Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel

Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch - Walther Kabel


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– Da – wieder ein schnell verstummendes Wimmern.

      Ich hatte mich halb zurückgebogen. Der hellgraue Giebel des Hauses zur linken Hand ragte über den hohen Bretterzaun hinweg. Und in dem Giebel standen die beiden unteren Flügel des einen Fensters offen. Und – von dorther war das Wimmern gekommen – aus dem Fenster.

      Ein knorriger Birnbaum ragte hinter dem Zaun empor. Seine entlaubten Zweige, vom Winde bewegt, strichen mit seltsamen Tönen über die Scheiben des anderen Fensters und die Zinkrinne des Daches hin.

      Nun dort oben im offenen Fenster eine Gestalt – Harsts weiche Reisemütze über einem verschwommenen Gesichtsfleck – und ein Arm, der eifrig winkte.

      Die Gestalt verschwand.

      Also das Fenster – also dort oben! – Der Weg war vorgezeichnet: der Zaun, der Birnbaum. Man mußte von einem der Äste sich in das Fenster hinüberschwingen können.

      Ich kletterte empor. Unsereiner hat schon andere Wege gewählt, um irgendwo einzusteigen.

      Ich bekam das Fensterkreuz zu packen: ich saß auf dem Fenster, die Beine nach innen. Und – plötzlich eine jäh aufsteigende Regung des Mißtrauens.

      „Harald!“ flüsterte ich in die Finsternis hinein.

      Meine Augen lernten das Dunkel zerlegen.

      Da war mir gegenüber eine offene Tür, weiter hinten eine zweite.

      Und dort flammte jetzt für Sekunden ein Lichtschein auf.

      „Harald!“ flüsterte ich nochmals, obwohl ich bereits den ersten Schritt auf die Tür zu getan hatte.

      Kleine Antwort. Ich eilte rascher auf die Tür zu, faßte in die Tasche. Hatte die kleine elektrische Lampe in der Hand, suchte mit dem Daumen den Knopf.

      Und fühlte von rückwärts zwei Hände um meinen Hals, erhielt einen Stoß, flog halb zur Seite auf eine federnde Bettmatratze. Lag unter dem heimtückischen Angreifer, merkte, wie mir eine eisige Flüssigkeit über das Gesicht lief: Äther – Äther mit Chloroform vermischt, – und wußte, daß es hier kein Entrinnen gab, daß es am klügsten war, recht schnell eine Betäubung vorzutäuschen.

      Doch der Mann über mir war vorsichtig, lockerte die Hände, ließ mich dreimal keuchend atmen.

      Ein Schwindel riß mich in einen bodenlosen Abgrund hinab. –

      Ich konnte nicht lange bewußtlos gewesen sein. Ich wurde mir langsam klar über meine Lage. Ich befand mich noch auf derselben Matratze scheinbar, und Hände und Füße waren mir an die Knöpfe der Bettpfosten straff festgebunden, so daß ich nur mit dem Rücken die Matratze berührte.

      Im Munde steckte mir ein Knebel, dessen Schnur bis ins Genick lief und tief in die Wangen einschnitt.

      Um mich her dieselbe Finsternis. Und um mich her allerlei Geräusche, die jedoch von draußen kamen: das Scharren der Birnbaumzweige an den Scheiben und an der Zinkrinne, das Brandungsgeräusch – ganz schwach nur.

      Und jetzt – jetzt noch etwas.

      Ja – ein Knarren – so, wie ein Holzbett knarrt.

      Das Knarren ertönte hier in demselben Raume. Es verstummte, erklang von neuem; es war eine gewisse Gleichmäßigkeit in diesem Knarren; es waren längere und kürzere Töne.

      Da – lang, kurz, kurz – lang, kurz, kurz – lang, lang.

      Ein Gedanke – für mich gar nicht so fern liegend: das war Harst, der ebenfalls auf einem Bett festgebunden war und der es absichtlich zum Knarren brachte.

      Ich mußte Antwort geben, zerrte an den linken Fußfesseln, an den rechten, zog das Bein schärfer an.

      Da – auch mein Bett knarrte unter dem auf den Knopf des Bettpfostens ausgeübten Druck.

      Ich versuchte es abermals; ich lernte es, das Knarren zu meistern: – lang, kurz, kurz – lang, kurz, kurz – lang, lang.

