Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke

Der Weg nach Afrika - Helmut Lauschke


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Freude der Kinder, die für ihn von jeher die liebsten Patienten waren. Der Kindersaal war eine Welt für sich, weil das Leiden des Kindes so viel mächtiger war als beim Erwachsenen. Es gab für Dr. Ferdinand nichts Ergreifenderes, als ein Kind leiden zu sehn, nichts Erschütternderes, als ein Kind sterben zu sehn, und nichts Schöneres, als ein Kind gesund werden und lachen zu sehn.

      Von der herzlichen Natürlichkeit

      Die unbescholtene Natürlichkeit und herzliche Dankbarkeit eines Kindes waren immer wieder unvergleichliche Erlebnisse. Er verliess den Kindersaal in Richtung Teeküche, um eine Tasse Tee zu trinken und vielleicht doch noch ein Osterei zu bekommen, und wenn es nur ein gewöhnliches, hart gekochtes Ei war. Der stets freundliche Mann am Eingang der Teeküche, der zur Feier des zweiten Ostertages fast im blütenweissen Küchendress vor ihm stand, wenn man einmal von den geflickten Ärmeln über den Ellenbogen und dem überflickten rechten Hosenbein über dem Knie absah, begrüsste Dr. Ferdinand mit einem strahlenden Gesicht. Sie gaben sich die Hand und wechselten einige Worte in drei Sprachen, wobei das Afrikaans in der Mitte stand. Die Geste der Selbstverständlichkeit hatte ihre Wirkung darin, dass dieser Küchenmann, der den Doktor als 'goeie Duitse man' titulierte, ihm nun zwei hart gekochte Eier auf den Teller legte, dazu zwei Weissbrotscheiben und einen Löffel voll Margarine. Er stellte ihm eine volle Teekanne auf den Tisch, brachte die Kaffeetasse mit Teelöffel und eine zweite Kaffeetasse, die mit Zucker gefüllt war, nach und sang den Choral, der aus dem kleinen Radio in der Teeküche kam, in der Sprache seiner Menschen mit. Dr. Ferdinand pellte die Schale in Ostererinnerungen an seine Kinder vom ersten Ei, als Dr. Nestor die Kantine betrat und sich an den Tisch dazusetzte, um eine Tasse Tee zu trinken. "Der Krieg hat die Menschen so sehr in Angst und Schrecken versetzt, dass sie jetzt mit Bluthochdruck und Kopfschmerzen kommen, die sie ohne Medikamente nicht unter Kontrolle bringen. Es sind magere Menschen, die vorher einen Blutdruck hatten, der sich an der unteren Grenze bewegte." Dr. Ferdinand dachte an die übersättigten Patienten mit dem Übergewicht in Deutschland, die einen hohen Blutdruck hatten, weil Fettsucht und Stress sich nicht vertrugen. "Was machen Sie da?", fragte er. "Ich versuche es mit Beta-Blockern, mit Propranolol und Flumethiaziden, doch einige vertragen die Medikamente nicht, klagen über Schwindelgefühl, Brechreiz, Atembeschwerden und Muskelkrämpfe. Dazu kommt, dass die Apotheke nicht genügend Medikamente hat." Der Krieg beeinflusste nicht nur die Chirurgie, sondern griff tief in die nervösen Zentren der Menschen ein, die es am Herzen spürten, weil sie sich der Schrecken nicht mehr erwehren konnten. Ein anderer Punkt, den Dr. Nestor erwähnte, war die erschreckende Zunahme der Tuberkulose, der die Menschen aufgrund der schlechten Ernährung und des geschwächten Immunsystems wie Fliegen erlagen. "Das haben unsere Menschen nicht verdient." Auch wenn es eine stehende Redewendung des schwarzen Kollegen war, Dr. Ferdinand stimmte ihm zu. Da beide im selben Boot sassen, konnten beide an der Situation nichts ändern. "Wir können nur unseren kleinen Teil beitragen, um die Not zu lindern, soweit es in unseren Kräften steht. Im übrigen hoffen wir auf das Ende dieses Unrechtssystems, und die Hoffnung geben wir nicht auf, wobei wir uns in Geduld üben müssen, weil uns nichts anderes übrigbleibt." Sie waren noch im Gespräch, als gleich zwei Schwestern in die Kantine stürzten, die eine vom Kreisssaal, weil eine Gebärende den fötalen Armvorfall hatte, was eine normale Entbindung unmöglich macht, und die andere Schwester aus der OPD (Outpatient department), wo eine junge Frau aus Südangola gebracht wurde, der vor drei Tagen ein Rind das Horn in den Bauch gestossen hatte. Dr. Ferdinand bat seinen Kollegen, die Narkose zum Kaiserschnitt zu geben und wies die Schwester vom Kreisssaal an, den Op in Kenntnis zu setzen und die Patientin unverzüglich dorthin zu bringen. Dann ging er mit der anderen Schwester zur OPD, um die junge Frau zu untersuchen. Sie lag auf der Trage. Er hob das Tuch ab, das über den Bauch gelegt war. Das Rind hatte mit dem Horn ein grosses Loch in die Bauchdecke gestossen, aus dem zwei Dünndarmschlingen und ein Teil des grossen Netzes herausgetreten waren, auf denen der angolanische Sand vom Fettgewebe des grossen Netzes nicht abzuwischen war.

