Harzmagie. Jürgen H. Moch
Heinze straffte sich und ging mit gezielten Schritten auf die drei Jungen zu. Sabrina war beeindruckt und schockiert zugleich. Körperlich mussten die drei Schläger ihrer Klasse dem alten Mann bereits bei weitem überlegen sein, aber er war eine Autorität und das zeigte sich gleich darauf. Die Jungen bemerkten ihn erst, als er vor ihnen stand. Er richtete das Wort an sie. Sie blickten ihn verblüfft an, während er gestikulierte und dann zu Sabrinas großem Schock genau in ihre Richtung deutete. Die drei folgten seinem Finger mit ihren Blicken und ihre Mienen verhärteten sich, dann aber wurden sie bleich. Sie schauten sich gegenseitig an und machten dann abwehrende Gesten. Herr Heinze klatschte kurz und laut in die Hände, da inzwischen alle Passanten dem Disput ihre Aufmerksamkeit schenkten. Daraufhin sprangen die Jungen eilig auf und machten sich mit schnellen Schritten davon. Herr Heinze genoss noch etwas die Aufmerksamkeit und kam dann mit einem Lächeln zu Sabrina zurück.
»Wie haben Sie das gemacht?«, brach es aus ihr hervor, sobald er wieder bei ihr eintraf.
»Ich habe sie direkt angesprochen!«, erwiderte er.
»Ich habe ihnen gesagt, dass ihre Namen wohlbekannt sind, und man sie stellen wird, sollten sie dem Jungen in der Bäckerei oder dem mutigen Mädchen hier, damit meine ich Sie, irgendein Leid zufügen. Sie würden dann schneller vor dem Richter sitzen, als sie denken können. Das habe ich gesagt! Ich kann Randalierer genauso wenig ausstehen wie Diebe.« Dabei blickte er an Sabrina hinab und seine Augen verweilten auf den Händen. »Sie haben da exquisite Handschuhe an, junge Dame. So etwas trugen wohlsituierte Damen früher.«
Sabrina sah den alten Mann verblüfft an. Ahnte er, dass es nicht ihre waren? Gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder als absurd. Doch sie bemerkte, wie stechend seine Augen sein konnten. Aber schon einen Moment später wurde sein Blick weicher und er lächelte wieder.
»Und wie darf ich Ihnen geschäftlich weiterhelfen? Sie dürfen sich jetzt entspannen, die Gefahr ist gebannt«, sagte er mit freundlicher Stimme. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Einkaufskorb immer noch fest umklammert hielt. Peinlich berührt, lockerte sie ihren Griff etwas.
»Danke! Ich soll nur was einkaufen!« Dann ging sie in das Geschäft und war froh, dass Herr Heinze genau in diesem Moment durch einen anderen Kunden abgelenkt wurde.
Rasch erledigte sie die Einkäufe und stahl sich schnell aus dem Geschäft. Sie hatte Glück, dass Herr Heinze gerade nicht an der Tür stand. Um nicht doch noch den drei Chaoten über den Weg zu laufen, ging sie um die Ecke und nahm den etwas längeren Weg über die Straße an der Sorge oben beim Krankenhaus vorbei. Sie beruhigte sich nach ein paar hundert Metern und streifte die Handschuhe wieder über, die sie im Geschäft ausgezogen hatte. Es fühlte sich so gut an. Sie bewunderte die perfekte Passform und ihre Geschmeidigkeit. Das Leder strahlte eine angenehme Kühle aus. Während sie weiterging, hob sich ihre Laune. Sie musste an das coole Outfit von Kate Beckingsale in dem Film Underworld denken und tauchte mit ihren Gedanken wieder in die Fantasiegeschichte ein.
Als sie gerade den Jugendstilbau einer Studentenverbindung gegenüber dem Krankenhaus passiert hatte, erblickte sie vor sich auf dem Fußweg wieder Theobald. Kurzerhand beschleunigte sie ihre Schritte, doch er schien es auch sehr eilig zu haben und rufen wollte sie nicht. Sie folgte ihm. Der Fußweg führte parallel zum Zellbach den Berg hinunter. Hier standen Bäume und es gab Schatten.
Theobald war sehr schnell unterwegs, fast wie ein olympischer Geher. Sie würde ihn nicht einholen können. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zurückblicken, da erkannte sie den Grund seiner Eile. Vinzenz und die Zwillinge folgten keine zehn Meter hinter ihr und feixten, als sie sie bemerkten. Sie kamen schnell näher. Sabrina blieb stehen. Es war unvernünftig, aber in ihr begann eine Wut hochzukochen, die ihr Mut gab.
»He, Sabrinchen, hab' gehört, du stehst auf Feiglinge!«, höhnte Vinzenz und baute sich vor ihr auf. Die anderen beiden hielten sich zunächst flankierend hinter ihm.
