Inklusive Sprachförderung in der Grundschule. Jörg Mußmann

Inklusive Sprachförderung in der Grundschule - Jörg Mußmann


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Leben. Mit ihren strukturellen Gegebenheiten auf der Laut-, Wort- und Satzebene sowie mit ihren verbalen, non- und paraverbalen Modalitäten und der Schrift ist Sprache ein zentrales Medium schulischen Lernens, emotionalen Erlebenes und sozialen Handelns. Mit ihr können wir uns anderen Menschen verbal, schriftlich, visuell und auch über Bilder von Angesicht zu Angesicht mitteilen und andere verstehen. Mit Sprache können Ideen und Wünsche in Worte gefasst werden. Bedürfnisse nach Akzeptanz und sozialer Regulation äußern sich direkt und indirekt neben dem nonverbalen und melodischen Ausdruck auch über die Wortwahl und den Satzbau; das Erfahren von Selbstwirksamkeit wird so sprachlich vermittelt. Sprachliche und kommunikative Fertigkeiten und Fähigkeiten unterstützen die individuelle Identitätsentwicklung (Hartig-Gönnheimer 1994; Wolf 1998). Sprache erfasst und ordnet das Wollen, aber auch, was nicht gewollt ist. Die Grammatik der Sprache bringt die ausgedrückten Gedanken „auf die Reihe“ und strukturiert gleichzeitig mit Kategorien, mit Ober- und Unterbegriffen die kognitive Entwicklung.

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       „Die Sprache ist nichts anderes als eine spezialisierte und konventionalisierte Fortführung des gemeinsamen Handelns“ (Braun 2006, 172).

      Das besondere am Medium der verbalen Sprache ist, dass es sich zusammensetzt aus einer Menge von Zeichen, die anders als bildhafte Verweise, Mimik oder Gestik, eine ganz besondere Eigenschaft haben. Sie sind symbolische Zeichen, d. h. der Zusammenhang zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck ist willkürlich (arbiträr), also nicht naturgegeben und nicht durch sinnliche Wahrnehmung erfahrbar. Der kulturell festgelegte Zusammenhang muss in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt werden. Gerade durch diese Willkürlichkeit sind sprachliche Zeichen in den verschiedenen Sprachgemeinschaften konventionalisiert, damit Kommunikation überhaupt möglich werden kann.

      angeborene Fähigkeit zur Sprache

      Diese symbolische Eigenschaft der Zeichen zu erkennen, also Sprache in der übrigen Geräuschumgebung unterscheiden und diese symbolischen Zeichen regelhaft verwenden und kombinieren zu können, ist eine gattungsspezifische, angeborene Fähigkeit (Pinker 1996; Stromswold 2001). Sie erfordert jedoch kognitive, emotionale und biologische Entwicklungsschritte (→ Kapitel 2.1).

      Sprechen als soziokulturelle Fertigkeit

      Das Sprechen wird als soziokulturelle Fertigkeit in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt. Dies setzt nicht nur die sensomotorische Erfahrung der Artikulationsorte und Artikulationsweisen und die Imitation der muttersprachlichen Lautbildung voraus, sondern auch ein Wissen über die Vielfalt von Zeichenbedeutungen, ein Wissen über die Welt, über die gesprochen wird, sowie einen äußeren, sozialen Anlass und eine innere Motivation. Die Fähigkeit und die Fertigkeiten zu sprachlicher Kommunikation, deren Entwicklung und Förderung in schulischen Kontexten unter erschwerten Bedingungen spezifischer Beeinträchtigungen, steht im Folgenden im Mittelpunkt.

      Im Fokus sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote stehen das sprachliche Handeln des Kindes und dessen individuelle Lern- und Entwicklungsbedingungen. Bei schweren Beeinträchtigungen im rezeptiven und produktiven Sprachgebrauch können störungsspezifische Interventionen notwendig werden, um zunächst die basalen Grundlagen intentionalen, partnerorientierten und symbolischen Handelns zu schaffen. Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz für den Förderschwerpunkt Sprache sehen daher vor, „kommunikationsförderliche Erziehungs- und Unterrichtssituationen“ herzustellen (Drave et al. 2000, 230), in denen die Schüler Interesse entwickeln, ihre sprachliche Handlungsfähigkeit zu erproben.

