Philosophie der Wissenschaft. Georg Römpp
aus einem Materiewirbel entstanden ist, oder ob sich das Sonnensystem in den Materiewirbel zurückentwickelt. Man kann also deduktiv-nomologische Erklärungen nicht einfach mit Kausalerklärungen gleichsetzen. In der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts galten deduktiv-nomologische Erklärungen lange Zeit als die Standardform wissenschaftlicher Erklärungen.
2) Man kann gegen eine solche Auffassung jedoch auf das – ältere – Verfahren der kausalen Modellierung verweisen. Dabei muss für die Erklärung eines Ereignisses nicht unbedingt ein einzelnes anderes Ereignis herangezogen werden, das die Ursache des ersteren ist. Eine Kausalerklärung kann erheblich komplexere Formen annehmen, wenn einzelne Faktoren identifiziert werden, die nur ‚kausal relevant‘ sind. Das entspricht der Alltagserfahrung, dass die meisten Ereignisse auf eine sehr komplizierte Weise Bedingungen erfordern, um überhaupt zustande zu kommen. Eine kausale Modellierung versucht dann ein solches Gefüge von Bedingungen aufzufinden, in dem die einzelnen Faktoren kausal relevant sind. Eine Kausalerklärung muss also nicht monokausal vorgehen, sondern kann ganz unterschiedliche deterministische und sogar probabilistische Gesetzmäßigkeiten heranziehen. Um eine Lawine auszulösen, müssen sehr viele verschiedene Faktoren zusammenkommen.
3) Darüber hinaus gibt es in der Wissenschaft aber auch probabilistische Erklärungen, die man in manchen Fällen als Spezialform von deduktiv-nomologischen Erklärungen auffassen kann. Aber erklärt werden kann auch mithilfe von statistischen Zusammenhängen, bei denen man nicht von Gesetzlichkeit und Kausalität sprechen kann. Dabei werden zur Erklärung Korrelationen herangezogen. Ein Beispiel dafür stellt der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs dar, der grundsätzlich probabilistischer Natur ist, obwohl über die Kausalzusammenhänge Theorien bekannt sind, die aber weder im deduktiv-nomologischen noch im kausalen Sinne zur Erklärung ausreichen können. Mit einem probabilistischen Gesetz kann kein einzelnes Ereignis vorausgesagt werden, sondern es lassen sich nur Ereignisse für statistische Gesamtheiten prognostizieren.
4) Schließlich kann als Erklären in der Naturwissenschaft aber auch ein Verfahren bezeichnet werden, das zu einer Vereinheitlichung der Theorie führt. Das Erklären gilt dann als gelungen, wenn ein Ereignis in eine einheitliche und umfassende Theorie eingebettet werden kann. Etwas ist dann erklärt, sobald man es in einen umfassenden und kohärenten Wissenshorizont stellen kann. Das setzt natürlich voraus, dass diese ‚Grand Theory‘ selbst als gut bestätigt gilt und ihre wissenschaftliche Erklärungsfähigkeit nicht bezweifelt werden kann.
Die Wissenschaft erklärt und diese Erklärungen können nach verschiedenen Modellen ablaufen. Aber die Wissenschaft erklärt uns auch die Welt, d. h. die Erklärungen und der dadurch erreichte subjektive Zustand der Befriedigung durch Erklärungen sind nur wissenschaftlicher Natur, wenn sie von der Welt gelten, über die Welt etwas aussagen, und die Welt intersubjektiv geltend beschreiben. Damit stellt sich die Frage, was es denn genauer bedeutet, dass die Wissenschaft uns (a) die Welt beschreibt, wie sie ist, und uns (b) die Ereignisse der Welt erklärt. Wie kommen wir in der Wissenschaft also zur Welt? ‚Wissenschaft‘ ist offenbar ein Zusammenhang von Aussagen/Sätzen/Behauptungen über die Welt. Dieses ‚über‘ müssen wir aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive also genauer untersuchen, wenn wir den Wissensanspruch der empirischen Wissenschaft (‚science‘) verstehen wollen. Es könnten sich folgenreiche Probleme daraus ergeben, dass ‚die Welt‘ kein Zusammenhang von Aussagen/Sätzen/Behauptungen ist, und hier können die Philosophen bei den Forschern aus den empirischen Wissenschaften auf Zustimmung hoffen. Aber aus philosophischer Perspektive stellt sich darüber hinaus die Frage, was es denn heißen solle, dass die Aussagen und Gesetze der Wissenschaft sich in der Weise des ‚über‘ oder auch des ‚von‘ auf die Welt beziehen.
