BLACK STILETTO. Raymond Benson

BLACK STILETTO - Raymond  Benson


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zum Beginn ihrer Krankheit unauffällig und zurückgezogen in den Außenbezirken von Chicago.

      Ich konnte nicht länger warten. Ich öffnete das erste Tagebuch und fing an zu lesen.

      2| Judys Tagebuch

      4. Juli 1958

      Liebes Tagebuch, ich denke, ich sollte vielleicht damit anfangen, alles niederzuschreiben. Als kleines Kind führte ich mal ein Tagebuch. Ich schrieb, glaube ich, für etwa drei Jahre hinein. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Ich schätze, es ist immer noch in Odessa und liegt in einer Schublade in meinem alten Zimmer. Sofern mein altes Zimmer noch existiert.

      Ich werde von allem berichten, was mir in der letzten Zeit widerfahren ist, nur für den Fall, dass mir etwas passiert. Ich bin nicht sicher, ob ich will, dass die Wahrheit herauskommt, aber hier ist sie. In den letzten sechs Monaten ist so viel passiert. Auf gewisse Art bin ich berühmter als der Bürgermeister von New York City. Also, nicht ich, Judy Cooper. Aber die Black Stiletto. Niemand weiß, dass Judy Cooper Black Stiletto ist, und ich hoffe, dabei bleibt es auch.

      Interessant, ich kann Elvis seinen neuen Song »Hard Headed Woman« irgendwo in einem Radio in der Ferne singen hören. Der Song könnte von mir handeln, haha. Wem auch immer das Radio gehört, er muss es furchtbar laut aufgedreht haben, denn ich sitze in diesem Moment auf dem Dach des Second Avenue Boxklubs und schaue mir das Feuerwerk über dem East River an. Oder es liegt daran, dass mein Gehör besser ist als das der meisten Menschen. Das ist manchmal schwer zu sagen.

      Der Boxklub ist ein Zuhause, und das jetzt schon seit einer geraumen Weile. Er gehört Freddie Barnes. Freddie ist der Trainer und selbst ehemaliger Boxer. Er wohnt über dem Klub, so wie ich. Er überlässt mir jetzt seit ein paar Jahren ein Zimmer über dem Klub, und ich bezahle ihn, indem ich aushelfe, wo ich kann. Angefangen habe ich als Hausmeisterin und putzte die widerlichen Toiletten in der Herrenumkleide. Dann beförderte er mich zur Kassiererin und zur stellvertretenden Chefin. Jetzt helfe ich auch beim Training, denn ich bin ziemlich gut im Ring. Nicht viele Frauen sind das. Nicht viele Frauen machen so einen Sport. Mir macht es Spaß. Ich mag es. Eines Tages will ich ein eigenes Selbstverteidigungsprogramm für Mädchen auf die Beine stellen. Ich will nicht, dass irgendjemand als Opfer aufwächst. Niemand sollte erleben müssen, was mir als Dreizehnjährige widerfuhr.

      Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt. Am 4. November werde ich einundzwanzig. Ich lebe in New York City, seitdem ich vierzehn bin. Ich denke, man kann sagen, dass mein Leben erst hier so richtig begann, denn davor war es die Hölle – der ich zum Glück entfliehen konnte.

      Ich vermute, ich sollte dieses Tagebuch damit beginnen, die Vergangenheit aufzurollen. Ich werde die nächsten Tage damit zubringen, meine Geschichte aufzuschreiben, und dann, wenn ich den 4. Juli 1958 erreicht habe, kann ich täglich oder wöchentlich regelmäßige Einträge verfassen – oder wann immer mir danach ist.

      Tja, liebes Tagebuch, dann mal los. Das hier ist mein Leben, und ich muss dich warnen – manches davon ist nicht sehr schön.

      Wie gesagt, ich wurde am 4. November im Jahre 1937, in Odessa, Texas, geboren. Meine Eltern tauften mich auf den Namen Judith May Cooper. Mein Vater, George Cooper, war ein Oilman, ein Ölbohrarbeiter, was während der Depression der einzige Job war, den er kriegen konnte. Er arbeitete auf den Ölförderanlagen. Ich kann nicht sagen, wie gut er darin war. Er zog nach West-Texas, als man dort 1926 Öl fand. Meine Mutter, Betty, ging Putzen. Da erging es ihr nicht besser als den farbigen Frauen, die dasselbe taten. Ich denke sogar, dass sie mehr Geld nach Hause brachte als mein Dad. Es war eine harte Zeit. Wir lebten am unteren Ende der Mittelklasse, oder vielleicht auch am oberen Ende der Unterschicht. Ich weiß nur noch, dass wir in einer Hütte am Stadtrand lebten. Und dort gab es eine Menge Menschen, die gar keinen Job hatten.

