BLACK STILETTO. Raymond Benson

BLACK STILETTO - Raymond  Benson


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Frühstück, während andere bereits ihr Mittagessen vor sich hatten. Zwei Kellnerinnen rannten herum wie kopflose Hühner. Sie bedienten die Gäste, während sie pausenlos Bestellungen an den Koch in die Küche riefen. »Wo bleiben meine Spiegeleier!« – »Cheeseburger ohne Mayo.« – »Darf's noch etwas sein, Mister?« – »Nein, tut mir leid, meine Beine stehen nicht auf der Speisekarte.« Solche Dinge. Es gab dort sogar eine dieser neuen Jukeboxen, was für ein Diner und New York ziemlich ungewöhnlich war, wie ich später herausfand. Ich hatte vorher noch keine gesehen oder gehört und erinnere mich noch an den Song, der lief, als ich hineinkam – es war »Cry« von Johnnie Ray and the Four Lads.

      Eine der Kellnerinnen, eine hübsche Frau mit blonden Haaren und einer umwerfenden Figur, sah mich an der Tür stehen. Sie war vielleicht einundzwanzig oder so.

      »Willst du nicht reinkommen, Schätzchen?«, fragte sie.

      »Ich wollte mich um den Job bewerben.« Ich deutete auf das Schild im Fenster.

      »Oh, Süße, wir sind gerade ziemlich beschäftigt. Kannst du nach dem Andrang noch mal vorbeikommen? Sagen wir gegen Zwei?«

      »Klar.«

      »Ich bin Lucy. Wie heißt du, Schätzchen?«

      »Judy.«

      »Okay, Judy, dann bis nachher.«

      Ich war aufgeregt. Vielleicht wurde ich eingestellt, und konnte mir etwas Geld verdienen. Ich mochte Lucy sofort. Sie hatte einen breiten New Yorker Akzent, der sich für mich lustig anhörte. Auf eine gute Art lustig. Lucy schien nicht bemerkt zu haben, dass ich eigentlich noch zu jung war, um zu arbeiten. Ich sah älter aus. Ich denke, liebes Tagebuch, dass das ein guter Zeitpunkt ist, dir zu beschreiben, wie ich aussehe. Ich war – und bin es immer noch – unverschämt groß, gerade für eine Vierzehnjährige. Ich kann nicht genau sagen, wie groß ich damals war, aber heute, mit Zwanzig, bin ich einen Meter Achtzig. Von daher, ja, ich sah älter aus. Ich habe dunkle Haare, beinahe schwarz, die mir etwa bis auf die Schultern reichen. Meine Augen sind braun, mit grünen Sprenkeln. Ich bin ein blasser Typ und kriege schnell einen Sonnenbrand. Meine Beine sind lang, und natürlich bin ich gut in Form, da ich viel Sport getrieben habe. Durch das Turnen bin ich ziemlich durchtrainiert. Meine Brüste wuchsen damals schnell und waren bereits in einer Größe, dass die Männer sie anstarrten. Heute sind sie hübsch groß und füllen ein 36C-Körbchen. Viele Männer sagen mir, ich sei attraktiv. Manche sagen, ich sei wunderschön. Das ist gut, glaube ich. Um ehrlich zu sein, ist es mir etwas unangenehm. Der Zwischenfall mit Douglas nahm mir für einige Zeit die Lust am männlichen Geschlecht. Aber das sollte sich ändern.

      Ich schlug die Zeit tot, indem ich in der Nachbarschaft herumbummelte. Zwei Häuser weiter, auf der Second Avenue, war ein Boxklub. Nannte sich das Second Avenue Gym. Neugierig wie ich war, öffnete ich die Tür und spähte hinein. Ein Boxring stand in der Mitte der Halle, und drumherum befanden sich alle Arten von Trainingsgeräten – Sandsäcke, Krafttrainer, Rudermaschinen und solche Dinge. Ein paar Männer trieben sich in dem Studio herum, zwei von ihnen waren beim Sparring im Ring, die anderen trainierten. Weiße, Schwarze, Latinos. Ich hatte noch nie zuvor Farbige und Weiße in einem Raum zusammen trainieren sehen. Das war überraschend. Ein paar Minuten stand ich da, sah zu und war fasziniert davon, wie sie mit ihren verschwitzten, muskulösen Körpern gegeneinander kämpften.

      Wie auch immer, um vierzehn Uhr kehrte ich ins Diner zurück. Dort ging es bedeutend ruhiger zu. Nur noch wenige Gäste saßen in den Nischen. Lucy stand an der Theke, studierte einen Stapel Bestellungen und schien nach etwas zu suchen. Sie sah auf und lächelte.

      »Hi, Judy. Da bist du ja wieder. Das Gedrängel zur Mittagszeit hat dich nicht verschreckt?«

      »Nope.«

      Sie klopfte mit der Hand auf einen der Drehhocker an der Theke. »Setz' dich.«

      »Bist du der Boss?«, fragte ich.

