Akt dauerte lange und gipfelte in einem Jaulen. Der große Wolf stieg ab, umrundete seine Partnerin. Er leckte die Nase der jungen Wölfin, die aber zunächst nicht auf ihn reagierte. Schließlich trottete er in die Büsche davon, aus denen er gekommen war, nicht ohne noch einmal sein Revier zu markieren.

      Die Wölfin sprang im selben Moment auf, als er von der Lichtung verschwand, blickte ihm noch eine Weile nach, dann heulte sie ein letztes Mal und lief in die andere Richtung davon. Hartwig schlief in dieser Nacht nicht mehr. Er war viel zu aufgeregt, die Wölfe könnten ihn doch noch entdecken. Zu Hause, so nahm er sich vor, würde er den Film nochmal ganz genau ansehen und dann an den Meistbietenden verkaufen.

      Hannover. Die U3 der Üstra1 fuhr ruckelnd wieder an. Wegen Gleisbettarbeiten, die schon seit dem Frühjahr andauerten, fuhr die U-Bahn nur im Schneckentempo. Elisabeth strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, und blickte zur Anzeigetafel. Noch vier Stationen bis Spannhagengarten. Dort stieg sie für gewöhnlich aus.

      Weniger Schüler als sonst üblich lümmelten sich auf den Sitzen und in den Gängen. Man hatte richtig Platz, weil viele Kinder bereits direkt am Schulgebäude von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt worden waren. Endlich Sommerferien! Man winkte und rief, einige fielen sich in die Arme. Elisabeth empfand dieses Getue inzwischen nur noch als peinlich, immerhin ging sie in die neunte Klasse. Vor allem die jüngeren Schüler, die von den Größeren nur verächtlich Zwerge genannt wurden, wedelten aufgeregt mit ihren Zeugnissen. Sogar einige Großeltern hatten vor der Schule gestanden.

      Elisabeth schnaubte abfällig und rückte die Kopfhörer ihres Handys zurecht. Sie hatte keine Musik an, so etwas mochte sie gar nicht, aber so sprach sie in der Regel keiner an oder wunderte sich, wenn sie nicht reagierte.

      Großeltern! Sie hatte keine Großeltern – zumindest keine, die sie kennengelernt hatte. Während sie darüber nachdachte, verfinsterte sich ihre Miene. Für sie erschien es normal, ohne diesen Teil einer Familie auszukommen. Zurückgeblieben war eine Mischung aus Trauer, Resignation und Gleichgültigkeit. Vielleicht auch etwas Neid, aber das wollte sie sich nicht eingestehen. Die Eltern ihrer Mutter waren angeblich früh verstorben, so hatte man es ihr erzählt. Die ihres Vaters waren schon vor Jahren kurz nach ihrer Geburt nach Australien ausgewandert, um sich selbst zu verwirklichen. So war der Kontakt zu ihnen komplett abgebrochen. Ihr Vater hatte versucht, ihr zu erklären, dass die dortige Kommune Telefone ablehnte und keine Post verschickte. Elisabeth hatte ihm das nicht wirklich geglaubt, aber so musste sie sich heute nicht die enttäuschten Gesichter anschauen.

      Sicherlich, sie war in die zehnte Klasse versetzt worden, wenn auch nur knapp. Eine einsame Eins in Sport, aber sonst nur wenige Dreier, einige äußerst gnadenreiche Vierer und eine dicke Fünf in Mathe – ausgerechnet Mathe. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr.

      Sie würde ihrem Vater gegenübertreten müssen, Dr. math. Michael Wollner, Mitarbeiter und rechte Hand des Professors für Mathematik an der Hochschule zu Hannover. Er würde sicher sehr enttäuscht sein, da er doch alles versucht hatte, ihr das Fach näher zu bringen. All die verzweifelten Bemühungen und die vielen Nachhilfestunden waren erfolglos geblieben, denn sobald sie alleine vor einer Rechenaufgabe saß, wurde ihr Gehirn still und leer. Sie würde auch den Brief vorzeigen müssen, weil sie dabei erwischt worden war, als sie die Unterschrift unter der letzten Arbeit hatte fälschen wollen. Egal! Es war eine Sechs. Was wollten sie ihr noch weniger geben? Die Standpauke des Direktors hatte sie schweigsam über sich ergehen lassen, aber bei ihrem Vater wäre ihr das nicht egal, denn dafür liebte sie ihn viel zu sehr.

