Inklusive Sprachförderung in der Grundschule. Jörg Mußmann

Inklusive Sprachförderung in der Grundschule - Jörg Mußmann


Скачать книгу
(soziale) Integration“ zum Ziel haben. Kindern mit Beeinträchtigungen und deren Eltern wird die Möglichkeit zur Wahl alternativer bzw. paralleler Angebote wie z. B. Förderschulen nicht verweigert, sofern sie als allgemeinbildende Schulen, die auch langfristig den Zugang in die Arbeitswelt ermöglichen, von den Schulsystemen der Länder angeboten werden. Exklusive sonderpädagogische Bildungsangebote bleiben nach den Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz (2011, 16) aber „zeitlich befristete“ Maßnahmen. Gleichzeitig wird den Förderschulen die Möglichkeit offen gehalten „sich […] für Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen zu öffnen, um dort gemeinsames Lernen zu ermöglichen.“ Spezialisierte Schulen zur Sprachentwicklungsförderung (Sprachheilschulen) können sich weiterentwickeln zu einer allgemeinbildenden Grundschule mit einem profilierenden Programm zur sprachlichen Bildung, Unterstützung und Förderung aller Schüler (Glück/Mußmann 2009).

      Perspektivenwechsel in der Sonderpädagogik

      Mit dem inklusiven Schulsystem geht ein Perspektivenwechsel vom Individuum und seinen individuellen Einschränkungen hin zur behindernden physikalischen, institutionellen und personellen Umwelt einher. Für Schüler mit erschwerten Lern- und Entwicklungsbedingungen in der Sprache und Kommunikationsfähigkeit soll Chancengleichheit erreicht werden. Kinder mit z. B. Spracherwerbsstörungen, Aussprachestörungen oder Kinder die stottern, können in ihrer schulischen Bildung spezifische Barrieren erfahren. Auch sie haben daher in Regelgrundschulen einen spezifischen pädagogischen Unterstützungsbedarf.

      Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, dass auch für diese Schüler in der inklusiven Schule die Adaption des Unterrichts im Mittelpunkt steht und dass diese Differenzierung der Lernangebote im Unterricht jedoch nur mit einem individualisierten Blick auf die sprachlichen und kommunikativen Möglichkeiten der Schüler möglich ist.

      Diskussion um Inklusion

      Viele Beiträge erziehungswissenschaftlicher Vertreter in der Diskussion um eine inklusive Umstrukturierung des Bildungssystems beschränken sich häufig auf schulstrukturelle und institutionelle Aspekte (Hinz 2009). In der Sprachheilpädagogik führte diese Orientierung zu Positionen und Diskursen, die sich Vorwürfen der institutionellen Bestandswahrungen und der disziplinären Strukturerhaltung ausgesetzt sahen (vgl. Motsch 2008). Lütje-Klose (1997, 17) stellte daher früh fest, dass sich die integrative Pädagogik „seit Mitte der 70er Jahre weitgehend ohne Beteiligung der Sprachbehindertenpädagogik [entwickelte].“ Ein integrativer Anspruch in der Fachrichtung reduzierte sich auf die Integration von exklusiven Techniken in den allgemeinbildenden Unterricht (vgl. Braun 1991, 211). Zwar stellte Orthmann bereits 1969 die Nachrangigkeit des Förderorts heraus, reduzierte die Entwicklung integrativer Konzepte aber auf die therapiedidaktische Frage nach den „Verbindungsstrukturen“ (Werner 1995, 111). Lütje-Klose (1997, 19) forderte daher Konzepte und individualisierte Methoden der Sprach- und Kommunikationsförderung, die „die Gemeinsamkeit aller in der Klasse – Kinder, LehrerIn und SprachpädagogIn – unterstützt statt sie zu stören.“ Diese Konzepte haben sich mittlerweile etabliert (vgl. Reber/Schönauer-Schneider 2017; Lüdtke/Stitzinger 2017; Mahlau 2018).

      Unterricht und Sprachtherapie

      Das Verhältnis der Handlungskategorien des Unterrichts, der individualisierten Förderung und der rehabilitativen Sprachtherapie steht seit der Konstitution der Fachrichtung im Mittelpunkt der Diskussion um das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik (Werner 2001; Baumgartner 2006; Mußmann 2011).

