Der Grüne Planet. Erik Simon

Der Grüne Planet - Erik Simon


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rutschend, kletternd und an einer Stelle sogar von Vorsprung zu Vorsprung hüpfend zu meistern. Wenn er gelegentlich in die Tiefe späht, um den nächsten Halt auszumachen oder aus Gewohnheit jede Richtung abzusichern, sieht er lediglich den Nebel, der immer dichter wird, je tiefer er kommt, und der den Grund der Schlucht wie ein Schleier verbirgt.

      Endlich spürt er unebene Erde, Kies und Unkraut unter seinen Stiefelsohlen. Unten angekommen, ist das Gefühl, eine Anderswelt betreten zu haben, noch stärker als im Wald. Der Nebel ist so dicht und zäh, dass er wie eine einzige Masse und wie etwas Lebendiges wirkt, das einem Plan folgt. Nur gelegentlich verschieben sich einige Schwaden in der Art träger Gliedmaßen, sodass er einen Blick auf die riesigen Steinbrocken erhaschen kann.

      Sobald er festen Boden unter beiden Füßen hat, zerrt er die Axt aus dem Futteral. Der Schweiß und der Nebel vermischen sich kühl auf seiner heißen Stirn, als er den Griff der Waffe mit beiden Händen fest umklammert und mit leicht schief gelegtem Kopf in die milchigen Schwaden lauscht.

      Er hört sie schon von Weitem – ihr Heulen, das durch den Nebel brandet, und kurz darauf ihr Hecheln und das Klacken ihrer Krallen auf dem Boden.

      Wegen des ewigen Nebels hier unten hat er sie nie deutlich gesehen. Immer nur Büschel zotteligen, graubraunen Fells und Umrisse, die größer und prähistorischer wirken, als sie sollten. In seiner Fantasie verwandelten sich Wölfe und genetisch modifizierte Hunde aus den verhängnisvollen Bio-Labors der alten Zeit in einer Art Devolution zu etwas, das sich irgendwann nach dem Ende entwickelt hat und die Schlucht heute als Jagdrevier ansieht. Woanders ist er ihnen noch nie begegnet. Er hat den Bestien, die sofort bemerken, wenn jemand einen Fuß auf den Grund ihrer Schlucht setzt, absichtlich keinen Namen gegeben, denn das würde die Furcht, die er bei ihrem Anrennen jedes Mal verspürt, nur noch verstärken.

      Das Hecheln und Klacken wird immer lauter, kommt immer näher. Er bezieht vor einem klotzigen Felsbrocken Position, damit ihn keines der Tiere von hinten anfallen kann, und stellt sich breitbeinig hin.

      Da sind sie. Schaukelnde, massige Schatten schießen schnappend und knurrend auf ihn zu, und er schwingt die Axt wie eine Sense. Er kennt diesen Tanz aus Umkreisen, Finten und simultanen Angriffen, und nichtsdestotrotz muss er gegen seine Angst und seinen Fluchtinstinkt mindestens so unnachgiebig ankämpfen wie gegen die Attacken der wölfischen Schimären, die auf eine Unaufmerksamkeit und eine Lücke in seiner Deckung lauern.

      Immerhin folgt das Ganze einem bestimmten Muster. Dringt die Axtklinge oft genug durch stinkendes Fell und provoziert genug Blut und Gejaule, verlieren sie den Mut und ziehen sich zurück. Er wartet dann stets eine Weile, um sicherzustellen, dass es kein besonders ausgeklügelter Trick ist, ihn in Sicherheit zu wiegen, ehe er achtsam seitwärts zur anderen Felswand geht, wo er in einem besonders kritischen Moment unbewaffnet und mit dem Rücken zur Schlucht den Aufstieg beginnen kann.

      Auf dieser Seite ist es leichter, doch gleichzeitig bieten die besser verteilten Felsvorsprünge den Jägern eine theoretische Möglichkeit, ihm über die natürliche Treppe zu folgen. Doch sie tun es nie, und vielleicht liegt das daran, dass etwas in diesem unnatürlichen Nebel ist, das ihn nicht tangiert, sie aber seit ihrer Anpassung an diese Ära zum Überleben brauchen.

      Im Augenblick denkt er nicht darüber nach, sondern konzentriert sich ganz aufs Klettern. Das letzte Stück, der Schwung über die überstehende Kante, gehört zu den schwierigsten, den größten Anstrengungen. Ächzend zieht er sich und sein Gepäck auf dem Rücken in einer ungelenken Bewegung nach oben, wo er mehrere hässliche Sekunden vollkommen schutzlos ist.

      Seine Beine zittern beim Aufstehen, doch er erhebt sich umgehend.

      Er ist müde und erschöpft. Den restlichen Weg von der Schlucht zu seinem Ziel könnte er zum Glück blind und im Schlaf finden.