      Ich hatte zwei Brüder – John war fünf Jahre und Frank drei Jahre älter als ich. Mit zwei Brüdern aufzuwachsen machte mich von Anfang an zu einem rechten Wildfang. Ich wollte die ganze Zeit über nur mit ihnen zusammen sein und Jungssachen machen – Ball spielen, Sport, Cowboy und Indianer spielen – na, du weißt schon, echte Jungssachen eben. Eines unserer Lieblingsspiele war »Amerikaner vs. Japaner«, in denen wir abwechselnd Army, Navy oder die Marines waren, und das andere Team die Japsen übernahm. Ich war besonders gut darin, mich an die japanischen »Bunker« heranzuschleichen und sie zu überrumpeln. Ich denke, in dem Spiel habe ich immer gewonnen. Von daher, ja, mit den Jungs zusammen zu sein war genau mein Ding. Wann immer ich mit Mädchen spielte, langweilte ich mich zu Tode. Wenn ich Puppen besaß, machte ich sie entweder kaputt oder überließ sie meinen Brüdern als Ziele, wenn sie mit ihren Luftgewehren trainierten. Manchmal schoss ich auch auf sie, haha. Wir hatten keine Haustiere, aber es gab eine streunende Katze, die hin und wieder vorbeikam und die ich fütterte. Aber sie mochte mich nicht wirklich. Einmal wollte ich sie streicheln, da fauchte sie mich an und rannte davon. Ich hörte auf, sie zu füttern, und sie kam nicht wieder.

      Meinen Dad habe ich kaum gekannt. Als der Krieg begann, meldete er sich freiwillig. Das war 1942, kurz nach Pearl Harbor. Er trat der Navy bei. Ich war damals noch ziemlich jung – gerade mal vier – und das letzte Bild, dass ich von ihm im Kopf habe, ist, wie er uns zuwinkte, bevor er in den Bus stieg, der ihn in die Stadt brachte. Von da kam er in ein Ausbildungslager und wurde dann irgendwo in den Pazifik verschifft. Nur ein paar Monate später war er tot. Einer von dreihundert oder mehr Amerikanern, die in der Schlacht um Midway umkamen. Und so sah ich ihn nie wieder.

      Von da an gingen die Dinge für uns bergab. Mom versuchte ihr Bestes, uns über die Runden zu bringen, aber wir versanken immer mehr in Armut. Rückblickend verstehe ich, wie schlimm es war, aber zu der Zeit war ich nur ein altkluges kleines Mädchen, das immer in Schwierigkeiten steckte, sich mit ihren Brüdern und deren Freunden prügelte und so ziemlich jeden in den Wahnsinn trieb. Als ich in die erste Klasse der South Side Elementary ging, hätte ich es mit so gut wie jedem Jungen der Nachbarschaft aufnehmen können, wenn ich das gewollt hätte. Ich war ein zäher kleiner Teufelsbraten.

      Zu der Zeit, als ich mit der Schule anfing, wohnten wir nahe der Ecke Whitaker und 5th Street. Die Schwarzen lebten nur ein paar Querstraßen weiter südlich von uns, hinter den Gleisen. Ich war zu jung, als dass mich das stören würde. Ich lief mit meinen Brüdern zur Schule. John war in der sechsten Klasse, als ich eingeschult wurde, und Frank in der vierten. Es war eine miese Schule, so viel steht mal fest. Alle, die dort hingingen, waren Kinder von Ölfeld-Arbeitern. Niemand von besonderer Klasse, wenn du verstehst. Ich hatte nicht viele Freunde in der Schule. Ich war ein Außenseiter. Den Mädchen war ich zu jungenhaft, und den Jungen zu wild, haha.

      Meine besten Freunde waren meine Brüder, obwohl sie mich irgendwann auch komisch fanden. Schon lustig, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, aber ich liebte meine Brüder. Für gewöhnlich traten sie für mich ein, wenn ich in Schwierigkeiten steckte, und das passierte ziemlich oft. Unglücklicherweise waren sie nicht für mich da, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte, und ich weiß nicht, ob ich ihnen das je vergeben kann.

      Ich denke, man könnte sagen, dass ich ein zorniges Kind war. Ich weiß gar nicht, worauf ich so zornig war. Ich zettelte einfach gern Schlägereien an. Da waren eine ganze Menge Aggressionen in mir, eine Wut, die von einem Moment auf den nächsten ausbrechen konnte. Das habe ich immer noch. Ich bin damit auf die Welt gekommen und brauchte eine Art Ventil dafür. Meine Mom machte das wahnsinnig, oder zumindest trieb sie das zum Alkohol. Nun, vielleicht war es nicht komplett meine Schuld, aber ich hatte sicher meinen Anteil daran, obwohl sie mit dem Trinken bereits anfing, als Dad starb. Es machte nicht viel Spaß, mit ihr zusammen zu sein.

      Trotz allem war ich eine gute Schülerin. Das Lernen fiel mir leicht. Ich war nicht allzu gut in Mathe, aber ich mochte die Naturwissenschaften und Geschichte. In Lesen und Schreiben war ich besonders gut, weshalb ich wohl auch eine Weile ein Tagebuch führte. Ich merkte, dass ich gern Bücher las, und wenn ich nicht draußen mit den Jungs Fußball spielte, verzog ich mich nach drinnen mit den neuesten Abenteuern der Hardy Boys oder Nancy Drew. Aus Comics machte ich mir nicht viel, meine Brüder hingegen schon. Hin und wieder sah ich mir ihre Superman-Comics an, aber irgendwie waren die nichts für mich. Ich fand sie blöd. Ich mag es, wenn meine Abenteuergeschichten in der wirklichen Welt spielen und etwas


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