Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
Tarvin starrte lange durch den blendenden Dunst der sengend heißen Luft, aber er konnte nicht das geringste Anzeichen von Leben und Bewegung in dieser Stadt wahrnehmen. Es war jetzt kurz nach Mittag und die Unterthanen Seiner Majestät schliefen. Dieser ungeschlachte finstere Brocken Einsamkeit war also Rhatore, das Ziel seiner Reise, das Jericho, das zu erobern er von Topaz ausgezogen war! »Wenn einer in einem Büffelkarren von New York herkommen wollte, um vor einer unsrer Ranchen sein Liedchen zu pfeifen, was für einen Narren ich den nennen würde!« überlegte Tarvin bei sich.
Er stand auf und reckte die staubbelasteten Gliedmaßen.
»Um welche Zeit wird’s denn kühl genug, daß man sich die Stadt besehen kann?« fragte er.
»Was in aller Welt wollen Sie denn mit der Stadt thun – sie besehen? Da seien Sie nur ein wenig vorsichtig! Sie könnten leicht in Schwierigkeiten geraten mit dem Statthalter,« warnte sein gelbseidener Ratgeber freundschaftlich. Tarvin konnte nicht begreifen, inwiefern ein Spaziergang durch die lebloseste Stadt, die ihm je vorgekommen war, gefährlich oder gar verboten sein sollte, aber er äußerte sich nicht darüber, denn er merkte mehr und mehr, daß in diesem Land alles anders war als anderwärts – bis auf den Einfluß der Weiber! Er wollte diese Stadt aber gründlich vornehmen, und zwar ehe ihre monumentale Ruhe – es war immer noch kein’ Lebenszeichen wahrzunehmen – ihn anstecken und verschlingen oder ihn in einen faullenzenden Kalkutta-Geschäftsmann verwandeln würde!
Jawohl, er mußte handeln, ehe sein Geist benommen und eingeschläfert würde. Vorläufig erkundigte er sich nach dem Telegraphenamt, obwohl es ihm trotz der Drähte fast verwunderlich vorkam, daß Rhatore eine derartige Einrichtung besitzen sollte.
»Uebrigens muß ich Sie darauf aufmerksam machen,« rief ihm einer von den Herren nach, »daß jedes Telegramm, das Sie von hier abschicken, vorher am ganzen Hofe die Runde macht und dem Maharadscha gezeigt wird!«
Tarvin dankte für diesen Wink, der in seinem Fall besonders beachtenswert war, dann watete er durch den tiefen Sand auf eine entweihte Moschee an der Straße zur Stadt zu, die sich’s gefallen lassen mußte, das Telegraphenamt zu beherbergen.
Ein eingeborener Soldat lag in tiefem Schlaf quer über der Schwelle zum Eingang ausgestreckt, sein Pferd hatte er an den in den Boden gerammten langen Lanzenschaft von Bambus gebunden. Sonst kein Zeichen des Lebens; nur ein paar Tauben gurrten schläfrig unter dem dunkeln Thorbogen.
Tarvin sah sich fragend nach dem blauweißen Schild der Western Union um, oder nach etwas, was in diesem wunderlichen Land dessen Stelle vertreten mochte. Er bemerkte, daß die Telegraphendrähte in einem Loch der Kuppel verschwanden, und sah jetzt, daß sich unter dem spitzbogigen Portal zwei oder drei niedere Holzthüren befanden. Aufs Geratewohl eine davon aufstoßend, trat er auf etwas Warmes, Haariges, das brummend aufsprang, und Tarvin hatte gerade noch Zeit, beiseite zu treten, sonst würde ihn ein Büffelkalb überrannt haben. Gelassen versuchte er’s mit der zweiten Thüre und entdeckte nun eine Treppe mit ungeheuer breiten, niederen Stufen, die er sehr unbequem zu steigen fand. Er hoffte dabei immerzu, das Ticken der Apparate zu vernehmen, aber das Gebäude war still wie das Grab, das es ursprünglich gewesen war. Er öffnete wieder eine Thüre und stolperte in ein Zimmer, dessen gewölbte Decke im Schmuck von Tausenden kleiner Stückchen Spiegelglas und sehr bunter Bemalung prangte. Der Uebergang von dem pechfinstern Treppenhaus in diesen sonnendurchfluteten, von Farben und Glas funkelnden Raum mit seinem schneeweißen Fußboden, war so jäh, daß er die Augen zudrücken mußte. Ein Telegraphenamt aber mußte es sein, denn Tarvin hatte auf den ersten Blick einen altmodischen Apparat auf einem geringen tannenen Tischchen wahrgenommen. Das Sonnenlicht fiel grell herein durch das Loch, das man in die Kuppel geschlagen hatte, um die Drähte hereinzuführen, und das nie wieder geschlossen worden war.
