BLACK STILETTO. Raymond Benson

BLACK STILETTO - Raymond  Benson


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Brief enthalten und etwas Schwereres aus Metall. Vielleicht der Schlüssel für die Schatulle?

      Ich öffnete den Umschlag, und tatsächlich viel ein kleiner Schlüssel in meinen Schoß. Ich legte ihn erst einmal beiseite, zog den Brief heraus und las ihn.

      Der Brief war auf der alten elektrischen Schreibmaschine geschrieben worden, die wir früher besaßen. Meine Mutter hatte handschriftlich das Datum hinzugefügt und am unteren Ende mit »Judith May Talbot« unterschrieben.

      Ich musste ihn drei Mal lesen, um zu verstehen, was da geschrieben stand.

      Onkel Thomas musterte mich gespannt. »Du brauchst mir nicht zu sagen, was darin steht, wenn du es nicht willst«, erklärte er. Dennoch sah ich ihm an, dass er vor Neugier platzte.

      Für eine Weile saß ich in dem Sessel und war wie vor den Kopf geschlagen. Mir war nach Lachen zumute, und ich glaube, ich habe tatsächlich gelacht. Ich fragte Onkel Thomas, ob das ein Scherz sein sollte. Er antwortete, dass es kein Scherz sei und fragte, wie ich darauf käme.

      »Schon gut«, antwortete ich.

      Dann las ich den Brief noch einmal. Schüttelte den Kopf.

      Es war ein Geständnis. Darin gab meine Mutter zu, dass ihr Name in Wirklichkeit Judith May Cooper lautete, und dass sie die Black Stiletto gewesen war. Sie hatte dieses Geheimnis seit den Sechzigern für sich behalten, als sie ihr Kostüm an den Nagel hängte, ihren Namen änderte und versuchte, ein normales Leben zu führen. Meine Zweifel ahnte sie voraus und wies darauf hin, dass mich der Inhalt der Schatulle überzeugen würde. Außerdem sicherte sie mir die Rechte an ihrer Lebensgeschichte zu. Kurzum, sie überließ es mir, ob ich mit ihrem Geheimnis an die Öffentlichkeit gehen wollte oder nicht.

      Ich faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag. Dann nickte ich in Richtung der Schatulle. »Dann schau ich da mal rein.« Onkel Thomas reichte sie mir, und ich benutzte den kleinen Schlüssel, um sie aufzuschließen. Ich war nicht sicher, ob es mir recht war, wenn er sah, was sich darin befand, und er schien das zu bemerken.

      »Vielleicht sollte ich dich kurz damit allein lassen?«

      »Wenn es dir nichts ausmacht, Onkel Thomas?«

      »Überhaupt nicht. Ruf mich einfach, wenn du mich brauchst.«

      Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ich öffnete den Deckel und fand ein zusammengefaltetes Stück Papier, drei Schlüssel an einem Schlüsselring und ein paar andere Kleinigkeiten darin. Ich nahm den Zettel heraus, faltete ihn auseinander und blickte auf eine Art Grundriss. Für eine Weile studierte ich den Plan, bis mir dämmerte, dass es der Grundriss unseres Kellers war. In dem Haus, wo ich aufwuchs. Wo seit zwei Jahren niemand mehr lebte. Es stand zum Verkauf, aber niemand interessierte sich auch nur ansatzweise dafür. Die Maklerin, Mrs. Reynolds, fand dafür immer wieder die gleichen Ausflüchte – die Marktlage sei schlecht, die Wirtschaft sei schuld, an dem Haus müsste etwas gemacht werden und so weiter.

      Wofür also waren die Schlüssel? Zwei von ihnen waren grau und und schienen dafür gedacht, Türen zu öffnen. Der Dritte war klein und goldfarben.

      Ich sah mir den Grundriss noch einmal an, und dann fiel mir ein Raum auf, den es eigentlich nicht hätte geben dürfen.

      Moment mal!

      Eine Wand trennte diesen Raum vom restlichen Keller ab – eine Wand, von der ich bisher nicht wusste, dass man hindurchgehen konnte. Der Plan deutete an, dass sich eine Tür in der Wand befinden musste. Ich hatte dort nie eine Tür gesehen. Einer oder beide der Schlüssel waren für sie bestimmt. Und wenn das stimmte, wofür war dann der goldene Schlüssel gedacht?

      Noch rätselhafter waren die anderen Gegenstände, die ich nacheinander inspizierte.

      Ein herzförmiges Medaillon an einer Kette, anscheinend versilbert.

      Ein Anstecker für die Kennedy/Johnson-Präsidentschaftswahlen von 1960.

      Und eine kleine Blechbüchse mit einer 8mm-Filmrolle darin.

      Ich packte alles wieder schnell zurück in die Schatulle, stand auf und trug sie ins angrenzende Büro. Onkel Thomas stand an der Kaffeemaschine und Janie saß noch immer an ihrem Schreibtisch.

