BLACK STILETTO. Raymond Benson

BLACK STILETTO - Raymond  Benson


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sie. Für mich sah sie wie eine ganz normale Wand aus. Sie war Teil des Fundaments, direkt unter der Treppe. Da gab es keine Tür. Nur zwei Flecken aus Dichtungsmasse. Einer auf Augenhöhe, der andere ein paar Zentimeter darunter. Sie schienen alt und trocken und bündig mit dem Beton. Ich berührte einen davon und spürte, wie die Masse etwas nachgab. Mit den Fingerspitzen kratzte ich sie von der Wand – tatsächlich war es ein Stück Putz! Diese verspachtelten Flecken verdeckten etwas, denn darunter befanden sich Schlüssellöcher. Schnell holte ich die Schlüssel aus der Schatulle und steckte einen davon in das obere Schloss. Er ließ sich leicht herumdrehen. Auch der zweite graue Schlüssel funktionierte, und sobald die Tür unverschlossen war, sprang der Rahmen um einen halben Zentimeter auf, und ich konnte ihn mit den Fingerspitzen öffnen.

      Ich glaube, ich habe aufgehört zu atmen, als ich mit der Taschenlampe in die kleine, schrankartige Öffnung leuchtete.

      An der hinteren Wand hingen zwei Kostüme. Zwei Ausführungen des berühmtesten Kostüms der Welt, würde ich mal sagen.

      Black Stiletto.

      Ich trat hinein und berührte sie.

      Beide Teile, sowohl die Hosen als auch die Oberteile, waren aus dünnem schwarzen Leder gefertigt. Eines der Kostüme bestand aus einem etwas dickeren Material als das andere, aber ansonsten waren sie identisch. Darunter standen kniehohe schwarze Stiefel. Ein Rucksack lag daneben. Die einzelne Maske war dafür gemacht, nur den oberen Teil des Kopfes zu verdecken, mit Öffnungen für die Augen, aber mich erinnerte sie schon immer an diese Sado-Maso-Geschichten, die man in Sex-Shops sah. Der Black Stiletto haftete schon immer etwas Domina-artiges an, und das lange, bevor dieser Look in den Medien populär wurde.

      Das legendäre Messer – das Stiletto – steckte in seiner Scheide und hing direkt neben den Kostümen an der Wand.

      Verrückt. Einfach unglaublich.

      Auf Regalbrettern, die an der Seite des Wandschranks angebracht waren, stapelten sich Zeitungen, Fotografien und Comic-Hefte in Schutzfolien. Black-Stiletto-Comics – nicht viele, aber ein paar der ersten Ausgaben. Ich schätzte, dass die mittlerweile einiges an Wert haben mussten. Offenbar hatte sie diese gekauft, als sie das erste Mal erschienen waren.

      In einem anderen Fach lag ein Holster mit einer Pistole darin. Ich nahm sie heraus und schaute sie mir genauer an. Ich hatte nicht viel Ahnung von Waffen, aber ich wusste, dass das so eine Art halbautomatischer Waffe sein musste. Eine Smith & Wesson, wie man der seitlichen Gravur entnehmen konnte. Neben dem Holster standen Schachteln mit Munition in dem Regal.

      Und dann waren da noch die kleinen Bücher. Tagebücher. Eine ganze Reihe davon. Jedes von ihnen war mit einer Jahreszahl versehen, beginnend mit 1958.

      Heilige Scheiße!

      Was hatte ich da entdeckt? Was hatte meine liebe Mutter mir hier vermacht?

      Wer zum Teufel war meine Mutter überhaupt?

      Ich nahm das erste Tagebuch an mich und ging nach oben. Ich brauchte frische Luft. Das war alles ein bisschen viel auf einmal.

      Draußen setzte ich mich auf die hölzerne Veranda und hielt das Buch in der Hand. Was würde ich erfahren, wenn ich es las? Vielleicht die Wahrheit über meinen Vater? Mom hatte mir immer erzählt, dass seine Name Richard Talbot und er zu Beginn des Vietnamkrieges gestorben war. Ich hab ihn nie kennengelernt. Das Seltsame an der Sache war, dass es nirgendwo im Haus Bilder von ihm gab. Überhaupt keine. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah. Als ich als Teenager meine Mutter danach fragte, meine sie nur, dass sie es nicht mehr ertragen hatte, sein Gesicht zu sehen, nachdem er gestorben war. Sie hatte alle Fotografien vernichtet. Ich fragte sie über seine Familie – meine Großeltern oder irgendwelche Onkel, Tanten oder Cousins väterlicherseits – und sie antwortete, dass es keine gab. Das Gleiche bei ihrer Familie. Wir waren ganz allein.

      Ich nahm das alles für bare Münze.

      Ich blätterte durch das Tagebuch und hatte Angst, es zu lesen.

      Meine Mutter war die Black Stiletto.