Tarvin stand mitten in dem breiten Sonnenstreifen und sah sich um. Er nahm den weichen amerikanischen Filzhut vom Kopf, der für dieses Klima entschieden wenig geeignet war, und wischte sich die feuchte Stirne. Wie er so dastand, hoch aufgerichtet, geschmeidig, kraftvoll in jeder Bewegung, würde sich ein etwa im Hintergrund dieses geheimnisvollen Gebäudes lauernder Bösewicht wohl zweimal besonnen haben, mit diesem Mann anzubinden – ein bequemer Gegner war der sicher nicht! Er zerrte an dem langen blonden Schnurrbart, der von den Mundwinkeln herabfiel und von häufigem Fingerspiel eine bestimmte Kurve angenommen hatte, und brummte sehr anschauliche Bemerkungen in einer Sprache, die das Echo dieser Wände noch nie wiederholt hatte. Wie sollte er von diesem Abgrund der Vergessenheit aus je mit den Vereinigten Staaten von Amerika in Verbindung treten können? Selbst sein eigenes »Hol’s der Teufel!«, das ihm von der Wölbung der Kuppe zurückschallte, klang saft-und kraftlos, unheimatlich!
Eine in ein weißes Leintuch gehüllte Gestalt lag auf dem Fußboden.
»Das stimmt!« rief Tarvin, jetzt erst den weißen Fleck entdeckend. »Ein Toter eignet sich außerordentlich für diese Amtsstube! Heda, Mann – aufgestanden!«
Das Leintuch kam in Bewegung, ein Grunzen drang darunter hervor und dann enthüllte sich ein sehr verschlafener Eingeborener, der von Kopf bis zu Fuß in taubengraue Seide gekleidet war.
»Ho!« rief er betroffen.
»Jawohl,« versetzte Tarvin ungetrübten Sinns. »Sie wollen mich sprechen?«
»O nein, aber telegraphieren will ich, falls in dieser Gruft elektrischer Strom vorhanden ist.«
»Mein Herr,« versicherte der Eingeborene freundlich, »da haben Sie an die richtige Thüre geklopft. Ich bin Telegraphenbeamter und Generalpostmeister dieses Staats.«
Damit setzte er sich auf den wackeligen Stuhl, zog die Tischschublade auf und begann eifrig darin zu kramen.
»Was suchen Sie denn, mein Sohn?« fragte Tarvin. »Etwa den Anschluß an Kalkutta?«
»Meiste Herrn bringen Formulare mit,« versetzte der Taubengraue so vorwurfsvoll, als seine Höflichkeit gestattete, »doch hier ist Formular. Hab’ Sie Bleistift?«
»Ich will keine zu großen Anforderungen an die Behörde stellen – wollen Sie sich nicht wieder hinlegen und weiterschlafen? Ich kann meine Botschaft selbst tippen – was für ein Signal haben Sie mit Kalkutta?«
»O, mein Herr, Sie nicht verstehen diesen Apparat!«
»Nicht verstehen? Sie sollten mich die Drähte melken sehen an einem Wahltag!«
»Diesen Apparat bedarfen sehr sach-ver-ständige Behandlung. Sie schreib’, ich telegraphiere, so gehört sich’s – ist Arbeitsteilung, ha ha!«
Tarvin that, wie ihm geheißen wurde, und schrieb die Worte: »Bin am Werk, hoffe Gleiches von C. C. C. Tarvin.«
Die Adresse lautete an die Präsidentin Mutrie in Denver.
»Nun legen Sie los, Mann!« gebot Tarvin, indem er dem mild lächelnden Jüngling das Blatt reichte.
»Ganz gut, ohne Sorge, bin hier dafür,« versetzte der Eingeborene, der zu begreifen schien, daß dieser seltsame Kunde Eile hatte.
»Wird das je an seinen Bestimmungsort kommen?« sagte Tarvin, dem Taubengrauen kameradschaftlich zunickend, als ob er ihn aufmuntern wollte, ihn doch einzuweihen, falls die ganze Geschichte ein Mumpiz oder ein Betrug sei.
»O ja, morgen. Denver ist in Vereinigte Staaten Nordamerika,« versetzte der Beamte, mit kindlichem Stolz auf seine Weisheit zu Tarvin aufblickend.
»Eure Hand, Bruderherz!« rief Tarvin, ihm eine behaarte Faust hinstreckend. »Seid Ihr ein gelehrtes Haus!«
Er blieb wohl eine halbe Stunde, freundete sich auf Grund der gemeinsamen Wissenschaft mit dem Taubengrauen an, sah ihm zu, wie er seinen Apparat bearbeitete, und hatte ein seltsames Gefühl, als dieser wirklich spielte und er sich nun plötzlich mit der fernen Heimat verbunden fühlte. Mitten in ihrer lebhaften Unterhaltung tauchte die Hand des Taubengrauen wieder in die Schublade, um alsbald ein mit Staub überzogenes Telegramm hervorzuziehen, das er Tarvin hinstreckte.
»Sie kenn’ einen Engländer in Rhatore, heißt Turgiv?« fragte er.
Tarvin starrte