Krakatit. Karel Čapek
Postkutscher grübelte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Es geht leider nicht«, meinte er schließlich.
»Ich werde schon noch Platz finden . . . ein winziges Plätzchen genügt, ich . . .«
Auf dem Kutschbock blieb es still. Der Postkutscher fuhr sich durch den Bart, daß man es knistern hörte; dann stieg er wortlos herunter, machte sich am Strang zu schaffen und ging schweigend in das Bahnhofsgebäude. Der Fahrgast oben auf dem Bock rührte sich nicht.
Prokop war so erschöpft, daß er sich auf den Randstein setzen mußte. Ich werde mein Ziel nie erreichen, fühlte er verzweifelt; ich werde hierbleiben bis – bis –
Der Postkutscher kehrte mit einer leeren Kiste zurück. Auf irgendeine Weise brachte er sie oben neben dem Bock unter und betrachtete sie dann bedächtig. »So, nun setzen Sie sich hinauf«, sagte er endlich.
»Wohin?« fragte Prokop.
»Auf den Bock.«
Prokop gelangte auf so merkwürdige Weise auf den Kutschbock, als hätten ihn überirdische Kräfte emporgehoben. Der Postkutscher machte sich wieder am Riemenzeug zu schaffen, und dann saß er oben auf der Kiste, ließ die Beine herunterbaumeln, faßte die Zügel und sagte: »Hü!«
Das Pferd rührte sich nicht. Es zitterte nur.
Der Postkutscher stimmte ein dünnes, kehliges »Hrrr« an. Der Gaul bewegte den Schweif, und die Postkutsche fuhr langsam los.
Prokop klammerte sich krampfhaft an dem niedrigen Geländer des Bockes an; er fühlte, es werde seine Kräfte übersteigen, sich auf dem Bock aufrecht zu halten.
»Hrrr!« Dieser hohe, schnurrende Gesang schien den alten Klepper zu elektrisieren. Er lief hinkend dahin, bewegte den Schweif hin und her und ließ bei jedem Schritt hörbare Winde entweichen.
»Hrrrrrr.« Es ging durch eine Allee kahler Bäume; ringsum pechschwarze Finsternis; nur ein flimmernder Lichtstreif aus der Laterne huschte über die Straße. Prokop umklammerte mit erstarrten Fingern das Geländer. Er beherrschte seinen Körper nicht mehr, aber er durfte nicht nachgeben, obwohl er sich schwach und elend fühlte. Ein beleuchtetes Fenster glitt vorbei, eine Allee, ein dunkles Feld. »Hrrr.« Das Pferd trabte unermüdlich weiter und bewegte dabei die Beine so steif und unnatürlich, als wäre es längst tot.
Prokop blickte seinen Mitreisenden von der Seite an. Es war ein alter Mann mit einem dicken Schal um den Hals. Er kaute ständig an etwas, schob es von einem Mundwinkel in den andern und spuckte es dann wieder aus. Da erinnerte sich Prokop, diese Gestalt schon einmal gesehen zu haben. Sie hatte dasselbe scheußliche Gesicht wie damals im Traum, als sie mit den hohlen Zähnen knirschte, bis sie splitterten, und sie dann stückweise ausspie. Es war merkwürdig und gräßlich zugleich.
»Hrrrr.« Die Straße bildete eine Kehre, wand sich einen Hügel hinauf und wieder hinab. Dann tauchte ein Gutshof auf, ein Hund bellte, ein Mann kam die Landstraße daher und grüßte »Guten Abend«. Nun ging es bergan; immer mehr kleine Häuser tauchten auf. Der Postwagen bog ein, das hohe »Hrrr« brach plötzlich ab, und das Pferd blieb stehen.
»Hier wohnt Doktor Tomesch«, sagte der Postkutscher.
Prokop wollte etwas erwidern, war aber außerstande. Er bemühte sich, das niedrige Geländer loszulassen, doch die Finger waren verkrampft und klamm.