Der Umgang mit dieser Frage wird seit langer Zeit durch die Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Wahrheitstheorien geprägt. In der traditionellen oder klassischen Theorie wird ‚Wahrheit‘ als Übereinstimmung zwischen einem wissenschaftlich behaupteten Sachverhalt und seinem wirklichen Bestehen in der Welt aufgefasst. Eine solche Theorie stößt sehr bald auf das Problem, wie denn ein sprachlich ausgedrückter und damit mental existierender Sachverhalt mit einem Ausschnitt der wirklichen Welt ‚übereinstimmen‘ könne. Wie kann die Sprache denn so zur Welt kommen, dass die Welt sich in ihr darstellen lässt? Dieses ungelöste Problem führte zur Ausarbeitung radikal anderer Auffassungen von Wahrheit. Etwa wurde vorgeschlagen, um eine Aussage als ‚wahr‘ bezeichnen zu dürfen, könne es schon ausreichen, dass eine ausreichende Kohärenz zwischen ihr und dem bereits geltenden Wissen sowie den sprachlich beschreibbaren Beobachtungen im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung nachgewiesen werden könne. Wichtiger aber ist in der Gegenwart des philosophischen Denkens eine andere Auffassung geworden. Ihr zufolge kann es für die Behauptung der Wahrheit des wissenschaftlichen Wissens genügen, dass innerhalb der Wissenschaft ein Konsens über die Richtigkeit von Beschreibungen und Gesetzen besteht.
Eine Spezialform einer Konsenstheorie entsteht dann, wenn wir nicht einen wirklichen, sondern einen vernünftigen Konsens verlangen, um von ‚Wahrheit‘ reden zu können. Wir verlangen von wissenschaftlichen Aussagen dann nur, sie müssten vernünftig akzeptierbar sein und ihre Geltung hängt davon ab, dass sie eine vernünftig begründete Zustimmung finden. In der Regel geht es dabei um die Zustimmung derjenigen Wissenschaftler, die im gleichen Spezialgebiet arbeiten. Wissenschaftliche Aussagen gelten in diesem Fall also deshalb, weil sie für die ‚scientific community‘ akzeptabel sind, weil in ihr nicht per Abstimmung über die Akzeptanz von Theorien entschieden wird, sondern weil sie das Ergebnis vernünftiger Argumentationszusammenhänge darstellen.
Das schließt die Notwendigkeit von Kohärenz jedoch nicht aus, denn die vernünftige Abwägung bezieht sich vor allem auf die Frage, ob sich neue Theorien an das anschließen lassen, was bereits in gerade dieser Gemeinschaft der Wissenschaftler als geltend anerkannt ist. Es kommt nur selten vor, dass eine zunächst nicht anschließbare Theorie mithilfe umfangreicher Änderungen im bisherigen Wissensbestand akzeptiert wird. Müsste der bisherige Wissensbestand aber als vollständig falsch gelten, um eine neue Theorie akzeptieren zu können, so würde kein Wissen mehr vorhanden sein, um die vernünftige Akzeptierbarkeit einer neuen Theorie überprüfen zu können. Die newtonsche Mechanik koexistiert mithilfe einer Korrektur ihres Anwendungsbereiches auch mit der Quantenmechanik und subatomare Strukturen werden mithilfe der alten Begriffe von ‚Wellen‘ und ‚Partikeln‘ verstanden, obwohl keiner der beiden zu ihrer Beschreibung ausreicht.
Wenn wir für wissenschaftliche Aussagen beanspruchen, sie könnten/müssten ‚wahr‘ sein, dann können wir den zunächst als selbstverständlich angenommenen Weltbezug der Wissenschaft offenbar in radikal unterschiedlichen Weisen auffassen. Folgen wir einer Konsenstheorie, so gibt es keine Möglichkeit, sich gegen die herrschende Meinung abzusetzen und zu behaupten, ein Satz sei wahr, auch wenn alle anderen ihm nicht zustimmen. Eine solche Möglichkeit wird jedoch vor der Auffassung bewahrt, wissenschaftliche Aussagen müssten ‚wahr‘ im Sinne einer Übereinstimmung mit der Welt sein. Hier bleibt es im Prinzip immer offen, ob sich nicht vielleicht alle irren, die der gerade herrschenden wissenschaftlichen Theorie über ein bestimmtes Sachgebiet folgen, und eventuell gerade die Auffassung Geltung beanspruchen könne, die von allen Wissenschaftlern zu einer bestimmten Zeit abgelehnt wird. Vergleichbar ist die Lage dann, wenn wir vernünftige und nicht nur tatsächliche Zustimmung verlangen. Auch dann bleibt stets die Möglichkeit offen, dass sich alle irren, die sich einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie verschrieben haben, und dass der eine, der eine andere Auffassung vertritt, insofern recht hat, als seine Theorie mit besserem – weil vernünftigerem – Recht Geltung beanspruchen kann.
Allerdings sind die Argumentationsstrategien in den beiden Fällen unterschiedlich. Verlangen wir, dass wissenschaftliche Aussagen ‚wahr‘ sein sollen, so müssen wir deren Übereinstimmung mit der Realität/der Welt nachweisen, und damit geraten wir in alle Probleme, die mit einer solchen Forderung verbunden sind. Grundsätzlich müssen wir eine Antwort auf die Frage haben, wie denn die Dinge und die Sachverhalte in der Welt in unsere sprachlichen Aussagen über die Welt kommen. Wir müssen uns der ‚Antinomie des Realismus‘ entledigen, d. h. des Problems, dass die Welt in einer realistischen Konzeption als von unserem Geist, unserem Denken und