      cross-kategorale Perspektiven

      Dezidiert integrative und förderschwerpunktübergreifende bzw. sogenannte cross-kategoriale Perspektiven aus dem angloamerikanischen Bereich blieben aber in der Sprachheilpädagogik mit Ausnahme weniger Autoren (z. B. Romonath/Prüser 1995; Bindel 2007) weitgehend unberücksichtigt. Ansätze wie der Life-Related und der Life Participation Approach der angolamerikanischen Speech and Language Pathology griffen jedoch den Begriff der Inclusion für die Konzeptionierung einer Communication Therapy sehr früh auf (insbesondere Calculator/Jorgensen 1994; indirekt auch McLean/Snyder-McLean 1978; Nelson 1995; Duchan 2000). Sie konzeptionierten spezifische Methoden, die sich an den individuellen Entwicklungsbedingungen, Problemlagen und der subjektiv empfundenen Lebensqualität der Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen orientierten. Solche Methoden sind mit Bezug auf die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der World Health Organisation (WHO 2005), im deutschsprachigen Raum erst seit einigen Jahren zu finden (z. B. Rapp 2007; Neumann/Romonath 2008; Grötzbach/Iven 2009; Kolonko/Hunziker 2013) und beschränken sich entweder auf den außerschulischen Bereich der Logopädie oder blieben in der Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigung gerade mit Blick auf schulische Kontexte lange Zeit unbeachtet (vgl. Lüdtke/Bahr 2002).

      sprachtherapeutischer Unterricht als integratives Konzept

      Die lange Phase der Stagnation der Fachrichtung verwundert, da es in der Vergangenheit verschiedene empirische und theoretisch-konzeptionelle Versuche gab, substanzielle Beiträge zur Integrationsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte zu leisten. Nicht zuletzt das Kernstück sprachheilpädagogischen Handlungswissens, das Konzept des „sprachtherapeutischen Unterrichts“, wurde von Braun implizit als integratives Konzept definiert:

      „Grundsätzlich ist sprachtherapeutischer Unterricht nicht an die Schule für Sprachbehinderte gebunden, er kann auch in anderen sprachheilpädagogischen Organisationsformen praktiziert werden. Das Konzept ist institutions- bzw. lernortunabhängig“ (Braun, 2004, 50).

      Vereinbarkeit von Bildungsauftrag und Therapieanspruch

      Das didaktische Dilemma, Bildungs- und Heilauftrag in einer Handlungskategorie und in einer Organisationsform des Bildungssystems zu vereinen, stellte die professionstheoretische Entwicklung der Sprachheilpädagogik vor eine ressourcenaufwendige Herausforderung. Statt das störungsspezifische Reflexions- und Handlungswissen zur Identifikation der relationalen Qualität von Sprachbehinderung zu nutzen, um angepasste Bildungsangebote zu entwickeln, wurden Interventionsformen zur Eliminierung und Kompensation dieser Sprachstörungen abgeleitet, deren immanenter Bildungsanspruch nur mittelbar zu erschließen war.

      integrierte Selektion

      Reiser sieht in einem solchen Verständnis sonderpädagogischer Arbeit eine „Serviceleistung“, die „allzu oft in die ‚integrierte Selektion’ mündet, statt in die Unterstützung der regelpädagogischen Lehrkräfte bei der Einbeziehung der Kinder. […] Unter dem Druck der selektiven Tendenzen des deutschen Bildungssystems“ fand eine „qualitative Deformierung“ des integrativen Anspruches statt:

      „Sonderpädagogen arbeiten z. B. in Grundschulen mit etikettierten Kindern in besonderen Gruppen, das heißt äußere Differenzierung als versteckte Selektion unter Firmierung Integration“ (Reiser 2003, 306).

      „Ressourcen-Förderungs-Dilemma“

      Damit entstand eine „Exklusivität der Disziplin Sonderpädagogik, die [die] Inklusion der Personen, die sie als ihr Klientel betrachtet, [verhindert]“ (Reiser 2003, 311). In diesem Zusammenhang diagnostizierte Hinz (2004, 245) „eine paradoxale Tendenz: Mit immer mehr Integration nehmen die Special Education Needs – in Deutschland der sonderpädagogische Förderbedarf – immer weiter (…) zu.“ Dies wurde von Füssel/Kretschmann (1993) als das so genannte „Ressourcen-Förderungs-Dilemma“ beschrieben.

      pauschale Ressourcenzuweisung im inklusiven System

      Um dieses Dilemma zu lösen, sollen sonderpädagogische Ressourcen für einen inklusiven Unterricht nicht mehr nach festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf verteilt werden, sondern sie sollen pauschal den Schulen, gebunden an die Anzahl schulpflichtiger Kinder, zugewiesen werden. Die administrative Leitung und Organisation der Regelschule und sonderpädagogischen Unterstützung sollen in einer verantwortlichen Hand liegen; in Abhängigkeit der Gesamtschülerzahl einer Regelschule unabhängig spezifisch ermittelter Unterstützungsbedarfe „werden basale Stellenvolumen für Sonderpädagogik vorgehalten, vor allem in den Bereichen Lernen, Verhalten und Sprache“ (Preuss-Lausitz 2008, 460).

      Internationale Entwicklung?


Скачать книгу