Claus Störtebecker. Georg Engel

Claus Störtebecker - Georg Engel


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wichen die schweren Erstickungsanfälle von dem Alten, und der Leidende vermochte sich aufzurichten, um gierig die kühle Seeluft einzusaugen. Als aber der Herbst seine dunklen Hagelschwärme gegen die Hütte warf und der Hustenkrampf die Lungen des Riesen zu zerpressen anfing, da versuchte der Strohblonde sein Meisterstück. Eines Mittags brachte er nämlich aus dem Wald zwei schwarze, schneckengleiche Würmer mit. Die hielt er zwischen zusammengeballten Fäusten und sie mußten so dem sich kräftig sträubenden Hausherrn ihre Saugrüssel auf die nackte Brust setzen. Langsam füllten sich die schreckhaften Leiber mit dem fieberheißen Blut, und vor den Augen der erstaunten Angehörigen dehnten sich die verkrampften Glieder des Vaters, und ein befreiter Seufzer der Entspannung tönte durch die Hütte. Fast eine Woche lang war der gefürchtete Anfall beschworen.

      So wechselten Weiß und Grün unter den Rändern des hohen Küstenwaldes, die Tage strichen dahin gleich einer Rebhühnerhusche, einer hinter dem anderen, und Heino Wichmann fing sich jeden einzelnen ein, um ihm vor den Augen der Häusler sein besonderes Kennzeichen aufzudrücken. Immer geschah etwas. Die Zeit bildete für die einsamen Strandsassen keine gestaltlose Masse mehr, sondern die Unruhe des neuen Ruderknechtes trennte sogar die einzelnen Stunden scharf voneinander ab.

      In jenen Monaten war es, daß in den jungen Nikolaus ein unbegreifliches Wachstum geriet. Der schlanke Leib des Burschen schoß sprunghaft in die Höhe, bald überragte sein braunes Lockenhaupt um eine Spanne das sich duckende des Vaters, seine Haltung erhielt etwas Gestrafftes, ja Königliches, sein Gang etwas Anmutiges und zugleich Herausforderndes, und seine Augen konnten plötzlich neben dem wilden Umherflackern einen schwärmerischen Glanz bergen, der über die Dinge dieser Welt hinauszuschweifen schien und etwas von dem unbewegten Flug eines träumenden Adlers an sich hatte. Und der arme, von unruhigen Geistern geplagte Sassensohn badete sich wirklich in den Breiten eines neuen Lichtes.

      Heino Wichmann!

      Heino Wichmann war für den wilden durstigen Jungen ein Zauberer, der die schmale Kinderhand nur emporzuwerfen brauchte, damit Sterne und Mond stillstanden und auf den Winden von allen Weltteilen her das Wissen Salomos herbeigeflogen kam. Wenn sich die beiden Unzertrennlichen in dem plumpen Kahn unter dem roten Segel wiegten oder wenn sie im Abendrot hoch oben auf den Hängen der Dünen lagen, dann schwand wie von selbst die lächerliche Maskierung des angeblichen Ruderknechtes, die bäuerliche Sprache tauchte unter, und aus dem braunen Lumpen trat ein anderer hervor. Derselbe, der einst die goldene Kette und den welschen Hieber getragen, derselbe, der mit seiner hauchenden Mädchenstimme spöttische Gelehrsamkeit von sich schleuderte und für den es weder Unergründetes noch scheue Ehrfurcht vor etwas Geschaffenem gab. In solchen Stunden der Mitteilung konnte man deutlich merken, wie auch für das kleine Kerlchen jenes unbändige Ausgeschöpftwerden ein nicht zu entbehrendes Lebensbedürfnis bildete, ja, daß er sich trotz seines wegwerfenden Lächelns voll Eitelkeit und Stolz in sich selber spiegelte, sobald sein Zögling sich über ihn beugte gleich über einen tiefen Brunnen, in den man ungestüm Eimer auf Eimer herabläßt. Da kam dann quellend und perlend Trank um Trank hervor, klar und schlammig, unverdaulich und heilsam, als ob in diesen Brunnen alle Quellen der Erde mündeten. Von dem nächsten fing es an. Claus erfuhr, in welchem Volk er lebte, wie sich die Stände und Ämter teilten, wo Unrecht und Bedrückung anhob und worin sich sein Stamm von den anderen großen Menschengemeinschaften unterschied. Von da gelangten sie ganz von selbst auf Ausdruck und Redeweise der Länder, die Musik der welschen Sprachen, die Heino Wichmann vollkommen beherrschte, klang vor dem entzückten Knaben auf und er lernte auch latina lingua verehren, die Urmutter dieser Laute, und in verhaltener Begeisterung schaute er in das Sein und Treiben jener untergegangenen Geschlechter hinab, die mit diesen Lauten der alten Welt ihre Gesetze vorgeschrieben. Helden und Weise zogen vorüber, Religionsstifter und Abtrünnige, und ohne daß der Wissensdurstige es ahnte, wurden von dem ätzend scharfen Erzähler Menschen und Dinge alle zu dem einen Ziele gelenkt, wie sie nämlich der Befreiung und Entbürdung der nach Licht und Brot ringenden Armen und Elenden gedient hätten. Denn dieses kleine strohblonde Zwerglein sah, ohne jemals erregt zu werden, und obwohl es selbst sich keinen erlangbaren Genuß entgehen ließ, überall seufzende Scharen der Sklaverei um sich her, viele Millionen gefesselter und gestriemter Unfreier, von denen er verkündete, daß sie nie sterben würden. Und wahrhaft schneidend und fürchterlich klang sein feines Gelächter, so oft er im Gegensatz zu allem Herkommen die gepriesenen Bringer des Heils und der Ordnung, den Kaiser, der doch den Landfrieden befohlen, den Papst, der doch den Verängstigten die Vergebung der Sünden reichte, ja, sogar den Heiland, der die lichte Halle des Himmels geöffnet, für die schlimmsten Vergewaltiger und Bedrücker der in Dummheit blökenden Erde erklärte. Entrückt, von aller Gegenwart fortgeschwungen, krallte sich dann Claus in den mütterlichen Sandboden, sein Atem schoß, als ob er Mauern niederbrechen müßte, in seinen starren Augen züngelte der niedergehaltene Glast von Blut, Einäscherung und Gewalttat, und doch bebten alle seine Glieder im Frost der Angst, und das kalte Fieber des Zweifels und der Unentschlossenheit stieß den Unreifen doch immer zurück in die Schranken des Brauches und des Herkommens. In solchen Augenblicken der Qual und des glühenden Wunsches packte er seinen Verführer oft an der Brust und schüttelte den Kleinen, als ob er ihm das Herz aus dem Leibe schleudern wollte, dazu schreiend:

