Winnetou Band 1. Karl May
hatte Gott verloren, als ich aus der Heimat ging, und nahm an Stelle des Reichtumes,
den ein fester Glaube bietet, das Schlimmste mit, was der Mensch besitzen kann, nämlich ein böses
Gewissen.«
Er sah mich bei diesen Worten forschend an. Als er mein Gesicht ruhig bleiben sah, fragte er:
»Erschrecken Sie da nicht?«
»Nein.«
»Aber ein böses Gewissen! Bedenken Sie doch!«
»Pah! Sie sind kein Dieb, kein Mörder gewesen. Einer niedrigen Gesinnung waren Sie nie fähig.«
Er drückte mir die Hand und sprach:
»Ich danke Ihnen herzlich! Und doch irren Sie sich. Ich war ein Dieb, denn ich habe viel, ach so viel
gestohlen! Und das waren kostbare Güter! Und ich war ein Mörder. Wie viele, viele Seelen habe ich
gemordet! Ich war Lehrer an einer höheren Schule; wo, das zu sagen, ist nicht nötig. Mein größter Stolz
bestand darin, Freigeist zu sein, Gott abgesetzt zu haben, bis auf das Tüpfel nachweisen zu können, daß
der Glaube an Gott ein Unsinn ist. Ich war ein guter Redner und riß meine Hörer hin. Das Unkraut,
welches ich mit vollen Händen ausstreute, ging fröhlich auf, kein Körnchen ging verloren. Da war ich der
Massendieb, der Massenräuber, der den Glauben an und das Vertrauen zu Gott in ihnen tötete. Dann kam
die Zeit der Revolution. Wer keinen Gott anerkennt, dem ist auch kein König, keine Obrigkeit heilig. Ich
trat öffentlich als Führer der Unzufriedenen auf; sie tranken mir die Worte förmlich von den Lippen, das
berauschende Gift, welches ich freilich für heilsame Arznei hielt; sie stürmten in Scharen zusammen und
griffen zu den Waffen. Wie viele, viele fielen im Kampfe! Ich war ihr Mörder, und nicht etwa der Mörder
dieser allein. Andere starben später hinter Kerkermauern. Auf mich wurde natürlich mit allem Fleiße
gefahndet; ich entkam. Ich verließ das Vaterland, ohne mich zu grämen. Keine liebende Seele weinte um
mich; ich hatte weder Vater noch Mutter mehr, weder Bruder, Schwester noch sonstige Verwandte. Kein
Auge weinte um mich, aber wie viele, viele wegen mir! Daran dachte ich aber gar nicht, bis diese
Erkenntnis über mich kam wie ein Keulenschlag, der mich beinahe zu Boden streckte. Am Tage, bevor
ich die schützende Grenze erreichte, wurde ich von der Polizei gehetzt, die mir hart auf den Fersen war.
Es ging durch ein armes Fabrikdorf. Dem sogenannten Zufalle folgend, rannte ich durch ein kleines
Gärtchen in ein armseliges Häuschen und vertraute mich, ohne meinen Namen zu nennen, einem alten
Mütterchen und ihrer Tochter an, die ich in der niedrigen Stube fand. Sie versteckten mich um ihrer
Männer willen, deren Kamerad ich gewesen sei, wie sie sagten. Dann saßen sie bei mir im dunkeln
Winkel und erzählten mir unter bitteren Tränen von ihrem Herzeleide. Sie waren arm, aber zufrieden
gewesen; die Tochter hatte sich erst vor einem Jahre verheiratet gehabt. Ihr Mann hörte eine meiner
Reden und wurde durch dieselbe verführt. Er nahm seinen Schwiegervater mit auf die nächste
Versammlung, und das Gift wirkte auch auf diesen. Ich hatte diese vier braven Menschen um ihr
Lebensglück gebracht. Der junge Mann fiel auf dem Schlachtfelde, welches kein Feld der Ehre war, und
der alte Vater wurde zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt. Dies erzählten mir die Frauen, die mich,
der an ihrem Unglücke schuld war, gerettet hatten. Sie nannten meinen Namen als den des Verführers.