      „Dabei können sprachtherapeutische Maßnahmen erforderlich werden, die Einsicht in erwartungsüblichen Sprachgebrauch vermitteln, die […] Erprobung und Übung sprachlichen Handelns sichern“ (Drave et al. 2000, 230).

      Definition:

      Sprache wird hier definiert als intentionales, partnerorientiertes, verbales und symbolisches Handeln (→ Abbildung 1).

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      sprachgenerierende und sprachbegleitende Prozesse

      Die Entwicklung sprachgenerierender kognitiver und sprachbegleitender sozial-emotionaler Prozesse in diesen kommunikationsförderlichen Unterrichtssituationen sowie die spezifische Sprachverwendung an sich kann direkt und indirekt pädagogisch unterstützt und gefördert werden. Eine solche sprachspezifische Unterstützung reicht von der Beratung der Bezugspersonen bis zur funktionellen Übung der Artikulation. Zwischen diesen problem-, individuum- und kontextorientierten Herangehensweisen bildete sich bisher das Handlungsfeld des Unterrichts als Hauptprofessionstätigkeit von spezialisierten Sprachpädagogen, so genannten Sprachheillehrern. Der Unterricht als zentrale Aufgabe des Sonderpädagogen unterschied sich zunächst weder bei den unterschiedlichen Förderschwerpunkten noch vom Auftrag anderer Lehrpersonen in Regelschulen.

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      Das Spezifische des Bildungsauftrages mit dem Förderschwerpunkt Sprache liegt im Fokus auf dem Sprachgebrauch der Schüler als Beobachtungs- und Reflexionsgegenstand.

      Unterrichtsplanung

      Die Analyse des auffälligen sprachlichen Handelns hat das Ziel, die didaktischen Anforderungen und methodischen Erfordernisse bei der Unterrichtsplanung einzuschätzen (Welling 2007, 955). In spezialisierten Schulen (z. B. Förderschulen) können dann sonderpädagogische Angebote spezifischer Sprachförderung und zusätzlicher Sprachtherapie vorbereitet und durchgeführt werden. Dort, wo Schüler mit Sprachbeeinträchtigungen am Unterricht regulärer Grundschulen teilnehmen und die Verantwortung für die Unterrichtsgestaltung vorübergehend oder vollständig bei den Grundschullehrkräften liegt, verändert sich auch das Aufgabenfeld der Sonderpädagogen mit dem Förderschwerpunkt Sprache.

      Inklusion

      Die Bildungssysteme in vielen europäischen Ländern stehen weiterhin vor der Aufgabe mit einer vorrangig inklusiv ausgerichteten Schulorganisation das Ziel Teilhabe an Bildung auch für Schüler mit Beeinträchtigungen zu erreichen. Die „Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD)“, die 2008 in Kraft trat, stellt dabei keine neuen Spezialrechte für Menschen mit Beeinträchtigungen dar, sondern konkretisiert die bestehenden Menschenrechte. In Deutschland wird häufig der Begriff der Behindertenrechtskonvention (BRK) verwendet. Die Behin-dertenrechtskonvention konkretisiert und erweitert die bestehenden Menschenrechte, es werden keine neuen Spezialrechte formuliert. Sie zielt auf die Schaffung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ab, statt auf fremdbestimmte Fürsorge durch die Gruppe von Menschen ohne Beeinträchtigungen. Das Ziel der sozialen Inklusion bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, das Ziel der schulischen Inklusion auf das gesamte Bildungssystem.

      Gleichberechtigung und Kindeswohl

      Als zentrales inhaltliches Ziel der BRK ist erstens die Gleichberechtigung hervorzuheben. Zweitens steht das Kindeswohl im Mittelpunkt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Art. 7, Abs. 2).

      Unterstützungsmaßnahmen

      Das inklusive Bildungssystem soll zudem „[…] wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld [vorhalten], das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“, bei Erhaltung des Ziels „vollständiger [sozialer] Integration“ (Art. 7, Abs. 2e). Aus diesen Artikeln lässt sich schlussfolgern, dass Bildung möglichst in einer Schule für alle organisiert sein soll bei umfänglicher (sonderpädagogischer) Unterstützung für beeinträchtigte Kinder. Von dieser Praxis sind Schulen in vielen Bundesländern in Österreich und Deutschland noch weit entfernt.

      exklusive Maßnahmen

      Sonderpädagogische Bildungsangebote durch zusätzliche, vorübergehend exklusive


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