      Denn das war ja das Anfangszeichen unserer besonderen Telegraphie! –

      Ich gab nun genau auf Haralds Zeichen acht und stellte dann folgendes zusammen:

      „Geniale Falle. Abwarten, bis hell.“

      Meine Antwort lautete: „Verstanden. Befinden gut. Nur unbequeme Lage.“

      Harst meldete sich nicht mehr. – Ich hatte nicht übertrieben: die Lage auf dem Bett war sogar mehr als unbequem! Um dem Kopfe eine Stütze zu geben, mußte ich ihn ganz weit nach hinten hängen lassen. – Und dann der Knebel im Munde! Das war vielleicht das Peinvollste! Alle Versuche, ihn mit der Zunge herauszustoßen, waren umsonst.

      Mit der Zeit starben mir die Arme und Beine ab. Und es wollte und wollte nicht hell werden!

      Um mich abzulenken, überlegte ich mir das Vorgefallene nochmals mit allen Einzelheiten. Ich war jetzt überzeugt, daß es nur ein einzelner Mann gewesen, der uns so nacheinander überwältigt hatte. Das Wimmern des Kindes hatte er nachgeahmt; er hatte auch geflucht; alles war darauf berechnet gewesen, daß wir auf dem Heimwege von der Post denselben Weg zum Hotel wählen und die Treppe wieder benutzen würden.

      Aber – wer war dieser Mann?! Kapitän Boomlund konnte es nicht sein. Der weilte jetzt wieder in Kopenhagen. – Jedenfalls war es jemand, der mit dem Verschwinden Thora Olavsens etwas zu tun hatte, eben derselbe Mensch, der mit Hilfe des richtigen Gepäckscheins deren Koffer an sich gebracht und der auch irgendwie erfahren hatte, daß Harst hier Depeschen abholen würde.

      Haralds Behauptung, daß ein Verehrer Thoras hier eine Rolle spiele, schien ja allerdings durch die Antwortdepesche der Frau Lotte Ruperti widerlegt. Er hatte sich hierzu jetzt noch nicht äußern können. Ich war gespannt, wie er nun über den Fall dachte. –

      Endlich begann dann der Morgen zu grauen – endlich! Allmählich wich die Dunkelheit in dem großen Zimmer. Ich sah, daß die Fenster geschlossen und die gelben Sonnenvorhänge zugezogen waren, sah weiter, daß Haralds Bett dem meinen gegenüber an der anderen Querwand stand.

      Wir konnten uns jetzt anblicken. Harst bewegte wie grüßend den Kopf.

      Ich – ich war bereits zu schwach dazu. Meine Arm- und Fußgelenke schmerzten derart, daß ich dauernd gegen Ohnmachtsanfälle ankämpfte.

      Und – was half es uns, daß es nun Tag wurde?! Unsere Fesseln waren so geschickt angelegt, daß wir uns unmöglich selbst befreien konnten. Ja – wenn wir noch hätten rufen können! Aber auch das war ja ausgeschlossen.

      Und wieder schlichen die Minuten hin. Mit umflortem Blick sah ich die Sonne unsere Kerkerfenster bescheinen. Es mußte also mindestens neun Uhr vormittags sein.

      Eine träge Frage wurde immer wieder in meinem Hirn lebendig: Was sollte werden, wenn es uns nicht gelang, uns zu befreien?! Noch ein paar Stunden und wir waren so erschöpft, daß wir uns nicht mehr bewegen konnten!

      Was sollte werden?! – Da – ein Gedanke, eine geringe Hoffnung: unsere Stiefel standen ja auf der Treppe! Doktor Olavsen würde unser Verschwinden der Polizei melden, und der eifrige und tüchtige Wachtmeister Bließke würde nichts unversucht lassen, uns zu finden.

      Aber – auch dieser winzige Hoffnungsschimmer erlosch ebenso schnell wieder.

      Wie sollte Bließke auch nur auf die Vermutung kommen, daß wir –

      Da – mein Gedankenfaden riß jäh entzwei. – Harst begann wieder zu telegraphieren:

      „Mut – eine Rettungsfahne draußen am Fenster!“

      Das war’s, was ich mir Buchstabe für Buchstabe zusammenstellte.

      Rettungsfahne?! Was sollte das?! Und – draußen am Fenster?! Wie kam eine Fahne dorthin?! Was wußte Harald davon? Hatte etwa er –

      Und – nun die Erleuchtung; nun hob ich den Kopf, blickte zu Harald hinüber.

      Seine Krawatte, sein lila und


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