Krakatit. Karel Čapek
Mädchen war über und über errötet, als ob sie den Gruß des griechischen Helden verstanden hätte. Eine linkische und zugleich anmutige Verwirrung lähmte ihr die Glieder, und Prokop sprach, die Hände über der Bettdecke gefaltet, als ob er bete:
»Da warf hierher mich ein Dämon, daß noch hier ich dulde des Weh's. Denn schwerlich ja wird's nun endigen; viel noch drohn mir vorher zu erfüllen die Götter!«
Prokop atmete schwer und hob die erschreckend mageren Hände. »Alla, anass', eleaire! Aber erbarme dich, Hohe! Denn dir, nach unendlicher Trübsal, naht' ich zuerst hilflos – der anderen Sterblichen kenn' ich niemand, welche das Land und die Stadt hier bewohnen. Zeige mir jetzt doch die Stadt, und gib mir ein Stück zur Bedeckung, etwa ein Wickeltuch, worin du die Wäsche gebracht hast.«
Nun hellte sich das Gesicht des Mädchens ein wenig auf, die feuchten Lippen öffneten sich leicht. Vielleicht wird Nausikaa antworten, aber Prokop wollte sie noch für das Wölkchen lieblichen Mitleids, das ihr Gesicht so rosig färbte, segnen. »Mögen die Götter dir schenken, so viel dein Herz nur begehret, einen Mann und ein Haus, und Fried euch gewähren und Eintracht, selige! Nichts ist wahrscheinlich so wünschenswert und erfreulich, als wenn Mann und Weib, in herzlicher Liebe vereinigt, ruhig ihr Haus verwalten; dem Feind ein kränkender Anblick, aber Wonne dem Freund, und mehr noch genießen sie selber.«
Die letzten Worte hatte Prokop nur noch geflüstert. Er verstand sie selbst kaum. Sie entströmten fließend und ohne seinen Willen einem unbekannten Winkel des Gedächtnisses. Es war fast zwanzig Jahre her, seit er sich durch die süße Wortmelodie des sechsten Gesanges so schlecht und recht hindurchgearbeitet hatte. Es bereitete ihm geradezu eine körperliche Erleichterung, die Worte frei verströmen zu lassen. Sein Kopf wurde unbeschwerter und klarer; er fühlte sich selig in dieser schlaffen, angenehmen Mattigkeit. Ein verlegenes Lächeln trat auf seine Lippen.
Auch das Mädchen lächelte, regte sich und sagte: »Nun denn?« Sie trat einen kleinen Schritt näher und begann zu lachen. »Was haben Sie da gesagt?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Prokop unsicher.
Da flog die nur angelehnte Tür auf: etwas Kleines, Zottiges kam hereingeflitzt, quietschte vergnügt und sprang aufs Bett.
»Hansi!« schrie das Mädchen erschrocken auf, »gleich gehst du herunter!« Aber der kleine Hund leckte bereits Prokops Gesicht und schmiegte sich mit leidenschaftlichem Vergnügen in die Bettdecke. Prokop fuhr sich über die Wangen, um sie zu trocknen; da verspürte er entsetzt einen richtigen Vollbart unter der Hand. »Wie – wieso denn?« stotterte er und verstummte erstaunt. Der Hund tollte umher, biß Prokop aus überströmender Zärtlichkeit in die Hände, knurrte vergnügt, bellte und erreichte schließlich mit seiner nassen Schnauze Prokops Brust.
»Hansi«, rief jetzt das Mädchen, »bist du verrückt? Gleich wirst du das Herrchen in Ruhe lassen!« Sie eilte ans Bett und nahm den Hund in die Arme. »Bist du aber dumm, Hansi!«
»Lassen Sie ihn«, bat Prokop.
»Aber Sie haben doch eine schlimme Hand«, wandte das Mädchen mit deutlichem Ernst ein, während sie den sich zur Wehr setzenden Hund fest an die Brust drückte.
Prokop sah verständnislos auf seine Rechte. Vom Daumen über die Handfläche zog sich eine breite Narbe, die mit einem neuen, ganz dünnen, angenehm juckenden roten Häutchen überzogen war. »Wo . . . wo bin ich denn eigentlich?« fragte er erstaunt.
»Bei uns«, antwortete das Mädchen mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit, die Prokop sofort beruhigte. »Bei Ihnen«, wiederholte er erleichtert, obgleich er keine Ahnung hatte, wo das war. »Und wie lange schon?«
»Seit zwanzig Tagen. Und immer haben Sie . . .«, sie wollte etwas sagen, verstummte aber wieder. »Hansi hat bei Ihnen geschlafen«, setzte sie dann rasch hinzu und errötete, ohne zu wissen, warum, wobei sie den Hund wie ein kleines Kind wiegte. »Wissen Sie davon?«
»Nein«, antwortete Prokop nachdenklich. »Habe ich denn geschlafen?«
»In einem fort«, entfuhr es ihr. »Jetzt könnten Sie schon ausgeschlafen sein.« Sie ließ den Hund auf die Erde und näherte sich dem Bett. »Geht es Ihnen besser? . . . Haben Sie einen Wunsch?«
Prokop schüttelte den Kopf; ihm fiel nichts ein. »Wie spät ist es?« fragte er unsicher.