      Die Straßenbahn hielt an der nächsten Station und viele Menschen drängelten sich hinein. Eine Gruppe kleiner Asiaten schwatzte munter durcheinander, während sie alles mit ihren Handykameras knipsten. Sie brachten von draußen einen Luftzug mit, der ungewöhnlich intensiv nach Schweiß roch. Elisabeth verzog sich in den hinteren Teil des Wagons. Sie fand eine freie Stelle an der Wand. Nicht der allerbeste Platz, aber es dauerte ja nicht mehr lange.

      Für einen kurzen Moment schloss Elisabeth die Augen und lehnte den Kopf gegen die Verkleidung hinter ihr. Was war nur los? Es war zwar stickig, doch ihr wurde immer heißer. Es hatte draußen 29 °C, doch jetzt kam es ihr wie über 40 °C vor. Sie fühlte sich leicht schwindelig, vielleicht sogar fiebrig. Das kam sicher von der Aufregung und ihren Gewissensbissen. Oder doch nicht? Irgendetwas begann, sie zu irritieren, dann wurde ihr schlagartig kalt. Es musste mehr als nur ein bloßer Windhauch sein, so als wenn die Temperatur sich plötzlich enorm abgesenkt hätte. Sie fröstelte und fühlte sich beobachtet, als wenn jemand sie unentwegt anstarrte. Sie hatte sich heute Vormittag auch so gefühlt, als sie in der Schule nach vorne gehen musste, um ihr Zeugnis und den Brief zu erhalten, aber da war klar gewesen, dass die ganze Klasse sie angegafft hatte.

      Elisabeth nahm die Ohrstöpsel beiläufig heraus und tat so, als suchte sie auf ihrem Handy etwas, während sie sich heimlich umblickte. Neben ihr standen drei Grundschüler, die miteinander tuschelten, jedoch ihre Aufmerksamkeit auf eine Fußballzeitschrift richteten. Vier Mädchen hockten in der Sitzecke über ihre Handys gebeugt. Ein altes Ehepaar saß etwas weiter, das stoisch vor sich hinblickte. Ein Rockertyp saß mit dem Rücken zu ihr, vor ihm zwei der Asiaten mit Handys, die anscheinend die ganze Bahnfahrt filmten. Auf dem Behindertenplatz hatte eine blinde junge Frau mit verspiegelter Sonnenbrille und Armbinde Platz genommen. Elisabeths Blick verweilte kurz auf ihr, weil Mitleid in ihr aufkeimte. Die Frau war zwar etwas altmodisch gekleidet, sonst aber schön und elegant, doch sie konnte es nicht einmal sehen.

      Ein schriller Aufschrei riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhren viele Fahrgäste zusammen und drehten die Köpfe. Eines der Mädchen in ihrer Nähe war schreiend vom Sitz gerutscht, was in dem frenetischen Gegacker ihrer Freundinnen gipfelte. Elisabeth hatte keine Ahnung, um was es ging, doch die Stimmen klangen so unnatürlich laut, sodass es richtig wehtat. Reflexartig hielt sie sich die Ohren zu. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich und die Haare an ihren Armen begannen sich aufzustellen. Fast schon flehend sah sie auf die Anzeigetafel, wo immer noch die Lorzingstraße angeschrieben stand. Dabei wollte sie doch gar nicht so schnell nach Hause, aber hier in der Üstra wurde es jetzt für sie immer unerträglicher – zu eng.

      Und da bemerkte sie das krampfartige Zittern, wie es in ihr emporkroch. Sie kannte das nur allzu gut. Nicht jetzt!, bat sie in Gedanken, während sie das Handy schnell wegsteckte, eilig ein kleines Ledertäschchen an ihrem Gürtel aufnestelte und ihm ein Fläschchen entnahm. Sie drehte sich von den anderen Fahrgästen weg, so gut sie konnte. Dann öffnete sie den Bügelverschluss, nahm einen winzigen Schluck und verschloss es hastig wieder. Die Medizin rann brennend ihren Hals hinunter. Den Mund und die Augen geschlossen, atmete sie tief durch die Nase und wartete auf die Wirkung. Diese setzte ein paar Sekunden später ein und das Zittern ließ merklich nach.

      »Was hast du da? Das ist doch bestimmt Schnaps, oder? Bist du denn schon erwachsen? Ich glaube nicht. He, Ole, schau mal, die da trinkt!«

      Ein kleiner Junge mit einer Hornbrille und einer riesigen Zahnlücke, höchstens vierte Klasse, stand vor ihr und glotzte sie direkt an. Verdammt! Sie hätte besser aufpassen müssen. Was war nur los mit ihr?

      Sie hasste es, auf diese Sache angesprochen zu werden, denn es war ein Makel, den sie lieber für sich behielt. Die meisten in ihrer Klasse behandelten sie deswegen wie einen Junkie, eine Geisteskranke, oder


Скачать книгу