»Wir sind da«, wiederholte der Postkutscher. Langsam ließ der Krampf nach; Prokop kletterte vom Bock herunter, er zitterte am ganzen Körper. Wie im Traum öffnete er eine Gartenpforte und klingelte an der Haustür. Drin erscholl wütendes Bellen; eine junge Stimme rief: »Ruhe, Hansi!« Die Türe öffnete sich, und Prokop fragte, kaum daß er die Zunge bewegen konnte: »Ist der Herr Doktor zu Hause?«
Eine Weile blieb es still; dann sagte die junge Stimme: »Treten Sie ein!«
Prokop befand sich in einer warmen Stube. Auf dem Tisch stand eine Lampe; es war zum Abendessen gedeckt; Buchenholz duftete. Ein alter Herr, die Brille auf der Stirn, erhob sich vom Tisch, ging auf Prokop zu und fragte: »Nun, wo fehlt's denn?«
Prokop entsann sich nur trübe, weshalb er eigentlich hier war. »Ich . . . nämlich . . .«, begann er verwirrt, »ist Ihr Sohn daheim?«
Der alte Herr sah Prokop aufmerksam an. »Nein. Was ist Ihnen?«
»Georg . . . Georg«, murmelte Prokop, »ich . . . ich bin sein Freund und bringe ihm . . . ich soll ihm etwas übergeben . . .« Er suchte in den Taschen nach dem versiegelten Umschlag. »Es handelt sich um . . . eine wichtige Sache, ich – ich –«
»Georg ist nicht da«, unterbrach ihn der alte Herr. »Setzen Sie sich doch!«
Prokop war sehr erstaunt. »Aber er hat doch . . . er hat mir doch gesagt, daß er hierher fährt. Ich muß mit ihm sprechen . . .« Der Fußboden unter ihm begann zu schwanken und zu weichen.
»Anni, einen Stuhl!« rief der alte Herr mit merkwürdiger Stimme.
Prokop vernahm noch einen gedämpften Aufschrei und brach zusammen. Unendliches Dunkel hüllte ihn ein. Dann war nichts mehr.
6
Nichts mehr. Nur wie im Nebel, der sich ab und zu teilte, wurden ein Muster der Wandmalerei sichtbar, der geschnitzte Rand eines Schrankes, ein Stück Gardine oder der Fries der Zimmerdecke. Manchmal neigte sich ein Gesicht gleichsam wie über einen Brunnenrand, ohne daß jedoch die Züge erkennbar wurden. Etwas ging vor, hin und wieder befeuchtete jemand die heißen Lippen oder hob den ohnmächtigen Körper auf; aber alles schwand wieder dahin und löste sich in verschwommene Bilder eines Traumes auf.
Es waren Landschaften, Teppichmuster, Differentialrechnungen, feurige Kugeln, chemische Formeln. Zeitweise trieb etwas an die Oberfläche, wurde einen Augenblick lang zu einem klareren Traum, aber gleich darauf zerrann es wieder im breiten Strom der Bewußtlosigkeit.
Endlich trat der Augenblick ein, da er erwachte. Er sah über sich eine anheimelnde, sichere Zimmerdecke mit einem Stuckfries, fand mit den Augen seine eigenen abgezehrten, todblassen Hände auf der geblümten Bettdecke und entdeckte dahinter die Bettleiste, einen Schrank und eine weiße Tür, alles gleichsam liebenswert still und vertraut. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er wollte darüber nachdenken, doch sein Kopf war unsagbar matt. Alles begann wieder zu verschwimmen; da schloß er die Augen und ruhte, in seine Schwäche ergeben, aus.
Die Tür knarrte leise. Prokop öffnete die Augen und setzte sich im Bett auf, als hätte ihn etwas emporgehoben. Ein Mädchen stand in der Tür, groß und schön, blickte aus klaren, ungemein erstaunten Augen und hielt ein weißes Linnen an die Brust gedrückt. Sie rührte sich nicht vor Verlegenheit; ihre langen Wimpern zuckten, und ihr rosiger Mund begann unsicher und scheu zu lächeln. Prokop blickte finster drein. Er bemühte sich angestrengt, etwas zu sagen, aber sein Kopf war leer. Er bewegte lautlos die Lippen und beobachtete das Mädchen mit strengen, nachdenklichen Augen.
»Gúnúmai se, anassa«, kam es jäh und unbewußt von seinen Lippen, »theos ny tis é brotos essi?« Und weiter, Vers um Vers, strömte der göttliche Gruß, mit dem Odysseus Nausikaa angeredet hatte. »Flehend nah' ich dir, Hohe, der Göttinnen, oder der Jungfraun! Bist du der Göttinnen eine, die hoch obwalten im Himmel; Artemis gleich dann acht' ich, der Tochter Zeus der Erhabenen, dich an schöner Gestalt, an Größ' und jeglicher Bildung. Bist du der Sterblichen eine, die rings umwohnen das Erdreich, dreimal selig dein Vater fürwahr und die würdige Mutter, dreimal selig die Brüder zugleich! Muß ihnen das Herz doch stets von entzückender Wonne ob deiner Schöne durchglüht sein, wenn sie schaun, wie ein solches Gewächs hinschwebt zum Reihntanz!«
Das Mädchen lauschte reglos, wie versteinert, dieser Begrüßung in einer ihr unbekannten Sprache. Ihre glatte Stirn kräuselte sich vor Verwirrung, und ihre Augen blickten so kindlich und unerschrocken, daß Prokop den Eifer des ans Ufer geschleuderten Odysseus verdoppelte, obgleich er selber nur unklar den Sinn der Worte begriff.
»Keinos d'au peri kéri makartatos«, sagte er rasch her. »Aber wie ragt doch jener