      Anderthalb Stunden später erreicht er das Haus. Der verwunschene Garten, der es umgibt, ist völlig verwildert und erweckt einen eigenartig friedlichen, märchenhaften Eindruck. Überall Bienen und Hummeln und Schmetterlinge und Käfer und Sperlinge und Drosseln und Finken und Kleiber, die sich überraschend schnell erholt haben, sobald die Hauptursachen ihrer Probleme vom Antlitz der Erde getilgt waren.

      Er könnte seine Axt nutzen und einen dauerhaften Pfad zur Haustür schaffen, allerdings ist es ihm lieber, wenn die verfilzten Sträucher und wuchernden Ranken das Haus vor Blicken verbergen, obwohl er noch nie ein Anzeichen einer fremden Anwesenheit wahrgenommen hat.

      Das Haus inmitten des ungezähmten Gartens ist relativ gut in Schuss dafür, dass niemand sich darum kümmert und viele Tiere darin wohnen – Eulen im Gebälk, Waschbären auf dem Dachboden, Mäuse in den Wänden, Füchse im Keller. Er bedauert stets, das Häuschen nicht ordentlich instand setzen und hier hinter der Wand aus Dornen, Ranken, Blättern und Ästen leben zu können. Zweifellos würde es vieles einfacher machen, müsste er sich nicht jedes Mal von Neuem den Gefahren der Wanderung aussetzen. Aber die Distanz zur Quelle und zum Grab seiner Frau sind triftige Gründe, nicht zu ernsthaft mit diesen immer wiederkehrenden Überlegungen und Sehnsüchten zu kokettieren.

      Gemäßigten Schrittes geht er durch einen holzvertäfelten Flur. Der Gang mündet in einen großen Raum, dessen riesige Fensterfront wie durch ein Wunder unberührt geblieben ist und auf eine kleine Lichtung im Märchengarten hinausblickt. Bis auf ein großes Objekt, das sich unter einer staubigen Plane aus Öltuch verbirgt, die er vor langer Zeit im Garten gefunden hat, ist das Zimmer leer.

      Geradezu andächtig bewegt er sich über das alte Parkett und bleibt vor dem verhüllten Etwas stehen, das so groß ist wie der Esstisch in einem weit zurückliegenden, an den meisten Tagen fast vergessenen Leben in einer vergangenen Welt, die nur noch in seiner Erinnerung existiert. Er legt die Axt nicht zu weit weg auf den Boden, lässt den Rucksack mit einem ermatteten Seufzer von den Schultern gleiten und streift seine Jacke ab. Das langsame Trinken aus der Thermosflasche ist wie ein Ritual, das zwei Abschnitte seines jetzigen Daseins miteinander verbindet. Er stellt die Flasche neben Axt und Rucksack und schlägt danach die wasserfeste Abdeckplane wie eine Bettdecke nach hinten.

      Zum Vorschein kommt ein schwarz glänzender, wunderschön geschwungener Flügel mit einem kleinen Hocker davor. Der Kratzer, der wie ein Blitz quer darüber verläuft, macht ihn nur noch schöner und einzigartiger.

      Er nimmt sich Zeit und steht eine Weile unbewegt da, betrachtet und bewundert einfach nur.

      Irgendwann streicht er mit seinen Fingern zärtlich über die glatte Oberfläche des Instruments und über den markanten Kratzer, der die Schlucht und sein Leben so verblüffend simpel und treffend symbolisiert. Schließlich setzt er sich auf den Hocker und legt die Finger sacht auf die breiten weißen und die schmalen schwarzen Tasten, ohne ihnen einen Ton zu entlocken.

      Über den Flügel hinweg sieht er in den Garten. Er hat den Eindruck, als wäre ihm ein einzelner weißer Nebel-Tentakel aus der Schlucht gefolgt, der nun nach dem Garten und dem Haus tastet. Vielleicht sind es die verschmierten Scheiben, vielleicht sind es seine alten Augen – womöglich ist diese Art von Nebel heutzutage aber auch überall, besonders in ihm selbst, und er nimmt ihn sonst nicht wahr. Was der Grund dafür ist, wieso er immer wieder hierherkommt, wo ihm die Mittel zur Verfügung stehen, den allesumfassenden Nebel zu durchdringen.

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      Er atmet tief durch und entlockt dem Flügel mit sanftem Druck endlich ein paar zögerliche Töne, die zum Beginn einer einfachen Melodie werden, bevor diese liebliche, tänzelnde Tonfolge in das erste Lied übergeht, das er aus dem Gedächtnis heraus improvisiert.

      Mit jeder weiteren Note kann er förmlich spüren, wie sich der Nebelschleier lichtet, während er das Lieblingslied seiner Frau spielt – er spielt es mit einer Hingabe, einer Kraft und einer Leidenschaft, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.

      Und genau deshalb wird er an ihrer beider Hochzeitstag, ihrem Geburtstag und ihrem Sterbetag immer wieder hierherkommen, solange er kann oder bis er es einmal nicht mehr hin oder nicht mehr zurück schafft, und dieses Lied für seine tote Frau und ihr Leben in einer anderen Welt spielen.

      Damit der Nebel sich kurzzeitig lichtet.


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