Franz Grillparzer. Группа авторов
Gepäck nach Istanbul schickt. In Kürze können interessierte Leser:innen auch mit der französischen Übersetzung von Grillparzers Reisetagebüchern unterwegs sein.
Barbara Bollig rückt zwei hoch aktuelle und sehr unterschiedliche Inszenierungen des Medea-Mythos aus dem Jahr 2019 ins Zentrum der Überlegungen in ihrem Beitrag, nämlich die Aufführung von Aribert Reimanns Medea-Oper am Aalto-Musiktheater Essen und das Medea-Schauspiel von Mateja Koležnik am Staatstheater Stuttgart. Beiden Umsetzungen des Stoffes im zeitgenössischen deutschen Musik- und Sprechtheater gemeinsam ist die Tatsache, dass sie Grillparzers Version des Medea-Mythos in seiner Vließ-Trilogie als dramentextuelle Grundlage für ihre Adaptionen benutzen. In ihrer eingehenden Analyse der theatralischen Zeichenrepertoires von beiden Aufführungen zeigt Bollig, wie diese Inszenierungen nach Grillparzer funktionieren und welche interpretativen Schwerpunkte sie jeweils setzen als moderne Globalisierungs- und Psychodramen mit dem titelgebenden goldenen Widderfell in einer zentralen Rolle (Reimann) und der visuell verkörperten weiblichen Psyche in Form eines halb durchsichtigen Milchglaskastens auf der Bühne (Koležnik). Die mythische Medea ist die exemplarisch schlechte Mutter, anhand derer bis in die Gegenwart hinein divergente Mutterschaftsvorstellungen und Mutterschaftspathologien stets neu wieder verhandelt werden. Bollig lokalisiert die besondere Attraktivität von Grillparzers moderner dramatischer Bearbeitung des klassischen Stoffes für die künstlerische Weiter-Arbeit am Mythos im 21. Jahrhundert bei Reimann und Koležnik in der komplexen weiblichen Figurenpsychologie und -pathologie, die die kausal-genetischen Voraussetzungen und Umstände des Kindermordes in den Blick rückt. Die aktuellen Bearbeitungen bezeugen die gesellschaftspolitische und ästhetische Relevanz des Themas, und Bollig öffnet ihre Diskussion zur Aneignung des Medea-Mythos nach Grillparzer für grundsätzliche Fragen zur Relation von Literatur und Psychopathologie.
Der vorliegende Band ist unter außerordentlichen Bedingungen zustande gekommen. Die Pandemie hat auch für Geisteswissenschaftler:innen zu wesentlich erschwerten Arbeitsbedingungen geführt, und einige Beiträge mussten trotz des großen Interesses für dieses Buch abgesagt werden. Wir sind den Autor:innen dieses Buches dankbar, dass sie trotz der widrigen Umstände zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Wir danken dem Institut für Englisch, Germanistik und Romanistik an der Universität Kopenhagen und dem Department of German Studies an der University of Washington, Seattle, für ihre finanzielle Unterstützung dieses Bandes, sowie Nanke Nicolaisen für ihre fachkundige Hilfe beim Redigieren und Formatieren der Manuskripte. Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danken wir für sein Interesse an dem Projekt und die gute Zusammenarbeit.
Brigitte Prutti und Birthe Hoffmann
Was tun mit dem Klassiker? Franz Grillparzer im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek
Bernhard Fetz
Der österreichische Klassiker Franz Grillparzer steht auf tönernen Füßen; weder gibt es eine fundierte Leseausgabe (oder philologisch abgesicherte Studienausgabe), noch steht der Autor bei Germanist:innen hoch im Kurs. In den Schulen ist Grillparzer, im Gegensatz zur Vereinnahmung als Vertreter einer positiven Österreich-Ideologie in den 1950er Jahren, so gut wie nicht existent. Dieses Schicksal teilt er mit einem Großmeister der (österreichischen) Erzählkunst im 19. Jahrhundert, dessen dickleibige Romane ebenso wie seine Erzählungen ebenfalls kaum mehr eine Rolle im Schulunterricht spielen. Doch ist Adalbert Stifter unter Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen, so hat es zumindest den Anschein, beliebter als Grillparzer; der Gegensatz von Regionalität und Urbanität, Stifters Interesse für Umweltphänomene wie extreme Wetterereignisse, seine Verteidigung des Alten, der gefährdeten Bauwerke und handwerklichen Techniken, gegen die Zumutungen der industriellen Moderne, schließlich sein Interesse für Landschaftspflege und Gartenbau – all das macht Stifter zum scheinbar aktuelleren Autor.