Das war der Keulenschlag, welcher mich, nicht äußerlich, sondern innerlich traf. Gottes Mühle begann zu
mahlen. Die Freiheit war mir geblieben, aber im Innern litt ich Qualen, zu denen mich kein Richter hätte
verurteilen können. Ich irrte hier aus einem Staate in den andern, trieb bald dies bald jenes und fand
nirgends Ruhe. Das Gewissen peinigte mich aufs entsetzlichste. Wie oft bin ich dem Selbstmorde nahe
gewesen; immer hielt mich eine unsichtbare Hand zurück Gottes Hand. Sie leitete mich nach Jahren der
Qual und der Reue zu einem deutschen Pfarrer in Kansas, der meinen Seelenzustand erriet und in mich
drang, mich ihm mitzuteilen. Ich tat es zu meinem Glücke. Ich fand, freilich erst nach langen Zweifeln,
Vergebung und Trost, festen Glauben und inneren Frieden. Herrgott, wie danke ich dir dafür!«
Er hielt inne, faltete die Hände und warf einen langen, langen, leuchtenden Blick zum Himmel empor.
Dann fuhr er fort:
»Um mich innerlich zu festigen, floh ich die Welt und die Menschen; ich ging in die Wildnis. Aber nicht
der Glaube allein ist's, welcher selig macht. Der Baum des Glaubens muß die Früchte der Werke tragen.
Ich wollte wirken, womöglich grad entgegengesetzt meinem früheren Wirken. Da sah ich den roten Mann
sich verzweiflungsvoll sträuben gegen den Untergang; ich sah die Mörder in seinem Leibe wühlen, und
das Herz ging mir über von Zorn, von Mitleid und Erbarmen. Sein Schicksal war beschlossen; ich konnte
ihn nicht retten; aber eins zu tun, das war mir möglich: ihm den Tod erleichtern und auf seine letzte
Stunde den Glanz der Liebe, der Versöhnung fallen lassen. Ich ging zu den Apachen und lernte es, mein
Wirken ihrer Individualität anzubequemen. Ich habe Vertrauen gefunden und Erfolge errungen. Ich
wollte, Sie könnten Winnetou kennen lernen; er ist so eigentlich mein eigenstes Werk. Dieser Jüngling ist
groß angelegt. Wäre er der Sohn eines europäischen Herrschers, so würde er ein großer Feldherr und ein
noch größerer Friedensfürst werden. Als Erbe eines Indianerhäuptlings aber wird er untergehen, wie seine
ganze Rasse untergeht. Könnte ich doch den Tag erleben, an welchem er sich einen Christen nennt! Wo
nicht, so will ich wenigstens bis zum Tage meines Todes bei ihm sein in jeder Anfechtung, Gefahr und
Not. Er ist mein geistiges Kind; ich liebe ihn mehr als mich selbst, und wäre mir einmal das Glück
beschieden, die tödliche Kugel, die ihm gelten soll, in meinem Herzen aufzufangen, so würde ich mit
Freuden für ihn sterben und dabei denken, daß dieser Tod zugleich eine letzte Sühne meiner früheren
Sünden sei!«
Er schwieg und senkte den Kopf. Ich war tief bewegt und sagte nichts, denn ich hatte das Gefühl, als ob
jede Bemerkung nach einem solchen Bekenntnisse trivial klingen müsse; aber ich nahm seine Hand in die
meinige und drückte sie herzlich. Er verstand mich und gab mir dies durch ein leises Nicken und einen
Gegendruck zu erkennen. Es verging eine ganze Weile, bis er leise fragte:
»Woher es nur kommt, daß ich Ihnen dies erzählt habe? Ich sehe Sie heut zum erstenmal und werde Sie
vielleicht nie wiedersehen. Oder ist es auch eine Gottesfügung, daß ich hier und jetzt mit Ihnen
zusammengetroffen bin? Sie sehen, ich, der frühere Gottesleugner, suche jetzt alles auf diesen höhern
Willen zurückzuführen. Es ist mir mit einemmal so sonderbar, so weich, so wehe um das Herz, doch ist
dies "wehe"