      »Fertig?«, fragte er.

      »Ja. Äh, danke.«

      »Kann ich noch etwas für dich tun?«

      »Das weiß ich noch nicht.«

      »Du siehst etwas blass aus. Stimmt etwas nicht? Was war in der Kiste, Martin? Als Anwalt deiner Mutter kann ich dir versichern, dass ich …«

      »Ich weiß. Und ich weiß das zu schätzen. Vielleicht komme ich darauf zurück. Ich muss das erst mal verarbeiten. Ich ruf dich später an, okay?«

      »Gerne doch, Martin. Hättest du gern ein Glas Wasser?«

      Das Angebot nahm ich an.

      Das einstöckige Vierzimmer-Farmhaus an der Chestnut Street stammte noch aus der Zeit vor dem Krieg und hatte schon mal besser ausgesehen. In den Siebzigern war es sicher mal recht hübsch gewesen. Damals, als meine Mutter und ich dort einzogen. Da war ich acht Jahre alt gewesen. Davor waren wir überall zuhause gewesen. Ich wurde in Los Angeles geboren, aber die ersten Jahre meines Lebens waren wir ständig auf Achse. Ich erinnere mich an nicht mehr viel aus dieser Zeit, aber ich habe verschwommene Erinnerungen daran, dass wir viel im Auto unterwegs gewesen waren, in vielen Hotels übernachteten, hier und da in Appartements wohnten und schließlich nach Illinois kamen. Ich weiß noch, dass wir in einer kleinen Wohnung in Arlington Heights wohnten, bevor wir das Haus bezogen, und ich erinnere mich noch an den Tag, als meine Mutter mir das Haus zeigte. Sie holte mich von der Schule ab – die zweite Klasse – und sagte, dass sie eine Überraschung für mich hätte. Wir rumpelten in ihrem 64er Bonneville die Straße hinunter, und da war es. Ein richtiges Haus.

      Unglücklicherweise war Mutter nicht gerade die beste Hausfrau der Welt. Sie verbrachte nur wenig Zeit mit Putzen oder damit, das Haus in Schuss zu halten. Ich hatte nicht bemerkt, wie schnell sich sein Zustand verschlechtert hatte, bis ich mit der High-School fertig war, aufs College ging und Anfang der Achtziger zu Besuch nach Hause kam. Zu dieser Zeit hatte Mutter begonnen, mehr als gewöhnlich zu trinken. Aber sie schien trotzdem okay zu sein. Sie war keine Säuferin, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Und ich konnte auch wenig dagegen tun. Aber sie trieb Sport, ging Joggen und sah fit aus. Mutter besaß einen Sandsack, der im Keller an der Decke hing, und ich schwöre, dass sie jeden Tag hinunter ging und ihn für eine halbe Stunde bearbeitete. Sie mochte vielleicht eine Alkoholikerin sein, aber das hielt sie nicht davon ab, im Training zu bleiben.

      Während ich mir so vorstellte, wie sie auf den Sandsack einschlug, immer und immer wieder, Tag für Tag, erschien mir diese Black-Stiletto-Sache nicht mehr ganz so abwegig.

      Nun, jedenfalls fuhr ich von Onkel Thomas' Büro aus direkt zu dem Haus. Ein Zu-Verkaufen-Schild stand immer noch im Vorgarten, doch offenbar hatte Mrs. Reynolds es ausgetauscht. Das alte Schild war alt und verrostet gewesen, weil es schon ein paar Jahre draußen stand.

      Ja, das Haus war hässlich. Es hätte in den Neunzigern bereits einen neuen Anstrich gebrauchen können, und wir schrieben jetzt 2010. Die Maklergesellschaft kümmerte sich darum, den Rasen zu mähen, aber überall sprießte das Unkraut. Die Jalousien an den Fenstern waren eingeschlagen. Das Dach hatte Löcher. Kein Wunder, dass es sich nicht verkaufte. Ich musste wirklich meinen Arsch hochkriegen und jemanden für ein paar Reparaturen anstellen.

      Ich benutzte den Schlüssel meiner Mutter an der Vordertür. Drinnen roch es modrig, so wie es alte Häuser eben tun. Es war leer, denn wir hatten die meisten Möbel und Mutters Sachen vor langer Zeit weggebracht. Jetzt war nichts mehr da, außer einem fleckigen Teppich und ein oder zwei Stühlen.

      Mrs. Reynold hatte ein paar Werkzeuge in der Küche deponiert, weshalb ich mir eine Taschenlampe schnappen konnte, bevor ich in den Keller ging. Der Keller war dunkel, kalt und feucht. Ich knipste die einzelne Glühbirne an der Decke an und bemerkte so etwas wie Tierköttel auf dem Betonboden. Eichhörnchen wahrscheinlich, hoffentlich keine Ratten. Ein paar


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