Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp
einfache Form von ‚Wissenschaftstheorie‘ bezeichnen könnten, gibt einen Begriff von Wissenschaft an, der nicht unabhängig ist von der Bedeutung, die wir mit dem Begriff des Wissens verbinden, und wenn wir in diesen Begriff die Begründbarkeit einschließen, dann wird der gewusste Begriff des Wissens des Weiteren abhängig von der Bedeutung, in der wir bereit sind, von Begründung zu sprechen. Offensichtlich wird das Wissen von der Wissenschaft und das Wissen der Wissenschaft selbst verschieden sein, je nachdem, ob wir eine Begründung durch Autoritäten als ausreichend für diesen Begriff erachten oder nicht. Und selbst wenn wir dazu bereit sind, so werden sich weitere Fragen stellen wie: Wie viele Autoritäten benötigen wir? Genügt es, dass 95 % aller Klimatologen der Welt bestätigen, dass der Klimawandel wirklich und menschengemacht ist, oder müssen es 99 % sein? Welche Qualifikationen müssen die Autoritäten aufweisen? Genügt eine Promotion, müssen sie eine Professur haben, oder dürfen sich auch gewöhnliche Schullehrer einmischen? Und wenn das erstere oder das zweitere gilt, wo müssen sie studiert haben – in Stanford, am MIT, in Harvard/Yale/Princeton, oder darf es auch eine Universität in der bayerischen Provinz sein?
Wir haben zunächst einen Begriff von Wissenschaft skizziert, der heute weitgehend akzeptabel sein dürfte – außer vielleicht dort, wo die wilden Kerle der Philosophie wohnen. Wir haben dann den Begriff des Wissens nach einer Auffassung beschrieben, die man heute als Standardauffassung ansehen kann: jemand weiß etwas, wenn er es glaubt (‚für wahr hält‘), wenn es wahr ist und wenn er es begründen kann. Nun haben wir gesehen, dass der Begriff des Wissens in noch unabsehbare weitere Probleme führt, wenn wir ihn näher bestimmen wollen. Dies gilt nicht nur für den Begriff des Wissens, das die Wissenschaft von der Welt gewinnen kann, sondern auch für den Begriff des Wissens, den wir mit jenem Begriff von der Wissenschaft beanspruchen müssen. Die Antwort auf die Frage, ob und wie weit wir jenen Begriff von Wissenschaft nach einer genaueren Prüfung akzeptieren können, und ob und wie weit das Wissen der Wissenschaft wirklich so ist, wie es in jener Auffassung beschrieben wird, hängt also offenbar von einigen schwergewichtigen Begriffen und deren näherer Bedeutung ab.
Deshalb werden für die Prüfung der Angemessenheit jener Begriffe von Wissen und von Wissenschaft Fragen nach der Herkunft, der Richtigkeit und der Bedeutung von Begriffen eine zentrale Stelle einnehmen müssen. Wir haben bereits eine gut begründete Entscheidung darüber getroffen, welchem Begriff aus der Standarddefinition von Wissen wir im Folgenden in erster Linie nachgehen wollen: der Begriff des ‚Glaubens‘ (also der Subjektbeziehung des Wissens) wirft nur wenige Probleme auf, der Begriff der ‚Wahrheit‘ (der lange Zeit als die Objektbeziehung des Wissens bezeichnend aufgefasst wurde) ist in der Wissenschaft unbedeutend und würde Probleme aufwerfen, die weit über die Gegenwart der Philosophie hinausgreifen, wie etwa eben die Frage nach einer ‚Objektbeziehung‘ des Wissens selbst. Also zeigt sich der Begriff der Begründung als derjenige, dessen Untersuchung den besten Zugang dazu bietet, wie wir das Wissen von und das Wissen der Wissenschaft auffassen müssen.
1.2Der Regress des Begründens und der Beginn der Wissenschaft
Möglicherweise wurde und wird das Begründen und Rechtfertigen als die dritte Dimension des Wissens gerade deshalb so leicht außer Acht gelassen, wenn von Wissen die Rede ist, weil wir damit in ein folgenreiches Problem geraten. Wenn das Vorliegen von Wissen von Begründungen abhängt, so müssen diese Begründungen offenbar selbst die Kriterien für ‚Wissen‘ erfüllen, sonst können wir mit ihrer Hilfe kein Wissen erzeugen. Das zeigte sich schon in dem obigen Hai-Beispiel sehr deutlich: wenn der Obersatz, mit dessen Hilfe der Schluss durchgeführt wurde, falsch ist, dann kann mit ihm die Konklusion offenbar nicht begründet werden, und es handelt sich nicht um ein Wissen, obwohl die Konklusion wahr ist. Ganz ähnlich würde man den Glauben, dass Zeitreisen möglich sind, nicht als Wissen ansehen, wenn als Begründung deren Vorkommen in Hollywood-Filmen angegeben wird, obwohl diese Möglichkeit durch die Relativitätstheorie begründet werden kann und dann ein Wissen darstellen würde. Das Problem ist offenbar, dass Wissen anderes Wissen voraussetzt, damit ersteres begründet werden kann, wobei letzteres folglich selbst begründungspflichtig ist durch wieder anderes Wissen. Das Problem ist also das eines unendlichen Regresses.
