Franz Grillparzer. Группа авторов
Er gibt einen Einblick in aktuelle Lektüren und Perspektiven, die das große, noch nicht eingelöste Potenzial dieses Autors neu zu entfalten suchen.
Wie kann man Grillparzer heute einem Publikum ohne literarische Vorkenntnisse vermitteln und zur Lektüre des scheinbar toten Klassikers anregen? – Darüber reflektiert Bernhard Fetz im ersten Beitrag dieses Bandes. Seine Bestandsaufnahme fällt zunächst negativ aus: es fehlt noch an einer modernen textkritischen Ausgabe des Werkes und einer entsprechenden Leseausgabe; der Missbrauch seiner Texte als Schullektüre zu identitätspolitischen Zwecken in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik ist im österreichisches Bildungssystem noch nicht durch ein neues, offeneres und europäisch ausgerichtetes Interesse an Literatur ersetzt worden. Als Direktor des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek hat Fetz diese Ausgangssituation aber auch als Chance gesehen, neue Wege zu Grillparzer anzubieten. Sein Beitrag gibt einen anregenden Einblick in die Prinzipien hinter der Dauerausstellung im Wiener Grillparzerhaus, die im Falle des ‚Hausherrn‘ Grillparzers ihren natürlichen Ausgangspunkt im denkmalgeschützten Arbeitszimmer des Beamten Grillparzers nimmt. Von hier aus entfaltet sich eine multimediale Vermittlung des Autors, seines Werks und seines historischen Kontexts mit Hilfe von Comics, Touch-Screens, Hörstationen mit kommentierenden Nacherzählungen zentraler Werke durch zeitgenössische Autor:innen und Künstler. Über die Beschreibung der konkreten Ausstellung hinaus bietet der Beitrag von Fetz interessante Reflexionen zur zeitgemäßen Vermittlung auratischer Museumsgegenstände und zum Spannungsfeld zwischen Konstruktion und erneuter Infragestellung von literarischen Kanons. Als Kenner des grillparzerschen Werks deutet Fetz nicht zuletzt auch auf die vielen Anknüpfungspunkte für unsere Gegenwart hin, so z.B. seine subtilen Analysen von Machtmechanismen und Genderkonstruktionen.
Die Reihe der Textinterpretationen wird von Birthe Hoffmann eingeleitet, die für eine Neubewertung der Geschichtsdramatik Grillparzers im Lichte seiner postidealistischen Dramaturgie plädiert. Mit ihrer Lektüre des um 1850 verfassten, aber erst 1872 posthum uraufgeführten Geschichtsdramas Ein Bruderzwist in Habsburg, verfolgt sie die für Grillparzer zentrale Problematik des Perspektivismus und der Unauslotbarkeit menschlicher Handlungen, die hier mit der geschichtsphilosophischen Reflexion eng verbunden ist. So wird gezeigt, wie dieses Drama auf der Folie der Krise des Habsburgischen Reiches vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges geschichtliche Prozesse nach der Französischen Revolution reflektiert. Eingeleitet wird die Lektüre mit einem Vergleich mit Georg Büchners Dantons Tod, wodurch überraschende Affinitäten zwischen dem revolutionären Büchner und dem politisch eher konservativen Grillparzer aufgezeigt werden können im Hinblick auf Personengestaltung, Anthropologie und Dramaturgie. Anknüpfend an Helmut J. Schneiders Analyse der Differenzen der postidealistischen Tragödienästhetik Büchners zum Geschichtsdrama der Goethezeit kann somit auch Grillparzers Verabschiedung des Idealismus verdeutlicht werden. Beide Autoren reflektieren Dynamiken politischer Krisen, in denen die Idee des gesellschaftlich Guten in ein barbarisches Massentöten umschlägt, bei denen die Opfer jeden idealen Sinn verloren haben. Bei beiden Dramatikern entfesseln sich die Kräfte geschichtlicher Prozesse von denen, die in diese eingreifen wollten – gleichzeitig fokussieren sie auf die polyphone, gleichsam transpersonale Auseinandersetzung der Figuren mit den nun problematisch gewordenen Begriffen wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung. Wie bei Büchner geht das geschichtliche Chaos bei Grillparzer vom unkoordinierten Wesen des Menschen aus, dem somit Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis aberkannt wird. Das eindrucksvollste Beispiel dieser Problematik wird in Ein Bruderzwist in Habsburg in der psychisch extrem komplexen und labilen Figur Rudolfs II. gegeben. In ihm fallen Idee und Praxis auseinander, die Trennung von Mensch und Kaiserrolle bricht zusammen, als das Chaos des kommenden Krieges durch die Affekte Rudolfs beschleunigt wird. Die Idee einer humanen, alle Gegensätze überbrückenden Ordnung wird ebenfalls von Rudolf selbst vernichtet, als er – der gerade das Recht verbürgen sollte – seinen illegitimen Sohn Don Cäsar auf willkürliche und barbarische Weise verurteilt und ohne Gerichtsverfahren sterben lässt. Einzige Alternative zum paternalistischen Herrschaftskonzept der Habsburger bildet daher nur die vertragliche Sicherung von Bürgerrechten, die von den böhmischen Ständen und Bischof Klesel gefordert wird – eine heimliche Konzession des Juristen Grillparzers an die liberalen Kräfte seiner Zeit. Der unheimliche Schluss dieses wohl schwärzesten Stückes von Grillparzer mit seiner grotesken Mischung aus Tragik und Komik bezeugt, dass die Zukunft eher den Säuberungsideologen und Weltmetzgern gehörte.
