Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp
href="#ulink_c5c45a0f-bec0-56d3-b7be-5ee96643dbc3">1.1Wissen und Begründen
Die Wissenschaft erklärt uns die Welt. Sie tut dies, indem sie zunächst aufgrund von Beobachtungen Theorien über Ereignisse und Zusammenhänge in der Welt aufstellt. Diese Theorien werden dann durch Experimente auf ihre Übereinstimmung mit der Erfahrung geprüft. In Experimenten können wir die Wahrheit von Theorien durch gezielte Wahrnehmungen feststellen. Im Falle der Bestätigung entstehen daraus Gesetze, die das Geschehen in der Welt präzise beschreiben. Solche an der Erfahrung geprüften Gesetze gibt es in erster Linie in den Naturwissenschaften, obwohl auch die empirische Psychologie, die empirischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und andere Disziplinen bis hin zur empirischen Sprachwissenschaft auf diese Weise vorgehen, wenn sie nach Erfahrungswissen suchen. Auf diese Weise entwickelt die Wissenschaft ein immer besseres Wissen von der Welt. Es kann vorkommen, dass sich manche Gesetze als falsch erweisen, so dass sie aus dem Bereich des wissenschaftlichen Wissens ausgeschieden werden müssen. Aber dies geschieht aufgrund einer besseren und genaueren Prüfung auf deren Übereinstimmung mit dem Geschehen in der Welt, so dass sich der Wert der wissenschaftlichen Methode damit durch ein weiteres Fortschreiten im Wissen bestätigt.
Weil die Wissenschaft uns die Welt erklärt, können wir die Welt immer besser nach unseren Wünschen verändern und gestalten. Die Fortschritte in Medizin und Technik sind die besten Beweise dafür, dass die Wissenschaft die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Welt richtig erklärt. Wenn dabei unerwünschte Folgeprobleme entstehen, so suchen wir auf politischem Wege durch den Einsatz von mehr finanziellen Mitteln nach einem besseren wissenschaftlichen Wissen, das unseren Zielen besser entspricht. Auf diese Weise beeinflussen wir die Wissenschaft, weil wir Erklärungen wünschen, die uns interessieren, und technische Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse erwarten, die unseren Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Das ändert aber nichts daran, dass die Wissenschaft die Welt mithilfe der Erfahrung beschreibt und Wissen anhand von Beobachtungen und Experimenten gewinnt. Dies ist sogar der Garant dafür, dass neue Erkenntnisse sich unseren Wünschen entsprechend in technische Anwendungen umsetzen lassen.
Die beiden letzten Absätze enthalten eine Beschreibung dessen, was Wissenschaft ist, indem angegeben wird, was sie tut. Es gibt sicher auch andere Beschreibungen, aber für das Alltagswissen wären sie im Großen und Ganzen äquivalent mit der gerade gegebenen. Offenbar verfügt die Alltagssprache über ein tief eindringendes und umfangreiches Wissen über die Wissenschaft. Es bezieht sich nicht nur auf das Vorgehen und den Fortschritt der Wissenschaft, sondern auch auf die Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und der Welt, von der es uns nützliche Erkenntnisse zur Verfügung stellt. Wir könnten ein solches Wissen über die Wissenschaft als ‚Wissenschaftstheorie‘ bezeichnen. Sie genügt zwar sicherlich nicht den Ansprüchen der Wissenschaft selbst an eine wissenschaftliche Theorie, aber es handelt sich doch um eine Theorie insofern, als sie allgemeine und dem Anspruch nach wesentliche Strukturen eines Wirklichkeitsbereiches beschreibt, nämlich dessen, den wir als ‚Wissenschaft‘ bezeichnen.
Deshalb sollte jene Beschreibung der Wissenschaft zumindest dem Begriff des Wissens genügen können, der für das Wissen der Wissenschaft selbst gilt. Diese Standard-auffassung von ‚Wissen‘, auf der das Wissen der ‚Wissenschaft‘ beruht, ist sehr einfach mithilfe von drei Kriterien zu beschreiben. (1) Die Person, die beansprucht, etwas zu wissen, muss etwas über die Welt glauben. Das genügt aber natürlich nicht, denn bekanntlich glauben wir Vieles, was wir nicht wissen. Aber diese Beziehung zwischen der Person und einem Sachverhalt ist nichtsdestoweniger ein wichtiger Bestandteil eines jeden Wissens. (2) Das, was geglaubt wird, muss wahr sein. Damit unterscheidet sich Wissen vom Glauben und Meinen. Nun könnte es aber sein, dass eine Person etwas glaubt und dass das, was sie glaubt, zufällig auch wahr ist. Etwa könnte jemand in Deutschland zu einem bestimmten Zeitpunkt glauben und diesen Glauben auch aussprechen: ‚Heute regnet es in San Francisco‘. Wenn wir den Wetterbericht für diesen Tag konsultieren, dann stellen wir vielleicht fest, dass dies tatsächlich der Fall ist. Aber würden wir auch sagen, dieser Jemand wisse dies, wenn er keinen einzigen nachvollziehbaren Grund für seinen Glauben angeben kann? (3) Deshalb müssen wir für Wissen noch ein weiteres Kriterium heranziehen. Wer etwas glaubt, muss seinen Glauben auch begründen bzw. rechtfertigen können, damit wir ihm wirklich ein Wissen im Falle des Bestehens des betreffenden Sachverhaltes zuschreiben können. Solche Begründungen können besser oder schlechter sein. Der Glaube, heute regne es in San Francisco, lässt sich leicht durch den Hinweis auf ein Telefongespräch mit einem Menschen, der eben dort lebt, begründen. Er lässt sich aber nicht begründen durch den Verweis auf die gerade gesehene Episode einer Fernsehserie, deren Handlung in einem San Francisco im Dauerregen spielt.