      »Was bleibt uns? Heino, um aller Heiligen willen, sag an, was muß uns allen werden? Was?« Denn der suchende Verstand des Jungen wollte einen Weg finden zwischen Gestern und Morgen, eine Brücke, die über das Gewitter fortleitete. Heino Wichmann aber ließ sich, unberührt von diesem Ausbruch, in das weiche Dünenlager zurückgleiten, lächelte mit seinen bartlosen Lippen gegen das in den Himmel flüchtende Abendrot und lispelte kaltblütig und grausam:

      »Wer kennt die Medizin für alle? Aber für mich und dich, Büblein, ist am besten ein seidener Pfühl, eine glatte Dirne darauf, und saufen und prassen bis in den achten Tag.«

      Da heftete Nikolaus einen verlöschenden Blick auf den sich genießerisch dehnenden Kleinen, warf das Haupt gegen die dunkle See und saugte in Verzweiflung an den ewig tränkenden Strömen.

      Ekel, unerkanntes Mitleid mit einer zu erlösenden Welt, und das rasende Verlangen, sich zu verschwenden, stritten in der sich weitenden Seele.

      Es kam eine Stunde, da der Hochmut des Knaben es nicht mehr länger duldete, von dem Genossen noch fernerhin in Unkenntnis und Täuschung gehalten zu werden. Ganz früh an einem tauperlenden Herbstmorgen war es. Die Sonne rollte eben aus ihren verhängten Schleiern durch das dunkelblaue zackige Gewölbe. Weit über dem Schlaf der See übten die schwarzen Streifen der Stare schon für den kommenden Abzug. Und hoch oben an dem hallenden Rand des Küstenwaldes klang die Axt. Dort hieb der junge Claus ein paar schlanke Eichenstämme nieder, denn sie sollten ihm zu neuen Ruderstangen dienen. Aber mitten in der Arbeit schleuderte Claus die Axt auf den Waldboden, schnellte empor, und während er sich die Fäuste in die Weichen setzte, forderte er dröhnend, ohne Übergang noch Einleitung:

      »Genug Verstellung. Du bist kein Ruderknecht, Heino. Du bist keiner. Woher käme dir sonst all die Gelahrtheit? Nun schnell und ohne Windbeutelei, wie steht's um dich?«

      Leicht hätte ein anderer ob des ungewohnten Tons außer Fassung geraten können. Der kleine Strohblonde jedoch, der gerade faulenzend vor einer gewaltigen Buche stand, um dort voll Spannung der Zimmerarbeit eines Spechtes zu folgen, er hüpfte selbst wie ein wippender Fink herum, tänzelte ohne jede Verlegenheit auf seinen Zögling zu, um ihm dort von unten herauf einen leisen Backenstreich zu versetzen.

      »Kluges Näschen,« wisperte er voller Befriedigung, »gut, gut, Büblein, ist auch Zeit, daß du endlich aus den Eierschalen schlüpfst. Aber nun zieh die Kappe, mein Freund, denn du stehst vor etwas Fürtrefflichem. Weißt du, was ein Bacchant ist?«

      Vor dem Glanz jenes Titels wich der Fischerjunge zurück, und doch fiel ihm ein, wie oft jene Lehrbuben und Handlanger der Wissenschaft hungernd und bettelnd durch die Dörfer und kleinen Städte der Insel strichen, ja, daß sie um Geld und Brot vor den Türen der Unfreien sangen. Das Wissen war damals noch dem Elend verschwistert, und mancher Knecht tauschte nicht mit dem dürren Gerippe, das auf einer Lehrkanzel stand. Dennoch sagte er voll Ehrfurcht: »Bist du solch einer?«

      »Noch mehr, Liebster, noch viel mehr. Ich wollte erst die Raupe an dir vorüberkriechen lassen, damit dich der Sonnenflug des Schmetterlings nicht blende. Aber jetzt entzücke dich, mein Freund, ziehe deine Schuhe aus, wenn du es


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