In den beiden nächsten Textlektüren des Bandes stehen zwei Prosagattungen im Mittelpunkt, denen der Dramatiker Grillparzer eher abgeneigt war und die er doch auf brillante und originelle Weise zu prägen verstand: das autobiographische Schreiben und die Novelle. In beiden schlägt sein besonderer Sinn für Dramatik durch, und in beiden betreten wir – in den Worten Imke Meyers – „epistemologisch instabiles Terrain“ und werden gezwungen, uns mit der Unverfügbarkeit der Wahrheit über menschliche Handlungen auseinanderzusetzen.
Imke Meyer zeigt, wie Grillparzer in seiner ersten und im Vergleich zum Armen Spielmann weit weniger bekannten Novelle Das Kloster bei Sendomir (1827) in den Gewändern des schauerromantischen Repertoires die Leser:innen einer komplex vermittelten Geschichte über Familienverfall, Betrug, Mord, Schuld und Sühne aussetzt, die sich am Ende – durch die bisher verborgene Doppelidentität des Binnenerzählers – wie ein Bumerang gegen die Glaubwürdigkeit des Erzählten kehrt. Meyer nimmt die Herausforderung durch diese schockartige Destabilisierung des Narrativs auf und liest die Novelle neu als die Inszenierung einer Wahrheitskonstruktion durch den Binnenerzähler, die mit Hilfe eines Frauenopfers fragile und fragwürdige Männlichkeitskonstrukte einer homosozial-paternalistischen Welt stabilisieren soll. In ihrem eingehenden und zugleich kultur- und ideengeschichtlich tief eingebetteten close reading deckt Meyer auf, wie in der Novelle durch das Fehlen einer eindeutigen Wissensgrundlage und die subjektiv-affektive Prägung der Wahrnehmung auf mehreren Ebenen ein Kampf zwischen zwei Epistemen stattfindet, der die Novelle in den ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen der Spätaufklärung und des beginnenden 19. Jahrhunderts verortet. Die Fronten in der Novelle gehen somit zwischen einer männlich konnotierten, visuellen Wahrnehmung, die in der Aufklärung mit dem Primat rationaler Erkenntnis verbunden ist, und einer weiblich bzw. tierisch konnotierten, haptischen Erkenntnis, die neben der rationalen koexistiert und die distanzierte Wahrnehmung herausfordert. In der erfolglosen Suche der Leser:innen nach einer sicheren Beurteilung der in der Novelle verhandelten Zusammenhänge und Schuldfragen wird der Zusammenhang von visueller Wahrnehmung, haptischer Erfahrung und Sinnkonstruktion beleuchtet und reflektiert. So ist Grillparzers Handhabung von Konventionen der Schauernovelle äußerst modern: Weder kann der Erzähler die Wahrheit des Erzählten verbürgen, noch kann der Rahmen das Unerhörte des Inhalts aufheben und eingrenzen, sondern wird immer wieder gesprengt und lässt die Leser:innen auf instabilem Terrain zurück.
Die Unausdeutbarkeit von Schuldfragen und kausalen Zusammenhängen steht im Beitrag Eva Geulens ebenfalls im Mittelpunkt. Ihre Suche nach Zusammenhängen zwischen der Selbstbiographie und der Dramentrilogie Das goldene Vließ fängt mit der Charakterisierung der Besonderheiten jenes oft gelobten autobiographischen Fragments an, das erst posthum unter dem Titel Selbstbiographie an die Öffentlichkeit gelangte. Durch ihre Auseinandersetzung mit Grillparzers verschleiernd-verschweigender Darstellung familiärer Verhältnisse, die zugleich bizarre Züge aufweist, greift Geulen zwei zentrale Merkmale von Grillparzers Schreiben auf, die auch auf seine Dramatik zutreffen: Einerseits die grotesk-unheimliche Mischung bzw. Überblendung von Tragik, Grauen und Komik, andererseits die Verschleierung vom Agens, was eindeutige Schuldzuschreibungen und Rekonstruktionen eines Kausalnexus erschwert. Ausgehend vom grotesken Bild der hinter ihrem Bett in stehender Todesstarre aufgefundenen Mutter, welches in der Forschung meist übergangen wurde, nimmt Geulen über den ‚Abweg‘ der persönlichen Lektüre, bei der diese Stelle unvergesslich mit der scheintoten Madame Sauerbrot bei Wilhelm Busch verschmilzt, die Leser:innen mit auf die Suche nach möglichen Spuren der in der Selbstbiographie dargestellten Ereignisse in der Vließ-Trilogie, deren Entstehungsprozess vom Tod der Mutter eine Zeitlang unterbrochen wurde. Bei dieser Suche geht es aber nicht um eine biographische Lesart der Tragödie, sondern eher um die Analyse von strukturellen Gemeinsamkeiten. Auf diesem Weg werden die auch in der Dramentrilogie ins Dunkel gehüllten Todesarten und -ursachen (insbesondere der Pelias-Figur) deutlich. Die dadurch erreichte Verkomplizierung