Wir könnten dies auch so ausdrücken, dass mit dem Anspruch auf Wissen drei Dimensionen tangiert sind: (1) die subjektive Dimension des Glaubens bzw. des ‚Fürwahr-haltens‘, (2) die objektive Dimension des Wahrseins, (3) die intersubjektive Dimension der Gründe – in der amerikanischen Gegenwartsphilosophie wird hier regelmäßig vom ‚space of reasons‘ gesprochen. Diese dritte Dimension des Wissens wurde und wird sehr häufig ignoriert, obwohl sie schon in unserem alltäglichen Sprachgebrauch enthalten ist. Wir bezeichnen etwa einen Glauben, der durch falsche Prämissen begründet wird, auch dann nicht als Wissen, wenn er ‚zufällig‘ wahr ist. Sagt jemand ‚Haie sind Fische‘, so sind wir geneigt, ihm einen wahren Glauben zuzuschreiben. Aber sagen wir immer noch, er wisse dies, wenn er seinen Glauben so begründet: ‚Alle schwimmenden Tiere sind Fische, Haie sind schwimmende Tiere, also sind Haie Fische‘? Rein logisch ist dieser Zusammenhang korrekt, aber bekanntlich sind Wale keine Fische, so dass der Obersatz falsch ist, weshalb die Konklusion so nicht begründet werden kann.
Diese Analyse des Begriffs des Wissens, die zu drei Kriterien für dessen richtige Verwendung führt, ist dennoch nicht ganz unbestritten. Dies gilt weniger für die beiden ersten Kriterien – dass Wissen wahr und von jemandem geglaubt sein muss – als vielmehr für das dritte Kriterium. Dass das Wissen wahr sein muss, führt nur dann zu Problemen, wenn wir nach der Bedeutung dieses Adjektivs fragen und darüber hinaus noch danach, welche Kriterien denn erfüllt sein müssen, um etwas als wahr bezeichnen zu dürfen. Dieses Problem lassen wir hier auf sich beruhen, weil es weit besser gelingen wird, den Stand der Philosophie der Wissenschaft zu verdeutlichen, wenn wir uns auf den Aspekt des Begründens in jedem Wissen konzentrieren, als dies bei einer Beschäftigung mit dem Begriff der Wahrheit der Fall wäre, der in der Wissenschaft sowieso fast nirgends verwendet wird. Dass Wissen nicht als Gegenstand in der Welt vorhanden ist wie Steine, Bäume oder Kängurus, sondern von jemandem geglaubt bzw. für wahr gehalten werden muss, ist sicherlich einleuchtend.
Es wurden allerdings Beispiele gefunden, die es weniger selbstverständlich machen, dass Wissen auch begründet sein muss. Wir müssen uns hier aber auf die Behauptung beschränken, dass diese Beispiele nicht ausreichen, um den Aspekt der Begründung aus dem Begriff des Wissens auszuschließen. Etwa wird das bekannteste Beispiel so oder ähnlich beschrieben: Jemand schreibt in einer Prüfung von dem neben ihm sitzenden Kandidaten ab, und zwar von jemandem, von dem er weiß, dass er in diesem Fach ein Star ist, und was abgeschrieben wurde, ist unbezweifelbares Wissen des Prüfungsfaches. Der Schummler erfüllt also eigentlich alle drei Kriterien des Wissens: er glaubt, dass seine nur abgeschriebenen Kenntnisse gelten, sie sind auch tatsächlich wahr, und er kann gerechtfertigt glauben, dass diese Kenntnisse wahr sind, denn sich auf Autoritäten zu stützen, ist eine Form der Rechtfertigung, wenn auch nicht immer eine gute. Sagen wir in diesem Fall aber, dieser Prüfling verfüge über Wissen? Intuitiv könnten wir dies verneinen. Dann sind wir aber nicht ganz konsequent, denn der größte Teil unseres Wissens wird nur durch Autoritäten gerechtfertigt. Dass ‚to look forward to‘ in der englischen Sprache ein nachfolgendes Gerundium fordert (‚I am looking forward to seeing you‘), wissen Kontinentaleuropäer ebenso nur durch Autoritäten – etwa durch die Verfasser englischer Grammatiken – wie wir die fundamentalen Sätze der Quantenmechanik nur durch die rechtfertigende Vermittlung durch Physiklehrer und -professoren kennen, obwohl kaum jemand ohne ein Studium der theoretischen Physik eine ausreichende Begründung dafür geben kann.
Aber die Frage, welche Art von Begründung denn vorliegen muss, damit wir von ‚Wissen‘ sprechen können, weist uns auf eine weitere wichtige Struktur unserer Auffassung des Wissens hin, das wir der Wissenschaft zuschreiben, wie wir dies oben skizziert haben, und von