Können wir diesen Regress nicht stoppen, so sind wir nicht berechtigt zu behaupten, dass wir überhaupt etwas wissen – weder in der Wissenschaft, noch über die Wissenschaft. Stoppen wir ihn aber auf eine falsche Weise, so können wir ebenfalls keinen Anspruch auf Wissen erheben. Etwa könnten wir uns entschließen, nach einigen Begründungsschritten bei unbegründeten Annahmen stehen zu bleiben. Das ist die häufigste Lösung, die wir im Alltag anwenden, wenn wir nach Begründungen – und nach Begründungen für Begründungen – gefragt werden. Damit kann man es sehr weit bringen und sehr überzeugend wirken; man muss nur solche unbegründeten Annahmen finden, die wir selbst und unsere Gesprächspartner als selbstverständlich unterstellen, d. h. an die sie glauben. Das mag für viele Zwecke ausreichen, aber von Wissen können wir dann natürlich nicht sprechen, denn jene Begründbarkeit, die zu den Kriterien für Wissen gehört, endet dann bei einem Glauben als einem ‚Fürwahrhalten‘, womit das zu begründende Wissen selbst nur einen Glauben darstellt – und dies auch dann, wenn es wahr ist.
Eine andere Möglichkeit zum Stoppen des Regresses der Begründung stellt eine zirkelhafte Begründungsweise dar, d. h. wir wiederholen einige Behauptungen, die wir bereits angeführt hatten. Das Ergebnis in Bezug auf den Begriff des Wissens wäre in diesem Fall aber nicht besser, und in der Regel findet sich bald ein Cleverle, das hier ‚Zirkel!‘ schreit. In der Geschichte des Wissens war es deshalb in der Tat das Stoppen des Regresses bei Glaubensüberzeugungen, mit dem das Kriterium der Begründungspflichtigkeit von Wissen zu erfüllen versucht wurde. Diese Methode war über viele Jahrhunderte hinweg allgemein anerkannt und wurde in allen Institutionen zur Erzeugung und Verarbeitung von Wissen eingesetzt. In grober Vereinfachung könnte man sagen, dass es der Glaube der christlichen Buchreligion in Verbindung mit dem Glauben an die unbezweifelbare Wahrheit der aristotelischen Philosophie war, der den Regress aus der Begründungspflichtigkeit des Wissens an ein unbezweifeltes Ende brachte.
Man versteht die neuzeitliche Naturwissenschaft in ihrem Wissensanspruch nicht ausreichend, wenn man sich nicht verdeutlicht, welchen Bruch das Aufkommen der wissenschaftlichen Denkweise in Bezug auf die Beendigung des Regresses darstellte, der aus der Begründungspflichtigkeit des Wissens entsteht, die ein Bestandteil der Bedeutung darstellt, die wir mit dem Begriff ‚Wissen‘ verbinden. Man könnte geradezu sagen, dass die Wissenschaft mit einer neuen Auffassung darüber begann, wie sich jener Regress verhindern lasse. Jeder weiß, wie diese neue Auffassung lautete: es kommt auf die Erfahrung an – genauer: auf die Erfahrung durch die Sinne, weshalb man auch von empirischer bzw. Erfahrungswissenschaft spricht, wenn man die neuzeitliche Methode der Wissenschaft bezeichnen will. Durch das Zeugnis unserer Sinneswahrnehmungen können wir nach dieser Auffassung auf etwas ‚Gegebenes‘ kommen, das der Frage ein Ende bereitet, ob die Begründung für ein Wissen denn selbst ein Wissen darstelle, das selbst begründet werde müsste mithilfe von Wissen, woraus die gleiche Frage wieder entstehen würde.
Man macht es sich in vielen Büchern über diesen Umbruch in den Auffassungen über unser Wissen im Entstehungsprozess der Naturwissenschaft zu leicht, wenn man auf neue Erkenntnisse verweist, die durch die Erfindung von Messinstrumenten möglich wurden; und man macht es sich auch zu leicht, wenn man darauf verweist, dass die Ausrichtung des Wissens an den Erfahrungen unserer Sinne sich so leicht durchsetzen konnte, weil sie erheblich erfolgreicher war als die alte Orientierung an einem geglaubten Buchwissen. Man könnte diese Veränderungen plausibler so beschreiben: Weil man nun bereit war, in unserem Wissen über die Welt den Regress der Begründung nicht mehr durch heilige Bücher, sondern in erster Linie durch das Zeugnis der Sinneserfahrung zu beenden, deshalb wurden Messinstrumente erfunden, die uns eine Sinneserfahrung auch dort ermöglichen, wo die Sinne, die uns mit unserer anatomischen und organischen Ausstattung zur Verfügung stehen, nicht mehr ausreichen können. Warum hätte man sich sonst die Mühe machen sollen, solche Instrumente zu erfinden, wenn die Sinneserfahrung doch sowieso nicht als Beendigung des Regresses der Begründung akzeptabel war?
Auch mit dem Argument, dass die Sinneserfahrung als letzte Begründungsgrundlage für unser Wissen deshalb den Siegeszug antreten konnte, weil sie weit erfolgreicher war als