Aber was hätte Grillparzer nicht alles aufzubieten! Im Zentrum seines Werks stehen Praktiken der Machtgewinnung, der Machterhaltung, der Subversion von Macht und der Aufgabe von Machtansprüchen. Zwischen Ottokar, dem Berserker, und dem armen Spielmann als Personifikation eines erfolglosen Menschen, dessen Existenz auf fast nichts gebaut ist, entwickelt Grillparzer seine literarische Bearbeitung von Machtverhältnissen. Der gewitzte, sprachgewandte Leon in „Weh dem, der lügt!“ misst den – sprachlichen – Handlungsspielraum desjenigen aus, der das Gute tun möchte und verspricht, zu dessen Erreichung auf jegliche (Not-)Lüge zu verzichten. Zentral ist auch der Kampf der Geschlechter, Medea, Libussa, die weichende Königin Margarete im „Ottokar“, sie sind moderne Figuren. Und trotzdem: Die Zeit des Klassikers Grillparzer scheint vorbei zu sein. „Grillparzer ist heute so out, wie er noch nie war“, konstatierte die Literaturkritikerin Daniela Strigl im Jahr 2016.1
Die Klage über das Verschwinden verbindlicher Lektürelisten in den Schulen (zumindest in Österreich)2 verdeckt die Tatsache, dass Kanons nur mehr als fluide, nicht selten identitätspolitisch missbrauchte Instrumentarien existieren. Sie sind keine Richtschnur mehr für (höhere) Bildung. Das kann man auch als die Gewinnung von Freiraum sehen, als Utopie eines neuen Bildungsideals, das im Austausch zwischen Lehrer:innen, Schüler:innen, Schulbehörden immer neue Listen entstehen lässt. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, anstelle frei verhandelter Lektüre-Listen, anstelle von Lust an literarischen Entdeckungen, an die Stelle einer notwendigen Erweiterung der nationalen, europäischen Kanons tritt nicht selten einfach die Einübung in Textsorten und kodifizierte Sprachpraxen als Vorbereitung für das Berufsleben.
Was bedeutet das alles für ein Literaturmuseum, das sich zwar der österreichischen Literatur vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart widmet, sich jedoch als europäisches Projekt versteht und von der Überzeugung getragen ist, dass Literatur immer auch Weltliteratur in einem mehrfachen Sinne ist? Die Kanon-Frage begleitete die Diskussionen der Kurator:innen von Beginn der Planungen an, wie könnte es auch anders sein. Die chronologisch-thematische Grundstruktur der Dauerausstellung folgt manchmal mehr, manchmal weniger kanonisierten Werken und Autor:innen. Sie legt dabei Schwerpunkte, die Platz auch für unbekanntere Positionen und Autor:innen lassen. Der Verfestigung kanonischer Tendenzen arbeitet die Fülle an Material, die Fülle an Bildern, Tönen, Mikrogeschichten und Objekten entgegen. Fast zu jedem Objekt lassen sich Geschichten erzählen, sei es eine zerrissene Arbeitshose Thomas Bernhards3 oder ein ethnologisches Fundstück aus dem 19. Jahrhundert (heimgebracht von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer). Die Regalstruktur des ehemaligen k.k. Hofkammerarchivs in der Wiener Johannesgasse bewirkt, dass sich eine festgefügte (Kanon-)struktur der Gestaltung geradezu aufdrängt, diese jedoch in der Abfolge und großen Zahl an Regalfächern gleich wieder zum Verschwinden bringt.
Es geht nicht nur um Grillparzer und sein Schattendasein als Klassiker, es geht um das Verschwinden von Lektürekompetenzen überhaupt und die oft konstatierte, kommentierte, beklagte Tatsache, dass von einem Lektürefundament weder bei den Abgänger:innen von höheren Schulen noch bei Germanistikstudent:innen ausgegangen werden kann. Wie die Mehrzahl der Museumsbesucher:innen verfügen auch sie über Vorkenntnisse, die sich Zufällen, Bildungsreminiszenzen, persönlichen Interessen, Peer Groups und sehr unterschiedlich intensiv betriebenen Studien verdanken können. Größte Belesenheit und große Ahnungslosigkeit liegen nahe beieinander. Damit geht eine Erfahrung von Lehrer:innen und Museumspädagog:innen einher, die frühere Vermittler:innen in dieser Form nicht machen konnten: dass nämlich die Artefakte alle gleich sind; dass, in unserem Falle, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ein ebenso ferner Planet ist wie Handkes „Langsame Heimkehr“, oder wie es Grillparzers Dramen und Lustspiele sind. Deshalb kann sich die Lust am Text im besten Fall an jedem beliebigen Objekt im Museum entzünden, kann sich das Interesse an der Materialität von Literatur, an Handschriften und Stimmen, frei von bestimmten Erwartungen an jedem Punkt der Ausstellung festsetzen. Allerdings: Das freie Schweifen, das unvoreingenommene Entdecken folgt den Spuren, die andere, die die Kurator:innen und Gestalter:innen gelegt haben. Was heißt das nun für Grillparzer?
Ohne ihn gäbe es wahrscheinlich kein Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek an dieser Stelle, ist doch das denkmalgeschützte Arbeitszimmer des habsburgischen Beamten Teil der Ausstellung. 1811 versuchte Grillparzer erstmals, eine Stelle in der k.k. Hofbibliothek zu erlangen; der Wunschtraum, Bibliothekar zu werden, scheiterte aber. 1815 trat er bei der Hofkammer, dem späteren Finanzministerium,