      Ich war immer noch nicht darüber hinweg. Das war groß. Größer als alles, was ich mir vorstellen konnte. In etwa damit vergleichbar, die Wahrheit über das Attentat auf JFK herauszufinden oder die Identität des Green River Killers zu lüften. Black Stiletto war eine weltberühmte Legende, eine internationale Ikone für die Macht der Frau. Und niemand wusste, wer sie war, außer sie selbst. Und nun ich.

      Ihre Existenz war der Ursprung für Mythen gewesen, so wie bei dem Pin-up-Model Betty Page, die in den Fünfzigern für Nacktfotografien und -filme posierte und dann plötzlich verschwand. In den Achtzigern und Neunzigern wurde Page von der Popkultur »wiederentdeckt«, und ihre Bilder tauchten überall auf – doch die Frau selbst war nicht ausfindig zu machen. Die Medien schlachteten ohne ihre Erlaubnis ihre Aufnahmen in Filmen, Comics und Magazinen aus, und dann gab sie sich schließlich zu erkennen. Das gealterte ehemalige Model lebte ruhig und zurückgezogen, ohne etwas von der medialen Aufmerksamkeit rund um ihre Person mitzubekommen, bis sie ein Freund darauf hinwies. Erst in den letzten Jahren ihres Lebens sah Page etwas von dem Geld, dass mit ihrem jugendlichen Bild verdient wurde.

      Das Gleiche war mit Black Stiletto passiert.

      Sie war in den letzten Jahren der Eisenhower-Ära und Anfang der Sechziger aktiv gewesen, eine Untergrund-Heldin, die sich als Kämpferin für Recht und Gesetz einen Namen gemacht hatte. Sie war eine fähige und erfolgreiche Verbrechensbekämpferin gewesen, auch wenn die Polizei ihr auf den Fersen war und man sie eingesperrt hätte, wenn man ihrer habhaft geworden wäre oder ihre geheime Identität aufgedeckt hätte. Sie kämpfte gegen gewöhnliche Gauner, kommunistische Eindringlinge, die Mafia, und war für ihre Gefangennahme oder in manchen Fällen auch deren Tod verantwortlich. Die Stiletto operierte anfänglich in New York City, doch als die Polizei ihr zu nahe kam, zog sie nach Los Angeles.

      Wo ich geboren wurde.

      Und dann verschwand sie auf unerklärliche Weise. Niemand hörte je wieder etwas von ihr. Niemand schien zu wissen, wer sie in Wirklichkeit war, und die meisten Leute gingen davon aus, dass sie wohl gestorben war. Warum auch nicht? Sie war in gefährliche, höchst riskante Situationen verstrickt gewesen. Es machte durchaus Sinn, dass sie tödlich verunglückte oder man sie verhaftet und ins Gefängnis gesteckt hatte, ohne dass die Behörden wussten, wen sie da wirklich eingebuchtet hatten. Eine Zeit lang war das eines der großen Rätsel wie »Wer erschoss JFK?« Was wurde aus der Black Stiletto? Wo ist sie jetzt? Lebt sie noch? Wer war sie wirklich?

      Es verging ein Jahrzehnt und so langsam vergaßen die Menschen sie, bis Mitte der Achtziger ein findiger unabhängiger Comicbuch-Verleger damit begann, eine frei erfundene Serie über die kostümierte Rächerin zu publizieren. Die Comics erwiesen sich als überaus populär und wurden in die ganze Welt verkauft. Der History Channel brachte Anfang der Neunzigerjahre eine halbbiografische Dokumentation über sie heraus, die, wie ich mich erinnere, aber zum größten Teil nur Spekulationen enthielt. Es gab zumindest eine Biografie über sie, aber natürlich wusste auch diese nichts über das persönliche Leben der Stiletto zu berichten. Es war eher eine simple Aufzählung aller Begebenheiten, die über sie in den Zeitungen standen. Dann kamen das Spielzeug und das Merchandise – Actionfiguren, Videospiele, Brettspiele, Halloweenkostüme und so weiter. Eine ganze Reihe von Herstellern verdiente Millionen mit Black Stiletto, aber niemand vertrat ihre Interessen.

      Ende der Neunziger erschien ein Spielfilm mit Angelina Jolie in der Hauptrolle, bevor die Schauspielerin ein großer Star wurde. Der Film war ein Erfolg, hatte aber nur wenig mit der echten Black Stiletto zu tun. Alles frei erfunden, mit jeder Menge Schießereien, Explosionen und unglaublichen Stunts. Die echte Black Stiletto bediente sich einfacherer Techniken, als man es in den Filmen zeigte. Trotzdem regte es die Fantasie der Zuschauer an. Es gab Pläne für eine Fernsehserie, aber daraus wurde nie etwas.

      Wie die meisten Menschen war auch ich von der Black Stiletto begeistert. Wäre ich jünger gewesen, als die Comics erschienen, hätte ich sie sicher gekauft und gelesen.

      Wenn man die kleine Sammlung von Andenken in dem Schrank bedachte, war sich meine Mutter allem Anschein nach sehr wohl bewusst über den Rummel um ihre Person. Aber sie sagte nie ein


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