Andran und Sanara. Sven Gradert

Andran und Sanara - Sven Gradert


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hier heruntergekommen? Kommt mit und bleibt dabei dicht hinter mir!“

      Morna folgte der älteren Frau. Doch anstatt in den Vorraum zu gehen, wo die bewusstlosen Wärter lagen, und von wo aus eine Treppe nach oben führte, wählte Elze einen Seitengang, von dem aus eine Treppe die beiden Frauen tiefer ins Verlies führte. Die Stufen, die man vor Jahrhunderten ins Gestein geschlagen hatte, waren glitschig und somit extrem rutschig. Morna wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit Elze eine Stufe nach der anderen nahm, während sie selbst sich immer wieder am Mauerwerk abstützen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Unten angekommen, gelangten sie in einen fast kreisförmigen Raum, an dessen Wänden brennende Fackeln in ihren Halterungen steckten. Drei weitere Gänge führten aus diesem Raum hinaus. Morna kniff unwillkürlich wieder die Augen zusammen, doch sie schien sich schnell wieder an das Licht des Feuers zu gewöhnen. Der modrige Geruch, der einem hier unten entgegenschlug, war entsetzlich. Es roch nach Tod. Elze presste einen ihrer Finger an die Lippen und bedeutete der Halbgöttin absolut leise zu sein:

      „Hier unten befinden sich nur noch zwei Wächter.“ teilte sie Morna flüsternd mit und deutete dabei in Richtung einer der drei Gänge: „Wir müssen diesen Gang dort entlang. Hier unten darf sich niemand außer den Wärtern aufhalten. Daher dürfen sie uns auf keinen Fall entdecken.“ Nach einer kurzen Weile, nahmen die beiden Frauen von weitem den Schein von Fackeln, der aus einem der anderen beiden Gänge kam, wahr. Die Wärter kamen rasch näher.

      „Den Göttern sei Dank!“ murmelte Elze und zog Morna schnell in den Gang, auf den sie zuvor gezeigt hatte. Die beiden Frauen liefen so schnell sie konnten, bis sie die erste Gabelung erreichten. Zielsicher rannte Elze zur rechten weiter und wurde erst langsamer als sie sich sicher war, dass sie der Schein der eigenen Fackel nicht verraten hatte:

      „Gleich müsste wieder eine Treppe nach unten kommen,“ flüsterte sie erneut: „Dann haben wir es fast geschafft.“

      Morna schaute die Dienerin verwirrt an: „Müssen wir nicht irgendwann auch mal wieder eine Treppe nach oben nehmen, wenn wir hier rauskommen wollen?“ Dabei wischte sie sich Unmengen von Spinnweben aus den Haaren und ihrem ohnehin schon völlig zerschundenem Kleid.

      „Hier führt keine Treppe mehr nach oben!“ Strahlte Elze sie an: „Hier führt auch kein bekannter Weg mehr nach draußen. Daher müssen wir uns jetzt auch um keine Wärter mehr sorgen.“ Ihr entging nicht, dass Morna sie völlig verständnislos anblickte.

      „Seit beinahe fünfzig Jahren arbeite ich nun schon als Dienerin und Hebamme im Palast des Herrschers.“ klärte Elze sie auf: „Davor meine Mutter fast ebenso lang und vor ihr meine Großeltern. Denkt ihr nicht auch, dass in all den Jahrzehnten, ach was sag ich, den Jahrhunderten, in denen meine Familie im Palast arbeitete und gelebt hat – wir nicht von dem einen oder anderen Geheimnis erfahren haben?“ Morna schaute die alte Dienerin nur mit großen Augen an, als diese auch schon fortfuhr:

      „Wir müssen zur Zelle von Dormus den Schrecklichen, dann sind wir am Ziel!“

      „Dormus den Schrecklichen? Wie nett!“ Für einen kurzen Moment dachte Morna darüber nach, ob Elze noch richtig bei Verstand war. Sie hoffte es inständig.

      „Keine Bange Liebes,“ versuchte Elze ihre Herrin zu beruhigen: „Dormus lebt schon seit über dreihundert Jahren nicht mehr. Allerdings hat man seine Gebeine nie aus seiner Zelle entfernt. Das ist auch der Grund warum sich niemand hier unten blicken lässt. In Darkan sind die Menschen sehr abergläubisch und es heißt, Dormus würde noch immer hier herumschleichen, um sich an den Lebenden für sein Schicksal zu rächen.“

      Elze blieb kurz stehen und drehte sich zu Morna herum:

      „Ihr seid doch nicht abergläubisch? Oder Liebes?“

      Morna kam das alles nur wie ein einziger Alptraum vor. Aber sie vertraute Elze voll und ganz. Davon abgesehen, hatte sie gar keine andere Wahl. Ohne die Hilfe ihrer treuen Dienerin säße sie noch immer in ihrer Zelle, ohne einen einzigen Funken Hoffnung zu besitzen:

      „Lass uns weitergehen Elze!“ Brachte sie lediglich hervor, woraufhin sich die alte Dienerin auch schon wieder umdrehte und vorneweg marschierte. Es dauerte noch eine ganze Weile bis sie die letzte Treppe erreichten, von der Elze sprach. Wieder handelte es sich um in Stein geschlagene Stufen und die beiden stiegen erneut noch tiefer ins Dunkel der Verließe hinab. Die Schatten, die von der tanzenden Flamme ihrer Fackel an die Wände geworfen wurde, schien Geister und Dämonen, Kobolde oder an was die Menschen sonst noch so glauben mochten, geradewegs dazu einzuladen, den beiden auf ihrem Weg aufzulauern. Am Ende der Treppe befand sich ebenfalls ein kreisförmiger Raum, allerdings hatte hier, den Spinnweben nach zu urteilen, seit Jahrhunderten niemand mehr die Fackeln entzündet, die noch immer in ihren morschen Wandhalterungen steckten. Zudem unterschied sich dieser Raum in einem wichtigen Detail vom vorherigen. Von hier aus führte nur ein einziger Gang weiter in die labyrinthartigen Tiefen des gewaltigen Kerker Komplexes. Am Ende dieses Ganges angekommen, befanden sie sich vor einer einzigen Zelle, dessen Zellentür geborsten und halb zerfallen aus den Angeln hing.

      „Wir sind da!“ stellte Elze nüchtern fest, die anstatt weiterhin zu flüstern, jetzt klar und deutlich sprach. Die beiden Frauen zwängten sich durch den Spalt zwischen der zerstörten Tür und dem Mauerwerk, um die Zelle zu betreten. Staunend blickte sich Morna im Schein der Fackel um. Diese Zelle hatte aber auch wirklich überhaupt nichts mit dem Loch gemein, in dem sie die letzten vier Wochen verbrachte. Elze schritt zur gegenüberliegenden Wand und entzündete dort zwei weitere Fackeln, die in kunstvollen Wandhalterungen steckten. Anschließend ging sie zu den anderen Wänden und entzündete auch dort mehrere Fackeln, so dass der gesamte Raum hell ausgeleuchtet war. Erneut musste Morna die Hand schützend vor die Augen halten, doch sie gewöhnte sich immer schneller an das Licht. Erstaunt stellte sie fest, dass die riesige Zelle mit dicken Teppichen ausgelegt war. Der gesamte Raum war mit kostbarem Mobiliar ausgestattet und an den Wänden hingen prächtige Gemälde. Der Zahn der Zeit hatte jedoch alles mit einer dicken Staubschicht und zahllosen Spinnweben belegt. Mittig der rechten Zellenwand befand sich ein prunkvolles Bett, ebenfalls völlig vom Staub überzogen. Auf ihm befanden sich die Jahrhunderte alten Überreste eines Menschen. Um den Hals des Skeletts befand sich ein Eisenring, von dem aus eine schwere Kette zur Wand führte und dort mit einem Ring abschloss, der fest in der Mauer verankert war.

      „Darf ich vorstellen?“ witzelte Elze um die unheimliche Atmosphäre etwas aufzulockern: „Dormus der Schreckliche, einst Herrscher des Darkanischen Reiches.“

      „Niemand hat es verdient, tief unter der Erde eingeschlossen, so zu enden.“ stammelte Morna, die voller Abscheu über diese Tat, mitleidig auf die Überreste des einstigen Herrschers blickte.

      „Oh doch mein Kind,“ brachte Elze mit fester Stimme hervor: „Oh doch, glaub mir, der hier schon. Der hätte noch viel schlimmeres verdient. Abgesehen davon, er hatte es doch gut hier. Schau dich doch nur um, und denk mal an deine Zelle zurück!“

      Morna wandte sich von dem Skelett ab: „Und wie geht es jetzt weiter?“

      Elze entledigte sich des Jutebeutels, den sie die ganze Zeit über ihrer Schulter trug. Sie hockte sich auf den Boden und kramte verschiedene Pergamentrollen hervor, die sie auf dem Boden ausbreitete. Morna kniete sich neben sie, um einen Blick auf die Aufzeichnungen zu werfen. Sie konnte mit all den Kurven, Linien und Symbolen jedoch nichts anfangen.

      „Hat das etwas mit menschlicher Magie zu tun?“ Platzte es plötzlich aus ihr heraus.

      „Menschliche Magie? Kind! Das sind uralte Pläne des Palastes, besser gesagt des geheimen Palastes.“

      „Des geheimen Palastes?“

      „Die gesamte Palastanlage,“ begann Elze ihr zu erklären: „Ist von Geheimgängen, Tunneln und Fluchtwegen nur so durchzogen. Bei genauer Kenntnis aller Ein und Ausgänge sowie der geheimen Wege, ist es möglich nahezu von jedem Ort des Palastes ungesehen zu einem anderen zu gelangen. Und glücklicherweise führt uns einer dieser Geheimgänge hier wieder heraus. In dieser Zelle muss es einen versteckten Ausgang geben.“ Daraufhin wandte sich Elze wieder den Plänen zu. Immer wieder verschob sie die Pergamente wie bei einem Puzzle, stöhnte entnervt auf oder schüttelte leicht ihren Kopf.


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