»Ihr seid die wahren Feiglinge«, schnauzte sie zurück. »Zu dritt gegen einen, dann macht euch ein Opa fertig und jetzt versucht ihr es bei einem einzelnen Mädchen. Das ist noch feiger.«
Die Gesichtszüge der drei verhärteten sich nur kurz. Sie waren erprobt im Bedrängen von Schwächeren. Vinzenz drehte sich zu Ojan um und zuckte die Schultern, worauf dieser mit einem Schritt neben Sabrina trat.
»Willst Ärger haben, du Hure?« Es war keine echte Frage, nur eine Ankündigung, dass es gleich schlimmer werden würde.
Sabrina drehte den Kopf und behielt Ojan genau im Auge. Der glotzte sie zunächst grimmig an, dann aber verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Der Schlag in die Kniekehlen durch Alim kam nicht ganz unerwartet, jedoch verlor Sabrina das Gleichgewicht und fiel mit rudernden Armen auf den Rücken. Das tat weh und das Hohngelächter der drei machte es nur schlimmer.
»Oh, das tut mir aber leid! Wie ungeschickt du bist. Ich helfe dir hoch.«
Mit übertrieben flötender Stimme packte Vinzenz sie am Revers ihres Mantels und riss sie hoch. Gott sei Dank bestand der aus Leder und machte den Ruck mit. Doch kaum war sie fast auf den Beinen, ließ er wieder los und sie fiel erneut schmerzhaft auf den Hintern.
»Komm, hilf mir mal! Die ist schwerer, als ich gedacht habe«, forderte er Alim auf, der immer noch hinter ihr stand. Dieser ließ sich nicht lange bitten und packte sie grob an den Schultern. Sabrina wehrte sich, aber sie bekam ihn nicht zu fassen. Vinzenz und Ojan traten höhnisch grinsend vor und griffen sie an den Ellenbogen, um sie hochzuziehen. In diesem Moment erinnerte sich Sabrina an ihren Selbstverteidigungskurs, den sie einmal gemacht hatte. Sie fasste im Bruchteil einer Sekunde einen äußerst mutigen, aber auch riskanten Entschluss und zog das Knie ruckartig an, genau in Vinzenz’ Weichteile. Er ging sofort jaulend zu Boden. Die Jungs hatten keinen ernstzunehmenden Widerstand erwartet. Ojan stand da und starrte auf Vinzenz, sodass Sabrina auch bei ihm zutreten konnte. Der Tritt war so hart, dass es Sabrina wieder auf den Rücken warf und Alim, der sie immer noch an der Schulter hatte, halb unter sich begrub. Sabrina packte mit beiden Händen nach hinten und versuchte, seinen Griff zu lösen. Etwas passierte, als sie ihn zu fassen bekam, aber mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Anstatt sie weiter festzuhalten, was er leicht gekonnt hätte, jaulte auch Alim auf und rollte von ihr weg. Sabrina wartete nicht, um Alims seltsame Reaktion zu ergründen. Sie rappelte sich hoch, griff ihren Einkaufskorb und sprintete los, bevor die drei wieder zur Besinnung kamen. Sie hatte es nicht mehr weit nach Hause, und die jetzt doch aufkommende Angst machte ihr Beine. Sie hatte sich gegen die drei Jungs zur Wehr gesetzt und mit einem Überraschungssieg gewonnen. Unter keinen Umständen wollte sie bleiben und eine zweite Runde riskieren. Sie holte alles aus ihren Beinen heraus, die heftig von dem Sturz schmerzten. Bei der nächsten Gelegenheit bog sie wieder auf den Zellbach ab. Schon nach kurzer Zeit raste ihr Herz und sie schnaufte wie eine alte Dampflok. Ohne sich umzuschauen, rannte sie weiter nach Hause.
Drinnen ließ sie sich mit pfeifendem Atem gegen die Tür sinken. Sie brauchte eine ganze Weile, um wieder Luft zu bekommen. Zum dritten Mal heute Vormittag war sie völlig durchgeschwitzt. Erst musste sie lächeln, dann lachte sie. Als sie sich mühsam aufrappelte, tropfte ihr der Schweiß von der Stirn und lief den Rücken hinunter in ihren Slip. Ein unangenehmes Gefühl, das von einem ziehenden Schmerz im Gesäß begleitet wurde. Sie verzog das Gesicht.
»Wie uncool! Vampire schwitzen nie!«, beklagte sie sich bei sich selbst. Es half nichts, sie musste dringend duschen.
Vor der Haustür
Der weiße Van einer Leihwagenfirma legte mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung hin und stellte sich dabei auf der Fahrbahn quer. Die wenigen Passanten in der Straße drehten sich alle verwundert um. Der Fahrer, ein junger Italiener, schimpfte noch im selben Moment in seiner Muttersprache wütend los. Er gestikulierte ausladend, beugte sich zum offenen Fenster heraus und schrie der vorbeirennenden Elisabeth nach, doch davon bekam diese überhaupt nichts mit.
Sie rannte so schnell, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Die Angst, dass ihrer Familie und ihr etwas Böses drohte, die Verwirrung, dass ihre Mutter dunkle Geheimnisse zu haben