      Ein Wunder, dass es diese Frau bis hierher lebend schaffte, dachte Dr. Ferdinand, als er sich die dreitägige Reise auf der Eselskarre, die von der Grenze über das östliche Kaokoland führte, von der Schwester, die der portugiesischen Sprache teilweise mächtig war, übersetzen liess. Da die Patientin erheblich an Blut verloren hatte, wurde eine Blutprobe zur Bestimmung des Blutfarbstoffs, der Elektrolyte und zur Kreuztestung für die erforderlichen Konserven ins Labor geschickt. Eine Laparotomie war dringend angezeigt, dass Dr. Ferdinand die Schwestern beauftragte, die Vorbereitungen zur Operation zu treffen und die Patientin zum Op zu bringen, während er sich schon auf den Weg dorthin machte, um den Notfall-Kaiserschnitt durchzuführen. Die verhinderte Mutter lag bereits auf dem Op-Tisch, und die Schwester hatte die braune Desinfektionslösung auf der Bauchdecke verrieben, als Dr. Ferdinand in den Op trat, um dem Kollegen zu signalisieren, mit der Narkose zu beginnen. Er hatte sich gewaschen, bekam den grünen Op-Kittel übergezogen und trat an den Tischm als er die Handschuhe über die Kittelenden streifte. Die Schwester hatte die Patientin mit sterilen Tüchern abgedeckt und reichte dem Operateur das Skalpell. Er machte den queren Haut- und Faszienschnitt nach Pfannenstiel (dem Breslauer Gynäkologenl) oberhalb der Schambeinfuge, spreizte in der Mitte und längs die Bauchmuskeln, eröffnete das äussere Bauchfellblatt, löste die Harnblase vom Gebärmutterhals und schnitt ihn in querer Richtung ein. Der fötale Kopf sass tief im kleinen Becken und drückte auf den vorgefallenen Arm. Der Kopf wurde mit Mühe gelöst und zurückgezogen und mit ihm der Arm, so dass der reife Fötus durch die mütterliche Wunde entwickelt und von der Nabelschnur abgetrennt wurde, die sich um den Hals gewickelt hatte. Die leichte Blaufärbung des an den Fussgelenken gefassten mit dem Kopf nach unten hängenden Föten kam die Rosafarbe nach zweimaligen, sanften Schlägen auf den Rücken, dass ein gesundes Baby geboren wurde und ein Osterjunge dazu, dem der Vorfall den Arm nicht gebrochen hatte. Alle freuten sich über den Erfolg der Rettungsmassnahmen und den gesunden Neuankömmling, dem sie eine bessere Zukunft wünschten. Die Plazenta wurde durch Zug an der Nabelschnur gelöst und herausgeholt und auf ihre Vollständigkeit geprüft. Die Wundfläche der Uterushöhle wurde mit einer grossen Kompresse gesäubert und der Gebärmutterhals durch Naht geschlossen, die Harnblase über die Nahtreihe gelegt und mit drei Haltenähten am Uterus fixiert. Während er die Bauchdecke verschloss, informierte Dr. Ferdinand das Team von der jungen Frau aus Angola mit der Bauchverletzung durch den Stoss eines Rinderhorns, die als nächste operiert werden musste.

      Die Nachricht.wurde gelassen aufgenommen, weil ein Teamgeist der Hilfe herrschte, dem der Ostermontag keinen Abbruch tat. Die junge Mutter schlief nach der operativen Entbindung die Narkose aus und wurde in den Aufwachraum gefahren. Eine andere Schwester trug die steril verpackten Instrumentensiebe für die Laparotomie zum 'theatre 3'. Die beiden Doktoren setzten sich zu einer Tasse Tee in den kleinen Teeraum, wo Dr. Nestor den weiten Weg von der angolanischen Grenze durchs Kaokoland bis nach Oshakati erklärte, auf dem zahlreiche Strassensperren zu umfahren waren, was den Weg noch weiter machte. Beide drückten ihre Bewunderung vor dem starken Lebenswillen der Menschen aus, die sich einer solchen mehrtägigen Reisestrapaze unterzogen, und staunten insbesondere über die Anstrengung und Courage des Vaters, der die Tochter auf der Eselskarre aus einer Entfernung brachte, die Dr. Nestor auf zweihundertfünfzig bis dreihundert Kilometer schätzte. Zwei Schwestern fuhren die Trage mit der Patientin in den Op, dass die beiden Doktoren ihnen zu Hilfe eilten, um die Patientin auf den Op-Tisch herüber zu heben. Dr. Nestor schob den Atemtubus in die Luftröhre und schloss ihn an das Narkosegerät an, als Dr. Ferdinand im Op-Kittel mit übergestreiften Handschuhen an den Tisch trat, mit einer sterilen Kompresse die ausgestülpten Darmschlingen und das Netz umfasste, damit die Op-Schwester die Bauchdecke mit der braunen Lösung überstreichen konnte. Dann wurden von beiden Seiten grosse Kompressen dem vorgelagerten Eingeweide unterlegt, um den Sandbelag mit kochsalzgetränkten Kompressen zu entfernen, was aufgrund der Dauer des Vorfalls nur teilweise gelang. Über einen mittleren Längsschnitt wurde die Bauchhöhle eröffnet und revidiert. Da fanden sich einige Blutergüsse am Gekröse, weitere Darmverletzungen lagen nicht vor. Erstaunlich war, dass die seit drei Tagen ausgestülpten, bläulich verfärbten Darmschlingen beim Fingerklopf flachwellig peristaltisch reagierten, also noch lebten, weil das Rind mit dem Horn das Loch in der Bauchdecke gross genug gemacht hatte, dass die arterielle Blutzufuhr nicht und der venöse Rückfluss nur leicht gedrosselt wurden. Auch nahmen die Darmschlingen nach Eröffnung der Bauchhöhle eine hellere Farbe


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