      »Nein, nein. Ich bin die Chefkellnerin. Der Boss kommt gegen Abend, sein Name ist Manny. Er ist ein netter Kerl, aber er ist streng und duldet keine Faulheit oder Fehler. Das sollte aber kein Problem sein, oder Judy?«

      »Nein!«

      »Gut.«

      Die nächste halbe Stunde unterhielten wir uns über das Diner, woher ich kam, und dass ich von Zuhause weggelaufen war. Ich war absolut ehrlich. Dann runzelte sie die Stirn und flüsterte: »Wie alt bist du, Schätzchen?«

      Ich senkte den Blick und sagte ihr die Wahrheit. Lucy atmete tief durch und schürzte die Lippen. »Ich denke, wir behaupten einfach, dass du sechzehn bist, okay?«

      »Danke.«

      Sie händigte mir einen Bewerbungsbogen und einen Bleistift aus und riet mir beim Ausfüllen, zwei Jahre von meinem Geburtsjahr abzuziehen. Lucy ließ mich allein, damit ich die persönlichen Angaben ausfüllen konnte. Als Wohnsitz gab ich das YWCA an.

      Nun, ich bekam den Job. Ich wurde Kellnerin im East Side Diner und arbeitete mich ein. Ich entwickelte ein Gefühl dafür, wann es in Ordnung war, mit den Gästen zu flirten, um ein besseres Trinkgeld zu bekommen, und wann ich schnippisch werden durfte, wenn sie sich daneben benahmen. Irgendwann konnte ich die Speisekarte im Schlaf aufsagen. Es dauerte nicht lange, da war ich so gut wie die anderen Damen, die hier arbeiteten. Und Lucy – sie hieß Lucy Dempsey mit vollem Namen – wurde meine beste Freundin. Sie nahm mich unter ihre Fittiche, sozusagen. Sie wohnte allein in einem Appartement auf dem St. Marks Place und hatte einen Freund namens Sam, der hin und wieder im Diner vorbeikam. Ich konnte Sam nicht leiden. In seiner Gegenwart fühlte mich ähnlich unwohl wie bei Douglas. Sam war eingebildet und nahm sich ungeheuer wichtig. Er kommandierte Lucy herum und tat so, als wäre sie sein Eigentum. Ich wusste, dass sie sich für sein Auftreten schämte, aber es war offensichtlich, dass sie ihn wirklich mochte, auch wenn ich nicht verstand, warum. Eines Tages im Sommer weihte sie mich ein. Ich lebte da seit einem halben Jahr in New York und hauste immer noch im YWCA, aber die Stadt fühlte sich bereits mehr nach meinem Zuhause an, als es Odessa jemals getan hatte. Wie auch immer, Lucy und ich hatten an jenem Sonntag frei und wir spazierten im Village herum. Sie erzählte mir, dass Sam manchmal recht boshaft werden konnte und sie schlug. Ich erklärte ihr, dass sie das nicht einfach hinnehmen dürfe. Lucy zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Er ist mein Mann. Ich liebe ihn.«

      »Er hat kein Recht, dich zu schlagen«, sagte ich. »Das darfst du nicht zulassen. Wenn er es wieder tut, dann gib mir Bescheid, und ich trete ihm in den Hintern.«

      Sie lachte. »Du? Judy, wie willst du ihm denn in den Hintern treten?«

      »Ich bin zäher, als ich aussehe.« Und das brachte mich auf eine Idee. »He, weißt du, wo ich Boxen lernen könnte?«

      »Was?«

      »Du weißt schon, Boxen.« Ich hob meine beiden Fäuste und täuschte ein paar Schläge an.

      »Wieso solltest du so etwas lernen wollen?«

      »Als Selbstverteidigung. Würdest du nicht auch wissen wollen, wie du dich verteidigen kannst, wenn Sam dich das nächste Mal verprügelt?«

      »Du meinst, gegen ihn kämpfen?«

      »Klar doch.«

      »Um Himmels willen, nein. Er würde die Scheiße aus mir rausprügeln.«

      »Aber das ist doch der Punkt! Du könntest dann womöglich aus ihm die Scheiße rausprügeln!« Ich war nicht so geübt darin, Sachen wie »Scheiße« zu sagen – aber Lucy benutzte solche Worte die ganze Zeit über.

      »Judy, du bist verrückt. Frauen boxen nicht.«

      »Wieso nicht?«

      »Keine Ahnung. Sie tun's einfach nicht.«

      »Weißt du irgendwas über den Boxklub, ein paar Straßen südlich vom Diner?«

      »Das Second Avenue Gym?«

      »Genau das.«

      »Nicht wirklich. Ich kenne den Typen, dem es gehört. Er kommt manchmal im Diner vorbei. Hast ihn auch schon gesehen. Er heißt Freddie. Freddie Barnes. Mann


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