»Zehn. Ich weiß nicht, was Sie essen dürfen. Sobald der Vater kommt . . . Vater wird sich freuen . . . Möchten Sie etwas?«
»Einen Spiegel«, bat Prokop zögernd.
Das Mädchen lachte und eilte hinaus. In Prokops Kopf rumorte es. Er versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, aber alles entglitt ihm immer wieder. Da kam schon das Mädchen zurück, sagte irgendwas und reichte ihm einen kleinen Spiegel. Prokop wollte die Hand heben; es ging nicht. Das Mädchen drückte ihm den Griff zwischen die Finger, doch der Spiegel fiel auf die Bettdecke. Da erblaßte das Mädchen und hielt ihm, seltsam beunruhigt, den Spiegel vor die Augen. Prokop starrte hinein und erblickte ein vollkommen fremdes Gesicht mit dichten Bartstoppeln auf Wangen und Kinn. Er starrte und konnte nicht begreifen; seine Lippen begannen zu zittern.
»Legen Sie sich gleich nieder, legen Sie sich gleich wieder nieder«, gebot ihm eine zarte, fast schluchzende Stimme, und flinke Hände rückten ihm das Kissen zurecht. Prokop legte sich zurück und schloß die Augen. Ich werde noch ein Weilchen schlafen, dachte er, und fühlte eine angenehme, tiefe Stille um sich.
7
Jemand zupfte ihn am Ärmel. »He!« sagte dieser Jemand. »Jetzt wird nicht mehr geschlafen!« Prokop öffnete die Augen und sah einen alten Herrn vor sich mit einer rosigen Glatze, weißem Spitzbart, goldener Brille auf der Stirn und ungemein lebhaften Augen. »Schlafen Sie jetzt nicht mehr weiter, Verehrtester«, sagte der alte Herr, »es ist übergenug; sonst erwachen Sie erst im Jenseits.«
Prokop musterte den alten Herrn mürrisch; er wollte lieber weiterschlafen. »Was soll ich?« fragte er unwillig. »Mit . . . mit wem habe ich überhaupt die Ehre?«
Der alte Herr begann zu lachen. »Bitte, Doktor Tomesch. Sie haben mich ja bisher nicht zur Kenntnis genommen. Tut nichts. Wie fühlen Sie sich?«
»Prokop«, brummte der Kranke unfreundlich.
»So, so«, meinte der Doktor zufrieden. »Und ich hätte Sie fast schon für das Dornröschen gehalten. Nun, Herr Ingenieur, ich muß Sie mir jetzt ansehen. Bitte, nur keine Grimassen!« Er zauberte unter Prokops Achsel ein Thermometer hervor und knurrte behaglich. »Fünfunddreißig acht. Sie sind wie eine Fliege. Wir müssen Sie auffüttern. Rühren Sie sich nicht!«
Prokop spürte auf der Brust eine kalte Glatze und ein kaltes Ohr, das von einer Schulter zur andern, vom Bauch zum Hals glitt, während ein aufmunterndes Brummen zu hören war.
»Ausgezeichnet«, sagte der Doktor schließlich und schob seine Brille herunter. »Rechts rasselt es noch ein wenig, und das Herz – na, das werden wir schon in Ordnung bringen.« Er beugte sich über Prokop, hob ihm mit beiden Daumen die Augenlider und drückte sie wieder hinunter. »Jetzt wird nicht mehr geschlafen«, sagte er und prüfte dabei die Pupillen. »Sie bekommen Bücher und werden lesen. Sie werden etwas essen, ein Gläschen Wein trinken und – rühren Sie sich nicht, ich beiße nicht.«
»Was fehlt mir?« fragte Prokop zaghaft.
Der Doktor richtete sich auf. »Jetzt nichts mehr. Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich hierhergekommen?«
»Wohin hierher?«
»Hierher nach Teinitz. Wir haben Sie vom Fußboden aufgehoben und . . . Woher sind Sie denn gekommen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, aus der Stadt«, besann sich Prokop.
Der Doktor schüttelte den Kopf. »Per Bahn aus der Stadt! Mit einer Gehirnhautentzündung! Waren Sie bei Verstande? Wissen Sie überhaupt, was es war?«
»Nein.«
»Meningitis. Eine Schlafform von Meningitis.